Der Kirschbaum 1., von Hebel

Zum Frühling sprach der liebe Gott:
„Geh', deck' dem Würmlein seinen Tisch!“
Darauf der Kirschbaum Blätter trug,
Viel tausend Blätter grün und frisch.

Und's Würmlein, aus dem Ei erwacht's
Nach langem Schlaf im Winterhaus.
Es streckt sich, sperrt sein Mäulchen auf,
Und reibt die blöden Augen aus.


Und d'rauf so nagt's mit stillem Zahn
Um's zarte Blättlein hier und dort,
Und spricht: „Wie ist's Gemüs so gut,
Man kommt schier nimmer wieder fort!“

Und aber sprach der liebe Gott:
„Deck' jetzt dem Bienlein seinen Tisch!“
Darauf der Kirschbaum Blüten trug,
Viel tausend Blüten weiß und frisch.

Und bei der Sonne Morgenlicht
Schaut's Bienlein, und es fliegt heran,
Und denkt: „Das wird mein Kaffee sein;
Sie haben kostbar Porzellan.

Wie sauber seh'n die Kelchlein aus!“
So streckt's sein Züngelchen hinein,
Und trinkt und sagt: „Wie schmeckt's so süß,
Der Zucker muss doch wohlfeil sein!“

Zum Sommer sprach der liebe Gott:
„Deck' auch dem Spätzlein seinen Tisch!“
Darauf der Kirschbaum Früchte trug,
Viel tausend Kirschen rot und frisch.

Und Spätzlein sagt: „Ist's so gemeint?
Da nimmt man Platz und fragt nicht lang!
Das gibt mir Kraft in Mark und Bein
Und stärkt die Kehle zum Gesang.“

Zum Herbste sprach der liebe Gott:
„Räum' ab, sie haben alle jetzt!“
D'rauf kam die kühle Bergesluft,
Und schon hat's kleinen Reif gesetzt.

Die Blätter werden gelb und rot,
Und fallen bei des Windes Weh'n,
Und was vom Boden aufwärts kommt,
Muss auch zum Boden abwärts geh'n.

Zum Winter sprach der liebe Gott:
„Jetzt deck', was übrig ist, mir zu.“
Da streut der Winter Flocken d'rauf.
Nun danket Gott und geht zur Ruh'.

Hebel.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Lust, Lob und Trost der edlen Landwirtschaft. Teil 2