Die Tanne, von Freiligrath

Auf des Berges höchster Spitze
Steht die Tanne, schlank und grün;
Durch der Felswand tiefste Ritze
Läßt sie ihre Wurzeln zieh'n.

Nach den höchsten Wolkenbällen
Lässt sie ihre Wipfel schweifen,
Als ob sie die vogelschnellen
Mit den Armen wollte greifen.


Ja, der Wolken vielgestalt'ge
Streifen, flatternd und zerrissen,
Sind der Edeltann' gewalt'ge,
Regenschwang're Nadelkissen.

Tief in ihren Wurzelknollen,
In den faserigen, braunen,
Winzig klein, und reich an tollen
Launen, wohnen die Alraunen,

Die des Berges Grund befahren
Ohne Eimer, ohne Leitern
Und in seinen wunderbaren
Schachten die Metalle läutern.

Wirr lässt sie herunter hangen
Ihre Wurzeln in's Gewölbe;
Diamanten sieht sie prangen
Und des Goldes Glut, die gelbe.

Aber oben mit den dunkeln
Besten sieht sie schönres Leben;
Sieht durch Laub die Sonne funkeln,
Und belauscht des Geistes Weben,

Der in diesen stillen Bergen
Regiment und Ordnung hält,
Und mit seinen klugen Zwergen
Alles leitet und bestellt;

Oft zur Zeit der Sonnenwende
Nächtlich ihr vorübersaus't,
Eine Wildschur um die Lenden,
Eine Kiefer in der Faust.

Sie vernimmt mit leisen Ohren,
Wie die Vögel sich besprechen;
Keine Silbe geht verloren
Des Gemurmels in den Bächen.

Offen liegt vor ihr der stille
Haushalt da der wilden Tiere.
Welcher Friede, welche Fülle
In dem schattigen Reviere!

Menschen fern; nur Rotwildstapfen,
Auf dem moosbewachs'nen Boden! —
O, wohl magst du deine Zapfen
Freudig schütteln in die Loden.

O, wohl magst du gelben Harzes
Duft'ge Tropfen niedersprengen,
Und dein straffes, grünlichschwarzes
Haar mit Morgentau behängen!

O, wohl magst du lieblich wehen!
O, wohl magst du trotzig rauschen!
Einsam auf des Berges Höhen
Stark und immer grün zu stehen —
Tanne, könnt' ich mit dir tauschen!

Freiligrath.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Lust, Lob und Trost der edlen Landwirtschaft. Teil 2
Ferdinand Freiligrath (1810-1876), deutscher Lyriker und Dichter

Ferdinand Freiligrath (1810-1876), deutscher Lyriker und Dichter

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