Friedrich Gernsheim (1839-1916)

Friedrich Gernsheim (16) — seit 1890 Direktor des Stern’schen Gesangvereins zu Berlin und künstlerischer Beirath am Stern’schen Conservatorium — hat sich zwar auch als Konzertleiter und durch seine musikpädagogische Thätigkeit in den weitesten Kreisen einen klangvollen Namen erworben, aber der Schwerpunkt seines Schaffens liegt doch vorwiegend in seinen schöpferischen Arbeiten. Sowohl in der Instrumental-, wie in der Vokalmusik hat er Ausgezeichnetes geleistet.

Als die hervorragendsten Erzeugnisse seiner Muse sind zu bezeichnen: drei Symphonien für grosses Orchester, ein Violinkonzert, „Lied der Städte“ für Männerchor, „Agrippina“ für Altsolo, Chor und Orchester, Quartett und Quintett für Clavier und Streichinstrumente, „Odins Meeresritt“ für Baritonsolo, Männerchor und Orchester, „Das Grab im Busento“ für Männerchor und Orchester, Divertimento für Flöte und Streichinstrumente, der „Zaubermantel“ für Chor und Clavierbegleitung, „Hafis“, eine Liederreihe für Solostimmen und Chor, ein Preislied für Chor und Orchester, „Phöbus Apollo“, Hymne für Männerchor und grosses Orchester, Liederheft, op. 57, „Symbole“, zwei Hefte Clavierstücke, zweites Quintett für Clavier und Streichinstrumente, vierte Symphonie, zweite und dritte Violinsonate, „Der Nornen Wiegenlied“, für Chor und Orchester, das dritte Streichquartett in F-dur und das vierte Streichquartett in E-moll.


Seine Kompositionen lassen seine ausgeprägte Individualität erkennen, die dem Zuhörer sympathisch entgegentritt. Sie zeichnen sich fast durchweg durch eine blühende Phantasie, Melodienreichthum, Schärfe der Rhythmik, vollkommene Beherrschung der Form und vollendete Meisterschaft in der Kompositionstechnik aus. Während er sich in seinen Erstlingswerken an Beethoven und Schumann anlehnte, tritt seine eigene künstlerische Persönlichkeit und Schöpferkraft in den späteren Kompositionen immer deutlicher hervor. Durch die Plastik und Klarheit seiner Tonschöpfungen und die ihnen innewohnende Poesie und Frische haben dieselben seit Jahrzehnten allgemeine Anerkennung errungen und sind in den weitesten Kreisen volksthümlich im besten Sinne des Wortes geworden. Ein frisches, seelenvolles Gemütsleben entfaltet sich in all seinen Werken.

Friedrich Gernsheim wurde am 17. Juli 1839 in Worms geboren und studierte u. A. bei dem am 4. Juli 1900 im 81. Lebensjahr gestorbenen Komponisten Louis Liebe. Seine ferneren Lehrer waren Rosenhain und Hauff in Frankfurt am Main in der Theorie und Violine. Schon mit elf Jahren trat Gernsheim als Pianist in einem Theaterkonzert zu Frankfurt unter grossem Beifall auf, während zugleich eine Ouvertüre des Knaben zu Gehör gebracht wurde. Die liebende Mutter, die stete treue Begleiterin ihres Sohnes, führte ihn nun dem Leipziger Conservatorium, der altberühmten Pflegestätte der Musik, zu. Seine Lehrer und Rathgeber, die bewährten Meister Moritz Hauptmann, Julius Rietz, Richter und Moscheles, förderten ihren hochbegabten Jünger in jeder Weise. Im April 1855 finden wir ihn in Paris, wo er sechs Jahre hindurch verblieb, und bald als Pianist hochgeschätzt und als einer der besten Interpreten der Chopin-Schumann’schen Muse anerkannt wurde. Seine durch und durch deutsche Natur fand aber in der Seinestadt nicht den geeigneten Boden, und die Sehnsucht nach deutschem Lande und nach sinnigem deutschen Kunstleben erfüllte immer stärker seine Seele. Nach dreijähriger erfolgreicher Wirksamkeit als Dirigent, Claviervirtuose und Komponist in Saarbrücken folgte er einem Rufe als Lehrer an das Conservatorium zu Köln. Dort wurde er Lehrer des Clavierspiels, des Contrapunkts und der Fuge, Dirigent des städtischen Gesangvereins, des Sängerbundes, der Musikalischen Gesellschaft u. s. w.

Im Jahre 1874 übernahm Gernsheim die künstlerische Leitung der Musikschule der Gesellschaft zur Beförderung der Tonkunst und die der zehn grossen Winterkonzerte in Rotterdam, wo er nahezu 16 Jahre wirkte, überhäuft mit Ehren und Ruhm. Dass er seit einem Jahrzehnt in Berlin wirkt, haben wir bereits erwähnt. Er ist Professor und Mitglied der Akademie der Künste.