Vorwort

Stellen wir uns einmal vor, man hätte Schulkinder irgendeines Landes vor die Aufgabe gestellt, ein Bild der Schweiz zu zeichnen; was wäre wohl immer wieder anzutreffen? Ein See, Tannenwälder, eine Sennhütte inmitten saftiger Matten, weidende Kühe und, über dem Ganzen, eine von ewigem Schnee bedeckte Bergkette. So naiv dieses Buch auch anmuten mag, so sehr entspricht dennoch sein tieferer Gehalt der Wahrheit. Die Schweiz besticht den Fremden vor allem durch die Vielfalt ihrer landschaftlichen Schönheiten; ihr Name ruft Vorstellungen von verschneiten Berggipfeln, Abgründen und tosenden Wildbächen, von Matten, Wäldern und klaren Seen wach und lässt nicht zuerst an Kathedralen, Paläste und Museen denken, wie dies etwa auf Frankreich oder Italien zutrifft. Die Natur hat dieses kleine Land nicht nur vielfältig und reizvoll gestaltet, sondern auch seine natürlichen Grenzen festgesetzt und dadurch in hohem Maße seine Geschichte bestimmt. Im Zuge der großen Revolution, die in Westeuropa Renaissance und Klassizismus ablöste, begann die Sehnsucht nach der Natur zu erwachen, und es kam daher nicht von ungefähr, daß man gerade auf die Schweiz blickte, dieses in bunter Vielfalt schillernde Kleinod im Herzen Europas. Es gibt wohl kaum ein Land, das sich rühmen kann, auf so begeisterte Art von Dichtern besungen worden zu sein. Rousseau, Goethe, Schiller, Albrecht von Haller, Lord Byron, Victor Hugo — um nur einige zu nennen — drückten in ihren Werken eine so starke Bewunderung für das kleine Land aus, daß bald ein immer wachsender Strom von Reisenden aus allen Teilen der Welt ihren Spuren zu folgen begann. So wurde die Schweiz zum klassischen Reise- und Ferienland, zum „Tummelplatz Europas“ und wird es auch so lange bleiben, als Menschen inmitten herrlicher Landschaften Ruhe, Erholung und neue Lebensfreude suchen.

Die Schweiz ist ein kleines Land; in wenigen Bahn- oder Autostunden kann sie in ihrer größten Breite durchfahren werden. Trotzdem erscheint sie dem Reisenden groß, einmal, weil die Fülle verschiedenartigster Eindrücke ihren wirklichen Rahmen sprengen, dann auch, weil es in diesem Land keine geraden Strecken gibt, nur auf Umwegen kann man sein Ziel erreichen, die in buntem Hin und Her und — vor allem — Auf und Ab die Strecke auf nicht unangenehme Art verlängern; überraschend ändert sich das Landschaftsbild, der Reisende sieht sich in schnellem Wechsel sozusagen vom Nordkap ans Mittelmeer versetzt, von der Gletscherwelt der Alpen an die lieblichen Gestade der Tessiner Seen, wo unter südlichem Himmel freiwachsende Palmen gedeihen. Nicht zu Unrecht schrieb Gonzague de Reynold: „Die Schweiz ist nicht ein kleines Land, sondern eine kleine Welt.“


Aus der Vogelschau erscheint die geographische Gliederung einfach: eine weite Ebene erstreckt sich vom Genfer See im Südwesten bis zum Rhein und Bodensee im Nordosten, eingebettet zwischen dem Jura im Westen und dem mächtigen Bollwerk der Alpen im Süden und Osten. Die natürlichen Grenzen des Landes lassen nur einige wenige Tore gegen die Nachbarländer hin offen. So öffnet Basel ein Tor gegen Frankreich und Deutschland, weiter gegen Belgien, Holland und sogar England; Genf weist den Weg nach Frankreich und, der Rhone entlang, bis ans Mittelmeer, während sich südlich der Alpen die sonnige Ebene des Tessins bis weit nach Italien erstreckt. Beim Näherkommen verwischen sich jedoch die Umrisse, die so scharf gezeichnet schienen, und lösen sich in Bilder von ungeahnter Vielgestalt auf. Die Ebene des Mittellandes verdient ihren Namen nur im Gegensatz zu den Gebirgen, die sie umgeben. Es hält schwer, all die landschaftlichen Verschiedenheiten in Worte zu drängen; denn da gibt es Wälder, Seen und Flüsse, Hügel und Täler. Es genügt, das Mittelland zu durchstreifen, um erstaunt festzustellen, daß sich im Thurgau das Licht wesentlich von dem etwa an den Ufern des Vierwaldstätter Sees unterscheidet, daß in Zürich die Farben von anderer Wirkung sind als etwa in Genf, und daß zum Beispiel das Gesicht des bernischen Mittellandes überhaupt nicht mit dem der Gegend von Lavaux verglichen werden kann, wo weite Rebgelände steil in den Genfer See abfallen. Der Jura ist einheitlicher in seiner Art. Seine parallelen Gebirgszüge, die untereinander durch enge Schluchten verbunden sind, erstrecken sich von Basel bis hinunter nach Genf. Überall finden wir ausgedehnte Weiden und Tannenwälder, die dem Jura das Gepräge geben und ihn als ein Gebiet von strenger Schönheit und eigenartigem Reiz erscheinen lassen.

Wir haben von den unendlich verschiedenartigen Gesichtern des Mittellandes gesprochen. Was könnte da erst von den Alpen gesagt werden, deren majestätische Masse die Ebene von der andern Seite her beherrscht ? In diesem unermesslichen Steinmeer offenbart sich die Natur in ihren kühnsten Schöpfungen. Mächtige Felsmassen von oft bizarren Formen wechseln ab mit tiefeingeschnittenen Tälern, die das ganze Alpengebiet deutlich in sich aufteilen, so hat denn auch jedes Tal sein ganz bestimmtes Gepräge. Wie ganz anders ist doch das lichtgebadete Engadin mit seinen kristallklaren Seen als das Glarnerland, das tief im engen Tal der Linth eingeschlossen liegt; ebenso verschieden ist das ländlich heitere Saanenland von der Leventina mit den kastanienbepflanzten Hängen; oder gibt es etwas Ungleicheres als das Goms, wo die junge Rhone noch ein Bergbach ist, und das Lauterbrunnental, das tief unten zwischen fast senkrecht abfallenden Felswänden eingebettet liegt? Diese ausgeprägten landschaftlichen Verschiedenheiten haben denn auch in großem Maße die Eigenart der Schweiz und ihrer Bewohner bedingt, wovon später noch die Rede sein wird.

Es wäre nicht erstaunlich, wenn dieses Land, das durch seine landschaftlichen Gegebenheiten auf natürliche Art in sich abgeschlossen erscheint, auf sich selbst zurückgezogen und jedem fremden Einfluss unzugänglich wäre. Dem ist nun aber nicht so; denn die Alpen sind nicht nur ein mächtiges Bollwerk, sondern ebensosehr ein seit frühester Zeit bekannter und benutzter Verbindungsweg zwischen Nord und Süd. So zogen die Römer, die im Lande unauslöschliche Spuren hinterlassen haben, über die Pässe des Septimer, Julier oder des Großen St. Bernhard in ihre blühenden helvetischen Niederlassungen. Püger, Kaufleute, ganze Armeen folgten. Vergessen wir die Flüsse nicht, von denen so viele ihren Ursprung im Kern der Alpen haben, und die ein wichtiges Verbindungsglied zur übrigen Welt darstellen. So öffnen der Rhein, die Rhone, der Inn, der Tessin, den Weg nach der Nordsee, dem Mittelmeer, dem Schwarzen Meer und der Adria; durch ihre weiten Täler fanden Menschen, Ideen, Sitten und Gebräuche leichten Zugang. Die Schweiz scheint dazu geschaffen zu sein, auf ihrem Gebiete die verschiedensten Kulturen zu vereinigen. Der Reiz einer Schweizer Reise besteht denn auch nicht allein im Erlebnis einer einzigartigen Landschaft in ihrer ganzen farbigen Vielfalt, sondern gleichermaßen in der Offenbarung der ausgeprägten Eigenart der verschiedenen Bewohner des Landes und seiner Einrichtungen. Fragt man einen Schweizer nach seiner Staatsangehörigkeit, wird er kaum zur Antwort geben, er sei Schweizer, sondern Waadtländer, Züricher oder Tessiner. Dieser Hinweis auf seine engere Heimat entspricht einer tiefen Wirklichkeit, die sich durch eine lange und sehr bewegte Geschichte erklären lässt. Man kennt das genaue Geburtsdatum der Schweiz, sie verdankt ihre Entstehung dem unbändigen Freiheitsdrang einiger Bergler in den ersten Tagen des August 1291, die, der Fremdherrschaft überdrüssig, nur noch untereinander abhängig sein wollten. „Von den Bergen, den Wäldern und über den See“ kamen sie aus den drei kleinen Ländern Uri, Schwyz (das der Schweiz seinen Namen geben sollte) und Unterwalden, um den feierlichen Eid zu leisten (daher die Bezeichnung „Eidgenossen“!), sich in Zukunft gegenseitig mit Rat und Hilfe beizustehen und nicht länger die Herrschaft der kaiserlichen Vögte anzuerkennen. Nur durch diesen gemeinsamen Willen zur Freiheit, Unabhängigkeit und gegenseitigen Unterstützung wurde es möglich, daß eine Reihe von Ländern, deren kulturelle Gegensätze so ausgeprägt sind, zu einer politischen Einheit verschmelzen konnten. Was könnte sonst zum Beispiel ein französischsprechender, protestantischer Genfer mit einem katholischen Urner Bauern, der seinen ganz besonderen schweizerdeutschen Dialekt spricht, gemeinsam haben? Oder etwa ein Basler, dessen große humanistische Tradition ihm vom Norden her zuteilgeworden ist, mit einem Tessiner, der so ganz dem lateinischen Kulturkreis angehört, italienisch spricht und unter südlichem Himmel einen ganz andern Lebensstil pflegt?

Wie wir gesehen haben, bildet der Kanton die Grundlage des Landes. Das Staatsgebilde der „Confoederatio Helvetica“ ist nicht etwa durch Verschmelzung oder Eroberung entstanden, sondern hat sich aus dem Kanton heraus entwickelt, indem sich einer nach dem andern dem Bund der Urkantone anschloss. Dabei trat er dem Bund nur gerade soviel von seiner Souveränität ab, als dieser brauchte, um das Gedeihen des Ganzen zu verbürgen und so wiederum für die Bewahrung der Eigenart eines jeden seiner Glieder einstehen zu können. Auch heute noch besitzt jeder Kanton seine eigene Verfassung, seine Gesetze, seine Regierung. Außerdem erhebt er seine eigenen Steuern und genießt auf diese Weise auch die zu wirklicher Freiheit notwendige finanzielle Unabhängigkeit. Auf der Suche nach einer gewissen Einheit in diesem bunt zusammengewürfelten Land könnte man versucht sein, zu glauben, sie nun innerhalb des Rahmens des Kantons gefunden zu haben. In vielen Fällen wird auch dies ein Trugschluss sein. Gewisse Kantone, wie das Wallis, Freiburg und Bern, sind zweisprachig, andere sogar dreisprachig, wie zum Beispiel Graubünden, dessen Bewohner Schweizerdeutsch, im Vorderrheintal und Engadin romanisch und im Puschlav italienisch sprechen. Man wird gewahr, daß es fast unmöglich ist, vom Schweizervolk zu sprechen, ohne der Eigenart seiner einzelnen Glieder, aus denen es sich zusammensetzt, Gewalt anzutun. Was auf Neuenburg zutreffen mag, wird mit größter Wahrscheinlichkeit in St. Gallen seine Geltung verloren haben, und so wäre es unangebracht, im Falle der Schweiz irgendeine Verallgemeinerung suchen zu wollen.

Und doch gibt es in diesem Land der verwirrenden Vielfalt eine gewisse Einheit, etwas, das allen Schweizern, welcher Sprache, Herkunft und Religion sie auch seien, gemein ist. Jeder Fremde, der die Grenze überschreitet, wird diesen Eindruck empfinden. Woran liegt das nun? Einmal ist jeder Schweizer stolz auf seine Heimat, deren demokratische Einrichtungen zu den vollkommensten gehören, die es gibt, und die es ihm ermöglichen, seine persönliche Freiheit und Eigenart zu bewahren. Diese Liebe zur Freiheit und Unabhängigkeit waren es ja, die zur Gründung des Bundes führten, der Schweizer Bürger ist sich bewusst, daß die föderalistische Staatsordnung seines Landes die Gewähr für die Erhaltung dieser hohen Ideale bietet. Dann, als noch augenfälligerer gemeinsamer Wesenszug, hegen die Schweizer eine besondere Vorliebe für Ordnung und Disziplin, was sich in ihrer ganzen Haltung, in kleinen und kleinsten Dingen des täglichen Lebens ausdrückt. Hier ist nicht das Land der begeisterten, lärmenden Menschenmenge; hier geht es still und überlegt zu, und in den Häusern, Dörfern und Städten, die gepflegt und sauber sind, spielt sich das Leben ruhig und wohlgeordnet ab. Die Schweiz ist auch das Land der Vorschriften, was einmal einen Franzosen zum Ausspruch veranlasste, was hier nicht verboten sei, sei bestimmt obligatorisch.

So friedliebend das Schweizervolk auch ist, so sehr gefällt es ihm doch in seiner gutgeschulten und wohlausgerüsteten Armee zu dienen, und diese beiden Wesenszüge, die als Widerspruch erscheinen könnten, finden ihren Ausdruck in der ungewöhnlichen Tatsache, daß jeder militärdienstpflichtige Bürger — d. h. sozusagen die gesamte erwachsene männliche Bevölkerung — Ausrüstung, Gewehr und Munition zwischen zwei Dienstleistungen zu sich nach Hause nimmt. „Es gibt wohl kaum einen Staat“, schrieb Montesquieu, „dessen Politik gestatten würde, alle seine Bürger zu bewaffnen.“ Dass dies im Falle der Schweiz doch zutrifft, zeugt nicht nur von der nüchternen Wesensart der Schweizer, sondern ist vor allem ein sicheres Zeichen des guten Einvernehmens von Volk und Regierung, oder um es anders auszudrücken — beweist das Vorhandensein von Einrichtungen, die es dem Volk ermöglichen, seinen Willen kundzutun und ihm Nachdruck zu verschaffen. Der Schweizer ist von Haus aus Demokrat. Nie hat er eine andere Souveränität als die seine gekannt und sein Misstrauen gegen jegliche persönliche Machtentfaltung hat ihn immer die Lösung der Kollegialregierung vorziehen lassen. Man trifft in der Schweiz noch das letzte Beispiel von direkter Demokratie, nämlich in den Kantonen Appenzell, Glarus und Unterwalden, wo sich jedes Jahr die stimmfähigen Bürger zur sogenannten Landsgemeinde vereinigen und durch Handerheben ihre Vertreter wählen, über die vorgeschlagenen Gesetze abstimmen, ihre Meinung über die zu zahlenden Steuern abgeben und über sonstige öffentliche Angelegenheiten entscheiden. Demokratische Einrichtungen dieser Art haben es ermöglicht, daß Menschen verschiedenster Art, Sprachen und Glaubensbekenntnisse in bestem Einvernehmen nebeneinander leben können. Der Fremde empfindet die Atmosphäre der Ruhe, Ordnung und Achtung vor der Eigenart des Nächsten angenehm, um so mehr als er in der Schweiz ein Land findet, wo bis zu einem gewissen Grade ein Lebensstil fortbestehen konnte, wie er in Europa vor 1939, oder sogar vor 1914, herrschte. Man darf nicht vergessen, daß die Schweiz, mit Ausnahme der kurzen Napoleonischen Besetzung, seit dem 16. Jahrhundert eine lange Zeit des Friedens gekannt hat und von den Schrecken zweier grausamer Kriege verschont geblieben ist, die das Gesicht Europas so vollkommen veränderten. Sie konnte ihre gewohnte Lebensweise fortführen, ihre Ideen beibehalten, die Dinge heranreifen lassen, ohne den gewaltsamen Riss zwischen Vergangenheit und Gegenwart erleben zu müssen. So ist sie denn eines der wenigen Länder geblieben, wo der Fremde beglückt eine Atmosphäre wiederfindet, die er in vielen Fällen in seiner Heimat vielleicht nicht mehr kennt und die er doch unbewusst vermisst.

Wir haben die große Anziehung zu erklären versucht, die die Schweiz immer und immer wieder auf den Fremden ausübt, und wenn dabei vor allem von den mannigfaltigen landschaftlichen Schönheiten, von den einzigartigen Einrichtungen und dem Geist der Ordnung und Ruhe die Rede war, könnte man leicht zu der Auffassung kommen, es mit einem Bauernland zu tun zu haben, dessen Städte weder zahlreich noch sehr interessant sein dürften. Dies zu glauben, wäre ein Irrtum, denn, obschon es in der Schweiz keine Weltstädte gibt, die Zentrum des gesamten geschäftlichen, künstlerischen und gesellschaftlichen Lebens sind und für das ganze Land den Ton angeben, so gibt es doch auch keine Provinzstädte, die in ihrem Schatten leben müssen. Jede größere Schweizerstadt ist ja zugleich Hauptstadt eines souveränen Staates, der seine eigene Geschichte, seine eigene Tradition besitzt, und so hat sie noch immer ihre Ursprünglichkeit und ihr ganz besonderes Gepräge bewahrt. Auch in den modernsten unter ihnen kommt heute noch die enge Beziehung zur Vergangenheit sichtbar zum Ausdruck. Wenn man am späten Abend in den laubengedeckten Gassen Berns, mit ihren buntbemalten Brunnen spazieren geht und in der malerischen Gerechtigkeitsgasse oder etwa der Junkerngasse in der Nähe des Münsters stehenbleibt, könnte man sich in eine Stadt des 16. oder 17. Jahrhunderts zurückversetzt wähnen. Auch Genf besitzt eine wunderschöne Altstadt seltener Prägung. Aus den engen, winkligen Gässchen, den ruhigen Plätzen, den schönen, strengen Häuserfronten in der Nähe der Kathedrale von St. Pierre, des Bourg-de-Four und der rue de la Cité, blickt uns die Stadt Calvins entgegen. Viele Schweizerstädte haben eine wunderbare Lage, sei es an einem See, wie Luzern, Lausanne, Zürich, Lugano oder Genf, oder in die Windung eines Flusses eingeschmiegt wie Bern, Freiburg oder Basel. Man könnte glauben, ihre Gründer hätten keine andere Sorge gehabt, als sich nach einem möglichst schönen Fleckchen Erde umzusehen. Kaum eine Stadt, von der aus man mit dem Blick nicht ein Stückchen See, einen Wald, Hügel oder einen Schneeberg erhaschen könnte. Die Naturnähe ist es wohl, die den Schweizerstädten ein so gesundes Aussehen verleiht. Dieser Eindruck wird im Sommer noch durch den prächtigen Blumenschmuck erhöht, der im Überfluss Gassen und Plätze ziert und ihnen ein heiteres, festtägliches Gesicht verleiht; man kann sich nur wundern, daß die Geranie noch nicht dem Edelweiß als Symbol der schweizerischen Flora den Rang abgelaufen hat. Es ist daher nicht erstaunlich, daß immer mehr Fremde in den Städten halt machen, um auch dort einen angenehmen und erholenden Aufenthalt zu verbringen. Außerdem werden sie hier die Entdeckung machen, daß die Schweiz eine beachtliche Anzahl wertvoller Kunstschätze besitzt, deren Vorhandensein sie niemals vermutet hätten.

Die Schweiz ist reich an Denkmälern aus den verschiedensten Kulturepochen, die das Land je berührt haben, so vor allem aus der Zeit der römischen Herrschaft und aus frühchristlicher Zeit. Die politische Beständigkeit und die lange Friedenszeit konnten der Kunst und der Erhaltung ihrer Zeugen nur förderlich sein. Dabei muss gesagt werden, daß hier der politische und soziale Aufbau des Landes eine größere Rolle gespielt hat, als man anzunehmen geneigt wäre. Das Mäzenentum der großen Fürstenhäuser fehlte gänzlich; der Souverän — in diesem Falle der Kanton — konnte es naturgemäß niemals den europäischen Höfen an Prachtentfaltung gleichtun. So sind denn auch meistens die Baudenkmäler der Städte irgendeinem öffentlichen Zweck bestimmt: es sind Kirchen, Rathäuser, Kornspeicher, Zeughäuser. Deshalb fügen sich auch diese Gebäude dem Stadtbild auf so natürliche Weise ein, ohne dessen Schlichtheit und Einheit zu stören. In allen Gebieten der Kunst fällt der Einklang des künstlerischen Ausdrucks mit den Anforderungen des täglichen Lebens auf. So findet man in Bern, Basel, Freiburg und Lausanne prächtige Rathäuser spätgotischen Stils, was aber nicht heißen will, daß nur die größeren Städte beachtenswerte Bauwerke besitzen. Städtchen wie Sursee, Appenzell oder Le Landeron können sich ebenfalls reizvoller baulicher Sehenswürdigkeiten rühmen. In größerem Maße noch als die Rathäuser waren die Kirchen Versammlungsort des ganzen Volkes, das seinen Stolz darin legte, seiner Stadt eine möglichst schöne Kirche zu erbauen, ihm und Gott gleicherweise zur Ehre. In der Taufkirche von Riva San Vitale im Tessin, die aus der Zeit um 500 stammt, besitzt die Schweiz wohl ihr ältestes christliches Baudenkmal, das sozusagen unversehrt erhalten geblieben ist. Zahlreich sind die Zeugen des romanischen Stils, so die lombardischen Kirchen des Tessins, und um nur einige der bekanntesten zu nennen — die Kirche von St. Sulpice, diejenige von St. Pierre de Clages im Wallis, die Benediktinerkirche von Payerne, das Kloster Allerheiligen in Schaffhausen oder das Großmünster in Zürich. Aus der Zeit der Gotik sind zu erwähnen: die Kathedrale von Lausanne, ein vollkommenes Beispiel frühgotischen Stils, die Kathedralen von Genf und Freiburg, die Stiftskirche von Neuenburg, das Basler Münster, das sich durch seine Skulpturen auszeichnet. Wenn das Barock im Gegensatz zu anderen Stilarten die Schweiz weniger berührt hat, so sind doch die wenigen, meist kirchlichen Bauwerke aus dieser Zeit, wie zum Beispiel die Klosterkirche von Einsiedeln oder die Stiftskirche von St. Gallen, von bedeutendem Wert.

Der beschränkte Raum in einem Vorwort lässt es nicht zu, daß wir mehr als einige Hinweise auf die Baukunst des Landes geben. Dennoch möchten wir nicht versäumen, auf die vielen malerischen Bergkirchlein und Kapellen hinzuweisen, die sich in rührender Schlichtheit in das großartige Landschaftsbild der Alpen einfügen. Vor allem in Graubünden und im Wallis finden sich zahlreiche derartige Orte der Einkehr und des Gebets, so etwa das entzückende Kirchlein von Fex, oberhalb Sils im Engadin, das weiß und winzig klein, umgeben von mächtigen Berggipfeln, dasteht. Im ganzen Land kann man auf Kirchen und Schlösser von eindrucksvollem Aussehen stoßen — das bekannte Schloss Chillon am Genfer See bedarf wohl keiner besonderen Erwähnung — die immer mit ihrer Umgebung in schönstem Einklang stehen. Es wäre schade, sich nur auf die Betrachtung ihres Äußeren zu beschränken, denn oft enthüllen sie ihre Reichtümer erst im Innern. Es lohnt sich auch, die Museen zu besuchen, die Gegenstände von hohem Wert beherbergen, wie zum Beispiel das Landesmuseum in Zürich, die Historischen Museen von Bern, Basel oder Genf. Die Volkskunst, die ja von jeher in der Schweiz sehr lebendig war und liebevoll gepflegt wurde, hat viele beachtenswerte Werke hervorgebracht, die, wenn auch nicht von überragender Bedeutung, doch sehr aufschlussreich für den Geist und die Art eines Bevölkerungsteils sein können. Nirgends könnten die Besonderheiten einer Landschaft besser zum Ausdruck kommen als in diesen Werken einheimischen Schaffens, aber auch in den Volksfesten, die sich zum Teil bis auf den heutigen Tag erhalten haben. Es seien in diesem Zusammenhang etwa die Winzerfeste, die Älplerfeste, die Basler Fasnacht, das Züricher Sechseläuten oder die Engadiner Schlittedas erwähnt.

Außer ihren landschaftlichen, menschlichen und künstlerischen Anziehungspunkten besitzt die Schweiz noch einen weiteren darin, daß der Zugang zu all diesen Schätzen mühelos und angenehm erlangt werden kann. Die Fremdenbetreuung hat hier einen Stand erreicht, wie man ihn selten antrifft. Keine Anstrengung wird gescheut, um dem Fremden den Aufenthalt so angenehm als möglich zu gestalten, was sicher für ihren internationalen Ruf verantwortlich ist. Da die Ferienreisenden sich oft in die naturgemäß eher ungastlichen Gebirgsgegenden gezogen fühlen, wurde alles getan, um auch den wenig berggewohnten unter ihnen die Möglichkeit zu geben, die Alpenwelt in ihrer ganzen Schönheit zu erleben. Bergbahnen, Seilbahnen, Sesselbahnen und Skilifte erschließen eine immer wachsende Zahl von Berggipfeln und führen den Reisenden zum Beispiel bis aufs Jungfraujoch, in eine Höhe von 3.500 m. Dass auf diese Weise bald jeder Berg auf Stöckelschuhen erreicht werden kann, hat nichts daran geändert, daß die Schweiz nach wie vor das Paradies der Alpinisten ist. Das Berner Oberland, das Wallis, Graubünden, die Zentralschweiz bieten unerschöpfliche Gelegenheiten zu Bergbesteigungen; der geruhsame Wanderer wird ebenso auf seine Rechnung kommen wie der waghalsige Kletterer. Dabei ist der Alpinismus nur eine der vielen Möglichkeiten körperlicher Betätigung. Der einst so trübe, lange Winter wird heute von Tausenden mit Sehnsucht erwartet, um sich in Schnee und Sonne auf den Hängen zu tummeln. Die Schweiz ist die Heimat des Wintersportes.

Die Fremdenbetreuung im Wirtschaftsleben der Schweiz ist unbestritten recht bedeutend; man darf darüber jedoch die anderen Erwerbszweige nicht vergessen, die aus der Schweiz ein reiches Land machten, obschon es dafür die denkbar ungünstigsten Voraussetzungen besitzt. Als Binnenland hat es keinen Zugang zum Meer, es besitzt auch keine Bodenschätze; der kleine Teil bebaubaren Landes ist eher karg und steinig, und doch ist es ein wohlhabendes Industrieland neuzeitlicher Prägung, in dem rauchende Fabrikkamine der Vergangenheit angehören. Da der einheimische Markt zu klein ist, um eine Massenfabrikation wirtschaftlich zu gestalten, hat sich die Industrie von jeher der Erzeugung von Qualitätsprodukten zugewandt. Die Uhrenindustrie versinnbildlicht am deutlichsten die Eigenart des Schweizervolkes zur genauen, wohl ausgeführten Arbeit. Erwähnt sei noch besonders die Maschinen- und die Textilindustrie, ebenso die chemischpharmazeutische und die Lebensmittelindustrie, die in hohem Maße zum wirtschaftlichen Wohlstand des Landes beigetragen haben.

Das vorliegende Bildwerk möge der Schweiz viele neue Freunde gewinnen und in ihnen den Wunsch erwecken, hier einmal die Ferien zu verbringen um das Land aus der Nähe kennenzulernen; es möchte auch in den vielen alten Freunden Erinnerungen an unvergessliche Stunden inmitten herrlicher Landschaft wachrufen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Schweiz - Ein klassisches Reise- und Ferienland