Carl Tausig (1841-1871)

Als letzter der Virtuosen, mit dem der höchste Gipfel des Bravourspiels erreicht schien, nächst Liszt, Rosenthal und Anton Rubinstein der größte Techniker am Klavier und einer der genialsten Interpreten aller Zeiten ist der russische Pianist Karl Tausig, dem es nur eine kurze Spanne Zeit zu leben vergönnt war, denn er ist bereits mit 30 Jahren verstorben, der aber schon während seines kurzen Erdendaseins das Großartigste geleistet hat, was überhaupt auf dem Gebiete des Pianofortes zu erreichen ist. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass er als Virtuose von keinem seiner Zeitgenossen übertroffen wurde, und dass er gleich groß als Interpret der klassischen wie der modernen Klaviermusik war. Überall, wo er auftrat, erregte er einen beispiellosen Sturm des Beifalls, und selbst die kritische, nüchterne Presse sprach von seinen Leistungen zumeist in Superlativen. Bezeichnend hierfür ist z. B. ein Artikel über ihn im „Musikalischen Wochenblatt“ vom 1. Juli 1870. Dort heißt es u. a.: „Der Konzertgeber erschien und setzte sich an das Klavier. Wie eine Windsbraut rasten die Hände über die Tasten, es klang wie Brandung und Donner, wie Hagelschlag und Erdbeben ... Der Zauber dieses Klavierspiels wirkte bestrickend, enthusiasmierend auf mich, auf alle. Die unbeschreibliche Zartheit, mit welcher Tausig spielt, die Leichtigkeit, mit welcher er jede Schwierigkeit überwindet, die feine Empfindung, welche seine Auffassung stets auszeichnet, die poetische Grazie des Ausdrucks — man weiß nicht, was man zuerst, nicht, was man mehr bewundern soll. Alle Tonfarben, vom schärfsten Akzente der Leidenschaft bis zur zartesten Nuance stehen ihm in jedem Augenblick unweigerlich zu Gebote ... Tausigs Technik ist einzig, vollkommen, sie hat einen bisher nicht erreichten Höhepunkt erlangt, sie übertrifft weitaus alles Dagewesene. Wir meinen nicht jene enorme Fingerfertigkeit, welche Schwierigkeiten überwindet, sondern die Kunstfertigkeit, welche in der Sauberkeit und Delikatesse der Ausführung jedes einzelnen Tones und in der Bestimmtheit, mit welcher jede Wirkung auf den Hörer gleichsam mathematisch berechnet ist, besteht. Diese Kunstfertigkeit hat etwas Staunenerregendes, Unbegreifliches. Sie lässt nicht zu, dass ein Kunstwerk unter ihrem Einflüsse leidet. Sie ist ohne kolossale Energie, ohne große geistige Anlage, ohne rastloses Streben nicht zu denken.“

„Feuerwein auf Eis gestellt“, so charakterisierte ihn die berufsmäßige Kritik und so wird er wohl auch in der Kunstgeschichte fortleben.


Am 4. November 1841 in Warschau geboren, war er bis zu seinem 14. Jahre Schüler seines Vaters, des vortrefflichen Klavierlehrers Aloys Tausig, welch’ letzterer, ein Schüler Bocklets und Thalbergs, weite Kunstreisen unternahm und auch als geschmackvoller und effektreicher Klavierkomponist sich auszeichnete. Franz Liszt, der Unübertroffene, übernahm die weitere Ausbildung des genialen jungen Künstlers. 1859 — 60 lebte er in Dresden, dann zwei Jahre in Wien, wo er namentlich als Dirigent durch Aufführung der schwierigsten Orchesterwerke von Liszt, Wagner und Berlioz Aufsehen erregte. 1865 begab er sich auf Veranlassung seines Freundes Hans von Bülow nach Berlin, wo er zum Königl. Preuss. Hofpianisten ernannt wurde und eine Akademie für das höhere Klavierspiel errichtete, die er jedoch im Herbst 1870 wieder aufgab. Von seinen zahlreichen berühmt gewordenen Schülern nennen wir nur die erwähnte ausgezeichnete Klaviervirtuosin Sophie Menter, welche Anton Rubinstein einst die „Alleinherrscherin aller Tasten und Herzen“ genannt hat.

Groß war die Verehrung, welche der Meister Franz Liszt für seinen Jünger empfand. Er äußerte sich einst, als die Rede auf Tausig kam:

„Unter die besten meiner Schüler zählend, hat er in seelenvollem und das Gemüt ansprechendem Vortrage mich übertroffen, denn in ihm liegt ein angeborenes, großes musikalisches Talent.“ Es ist sehr zu beklagen, dass dieser unvergessliche Klaviervirtuos der Kunst entrissen wurde, bevor es ihm noch vergönnt war, jene Höhen zu erreichen, die diesem unvergleichlichen Spieler vorschwebten. In den letzten Jahren seines Lebens ließen ihn die rauschendsten Huldigungen kalt, denn er war ein unglücklicher, in Schwermut verfallener Mann. Die Einen schreiben diese Veränderung seines Wesens philosophischen Grübeleien zu, die Anderen einer kurzen, aber bald wieder getrennten Ehe mit der Pianistin Seraphine Vrabely. Ein Berliner Freund Tausigs, der Graf Karl von Krockow, erzählt, dass Tausig viel von weiblichen Verehrerinnen belästigt worden, dass er aber ihnen stets mit einer gewissen Scheu ausgewichen sei und von seiner Ehe zu sprechen immer vermieden habe. Seine geistige Frische sei lange vor seinem Tode verschwunden gewesen.

Am 17. Juli 1871 starb der Meister, von der Gräfin Krockow mit aufopferungsvoller Liebe gepflegt. In seinen letzten Wochen musste er den Schmerz erleben, dass die russische Gräfin Mukhanoff-Nesselrode, die pietistische Freundin Richard Wagners, ihn mit ihren Bekehrungsversuchen quälte, ohne dass jedoch der stets in Fieberdelirien liegende Kranke auf die Experimente reagiert hätte.

Karl Tausig hat auch als Lehrer auf die jüngere Generation einen außerordentlichen Einfluss ausgeübt. Von seinen Kompositionen sind nur wenige veröffentlicht. Weite Verbreitung fanden seine Klavierbearbeitungen Wagner’scher Opern, z. B. der Klavierauszug der „Meistersinger“, und die von ihm veranstaltete Ausgabe des Clementi’schen: „Gradus ad parnassum“. Seine sehr schwierigen technischen Studien gab nach seinem Tode H. Ehrlich heraus.

Seinen Eifer als Pädagogen und zugleich seinen edlen Charakter kennzeichnet am besten sein an den Komponisten Jensen gerichtetes Schreiben vom 15. September 1866, worin er diesem den Antrag stellt, nach Berlin zu kommen, um als Lehrer an seiner „Schule für höheres Klavierspiel“ tätig zu sein. Als Jensen diesem Rufe Folge zu leisten erklärte, schreibt ihm Tausig u. a.:

„Wir müssen klein anfangen, wie alles was ordentlich wachsen und gedeihen soll. Was ich Ihnen biete, ist gewiss wenig, es wird aber bald mehr werden und schließlich soll es Ihnen anfangs für Berlin von der materiellen Seite einen geringen, aber sichern Anhalt garantieren. Ich habe, um eben unbemittelten jungen Leuten — talentvolle junge Leute haben nie Geld — die Möglichkeit eines vollständigen, gründlichen Studiums zu erleichtern, den Preis der Stunden nur auf 5 Thaler monatlich (60 Thal er jährlich) normiert. Dafür erhalten sie 16 Stunden in vier Wochen. Ich glaube, das ist möglichst billig. Außer Ihnen und mir wird anfangs nur Herr Bendel, der ein trefflicher Klavierspieler ist, unterrichten. Im Jahre sind ca. sechs Wochen Ferien. Sechs Stunden wöchentlich (Solospiel) gegeben, afferiren in 46 Wochen 280 Thaler, neun Stunden 420 Thal er, zwölf Stunden 560 Thaler. Sind Sie krank, so erhalten Sie das fortlaufende volle Honorar, welches monatlich nach den Stunden berechnet wird. Unternehmen Sie oder Bendel oder ich eine Konzertreise kurzer Dauer, so vertreten wir uns gegenseitig ... Bin ich fertig? Ich glaube — diese Seite hat mir viel Mühe gekostet und ich bin den trockenen Geschäftston nicht gewöhnt. Vor allem kommen Sie bald nach Berlin. Allen Ihren Unternehmungen stehe ich freundschaftlichst zur Seite und werde der Erste sein, in Ihren Konzerten und überall Ihr vortreffliches Talent zu schätzen und zu bewundern.“