Heinrich Wilhelm Ernst (1814-1865)

Grosse Berühmtheit erlangte Heinrich Wilhelm Ernst. Er glänzte vor allem durch seine nach Seite der Technik wie des Geschmacks zugleich aufs Höchste gesteigerte Virtuosität, ermangelte jedoch keineswegs der gediegenen musikalischen Bildung, wie dies auch seine Kompositionen beweisen, von denen namentlich das Konzert in Fis-moll, die „Elegie“ und die Phantasie über Motive aus „Othello“ weiteste Verbreitung gefunden haben. Geboren 18 14 in Brünn, bildete er sich auf dem Wiener Conservatorium, wo Böhm im Clavierspiel und Seyfried in der Komposition seine Lehrer waren. Während dieser Zeit kam der König der Geigenspieler, Nicolo Paganini, nach Wien, dessen unvergleichliche Leistungen auf Ernst einen so nachhaltigen Eindruck machten, dass er den sehnlichsten Wunsch hegte, es dem bewunderten italienischen Maestro in jeder Beziehung nachzuthun. Vielleicht zufällig, vielleicht indess auch absichthch, folgte er Paganini auf seinen Reisen und traf in Eolge dessen an mehreren Orten mit dem weltberühmten Künstler zusammen. Er liess es nicht dabei bewenden, ihm manche Kunstgriffe abzulauschen, sondern spielte ihm auch ganze Kompositionen, die damals noch nicht der Oeffentlichkcit übergeben waren, aus dem Gedächtnisse nach. In Frankfurt a. M. traf es sich, dass Ernst eines Tages Paganini besuchte und diesen mit der Guitarre in der Hand beim Komponiren überraschte. Als ihn der Italiener sah, sprang er von seinem Stuhl auf und eilte zu seinem Bette, wo er sein Manuskript verbarg, indem er die Worte sprach:

„Ich muss mich nicht nur vor Ihren Ohren, sondern auch vor Ihren Augen hüten.“


Gleich seinem Idol, Paganini, bereiste er Deutschland, Frankreich, England, Russland, Italien, Dänemark und andere Länder, überall durch sein originelles, pikantes und charakteristisches Violinspiel Lorbeeren einheimsend. Er vereinte die Eigenschaften einer glänzenden und bravourmässigen Technik mit denen eines sinnigen, empfindungsreichen und gemütansprechenden Gefühlsvermögens. Der Grundton des letzteren war überwiegend lyrisch-elegisch und nach dieser Seite zeigte er sich nicht frei von einer empfindsamen, sentimentalen Manier, die etwas Weichlich -Unmännliches an sich trug.

Welchen Kränkungen israelitische Künstler noch gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts in Russland ausgesetzt waren, beweist das nachstehende Pröbchen: Bevor er Warschau, wo er mehrere Konzerte für die Armen ohne Unterschied der Konfession gegeben hatte, verliess, um nach Petersburg abzureissen, wo schon Tag und Stunde zu seinem Konzert festgesetzt waren, erschien bei ihm ein Polizeikommissar, um die Polizeitaxe einzufordern, die jeder Jude für seinen dortigen Aufenthalt bezahlen musste. Der Gekränkte bezahlte die verlangte Summe, berichtete aber augenblicklich nach Petersburg, dass er nach dem Vorgefallenen nicht dahin kommen wolle. Den Brief des „deutschen Paganini“ bekam der Kaiser Nikolaus zu Gesicht; er schickte gleich zwei eigene Boten ab, um den beleidigten Künstler zu besänftigen, aber das half nichts mehr, vielmehr reiste Ernst nach Wien, wo er im dortigen grossen Redoutensaale zu denselben hohen Preisen, wie acht Tage vorher Franz Liszt, ein Konzert gab. Nebenbei gesagt passirte auch Giacomo Meyerbeer einst ein ähnliches Stückchen in Wien, nur mit dem Unterschied, dass dieser an der Abreise — nicht verhindert wurde.

Der Künstler starb am 8. Oktober 1865 an einem Rückenmarksleiden in Nizza. Seine Komposition: „Carneval de Venise“ wird seinen Namen der Nachwelt überliefern. Diese burlesken Variationen hat einst ein Kritiker, sie mit Berlioz’ römischem Karneval vergleichend, in folgender Weise charakterisirt: „Jener, ein flinker, neckischer, pirouettirender, capriolender Harlekin, dieser ein purzelbäumender, unter der Maske noch Fratzen schneidender Bajazzo. Zwei der lustigsten Narren. Aber welch ein Unterschied! Geigen und Geigen ist zweierlei! Dort ein lustiger Kerl, der Markt- und Naturscenen pfeift und Feuerwerk mit den Lippen abbrennt, hier der bockspring-ende Kobold, der ernsthafte Leute an der Nase zupft, ihnen im Niedersitzen den Stuhl wegzieht oder heulend vor die Füsse fällt, dann auf den Händen davonlaufend.“

Die Perle seines kompositorischen Schaffens ist und bleibt jedoch sein Fis-moll-Konzert, welches eine geradezu bewunderungswürdige Piece ist und weit über allem anderen steht, was er geschrieben hat, die vielgerühmten und vielgespielten Othello -Variationen, die ein reines Virtuosenstück sind, nicht ausgenommen. Das Fis-moll-Konzert ist ein meisterhaftes Musikstück. Es sei noch erwähnt, dass Ernst auch ein Streichquartett und — mit Stephen Heller zusammen — unter dem Titel „Pensees fugitives“ zwei Hefte reizende Stücke für Clavier und Geige geschrieben hat. Auch „Rondo Papageno“ ist köstlich, aber leider zu wenig gespielt. Die Geige des grossen Künstlers befindet sich jetzt in den Händen von W. Neruda (Lady Hallé) und der Bogen, von Fr. Tourte, in denen Joachims. Die Geige ist ein Straduari vom Jahre 1709.

Für den Charakter des grossen Virtuosen legt ein aus Hannover, den 5. Dezember 1843 an Ferdinand David geschriebener Brief, worin er demselben einen gewissen Ehrhardt angelegentlichst empfiehlt, rühmliches Zeugniss ab. Er sagt dort u. a.: „Wenn ich irgend fest, und nicht immer noch auf Reisen, wäre, hätte ich Sie nicht geplagt und mich wohl seiner angenommen. Da ihm aber alle Mittel fehlen, um nur die nöthigsten Bedürfnisse der Existenz zu bestreiten, so habe ich es für gut gehalten, ihm ein Zeugniss auszustellen, und bitte Sie, diesem meinem Beispiele auch zu folgen, damit er diese dann seinem Gesandten vorzeigen und dadurch auch ein Stipendium bey seinem König beantragen kann. Vielleicht ist es auch möglich, dass Sie für ihn einen, wenn auch nur den unbedeutendsten, Platz im Orchester haben — denn für ihn ist es doch nur jetzt wichtig, dass ihm seine Nahrungssorgen so viel als möglich erleichtert werden und er mit Ruhe seine Studien verfolgen kann. Mir ist die Erinnerungmeiner Jugendjahre, des Anfangs meiner Carrière, zu lebhaft — ich weiss zu sehr, wie wohl es thut, wenn dann uns die Menschen freundlich entgegentreten —, wie ein wohlwollendes Wort eines anerkannten Künstlers uns erquickt und unseren Mut hebt, als dass ich nicht jede Gelegenheit ergreifen möchte, diese Erfahrung zum Nutzen Anderer anzuwenden. Ich bin von Ihrer edlen Denkungsart überzeugt und gewiss, dass, wenn Sie meinen Empfohlenen für würdig erkennen, Sie ihm auch gütig die Hand bieten werden.“

Einer der Biographen von Joseph Joachim, Andreas Moser, erzählt eine allerliebste Anekdote von H. W. Ernst, womit wir das Charakterbild dieses Künstlers abrunden möchten. Frau Enole Biarnez, die Gattin Franz von Mendelssohns, eines nahen Anverwandten des Komponisten, eine geborene Französin, welche schon im elterlichen Hause zu Bordeaux eine sehr sorgfältige musikalische Erziehung genossen hatte, bemerkte als Kind mit Erstaunen und Bewunderung, dass ihre Eltern H. W. Ernst, der während seines Aufenthaltes in Bordeaux oft im Hause Biarnez verkehrt, wie eine Art höheres Wesen betrachteten. Daraus schloss die kleine Enole, dass der Geiger, dessen Haupt damals im üppigsten Lockenschmuck prangte, ein berühmter Mann sein müsse. Für ihr Leben gern hätte sie nun ein Andenken an den genialen Violinisten besessen, wagte es jedoch nicht, ihn um ein solches anzugehen. Eines Abends aber, als Ernst mit ihrer Mutter im eifrigsten Musiziren war, nahm sie eine Scheere, schlich sich an den Virtuosen heran, schnitt ihm unbemerkt eine Locke ab und verwahrte dieselbe sorgfältig. Viele Jahre später, als die kleine Attentäterin längst schon Frau und Mutter war, sah sie den berühmten Geiger in Berlin wieder und gestand ihm die in kindlicher Unschuld verübte That. Darauf wurde Ernst nachdenklich, strich sich mit der Hand durch das inzwischen spärlich gewordene Haar und meinte:

„Geben Sie mir doch die Locke wieder, ich könnte sie ja jetzt so gut gebrauchen.“