Karpeles, Gustav (1848-1909) tschechisch-deutscher Literaturhistoriker, Schriftsteller, Kritiker und Publizist

Als der beste Heinekenner, der über das Leben und Dichten des grossen Lyrikers zahlreiche höchst bedeutsame Schriften veröffentlicht und durch sein warmes, verständnissvolles Eintreten für den vielfach so verfehmten Verfasser des Buches der Lieder eine gerechtere Beurteilung und Würdigung dieses Genies bewirkt hat, als Literar- und Kulturhistoriker, besonders aber als Verfasser einer ausgezeichneten zweibändigen „Jüdischen Literaturgeschichte“, und als Leiter der altberühmten, von Dr. Ludwig Philippson begründeten „Allgemeinen Zeitung des Judentums“, sowie als Schöpfer der in ganz Deutschland verbreiteten Literatur- und Geschichtsvereine, welche in den letzten Jahren einen großen Aufschwung genommen, verdient der am 11. November 1848 zu Loschitz in Mähren als Sohn des gelehrten Rabbiners und Kanzelredners Elias Karpeles geborene Gustav Karpeles einen Ehrenplatz in der modernen Literatur. Mit umfassenden wissenschaftlichen und literarischen Kenntnissen, einem ungeheuren Sammelfleiß und kritischer Schärfe verbindet er einen glänzenden feinziselierten Stil und eine hinreißende, wohltuende Begeisterung für seinen Stamm, ohne jedoch je die Grenzen der Objektivität und der nüchternen Beurteilung der Verhältnisse zu überschreiten.

Das moderne Israel hat gegenwärtig keinen Schriftsteller, der in Wort und Schrift so viel für die Förderung der Kultur und Bildung unter den Juden getan hätte, als er. Durch die Popularisierung der Wissenschaft und Literatur in vielen seinen Werken und Broschüren, aber auch durch seine unzähligen Reden und Vorträge ist dem gebildeten Laien aller Konfessionen durch ihn ein außerordentlicher Wissensschatz zugänglich gemacht worden, der notwendig dazu führen muss, die Kenntnis über Israel, seine Geschichte, seine Vergangenheit und seine Literatur in die weitesten Kreise zu tragen, aber zugleich auch die Gegensätze zwischen den Angehörigen verschiedener Bekenntnisse in Folge der gerechteren Würdigung der Juden und ihrer Kulturaufgaben auszugleichen. Er entrollt sowohl in seinen Schriften, als auch als Journalist und Redakteur die Fahne eines vernunftgemäßen Fortschritts und die Bausteine, welche er auf den verschiedensten Gebieten aufgespeichert, werden noch zukünftigen Baumeistern wertvolle Dienste leisten. Speziell ist Gustav Karpeles ein sehr verdienstvoller Pionier der Weltliteratur, indem er durch sein großes und umfangreiches dreibändiges Werk „Allgemeine Geschichte der Literatur“ einen schon von Goethe angeregten Gedanken trefflich durchgeführt und dadurch geradezu bahnbrechend gewirkt hat.


Gustav Karpeles studierte an der Universität zu Breslau und zugleich am dortigen jüdisch-theologischen Seminar Fränkel'scher Stiftung. Er gehörte zu den Lieblingsschülern Heinrich Rückerts, der frühzeitigdas hervorragende Talent des jungen Mannes für literargeschichtliche Forschungen erkannte. Besonders waren es philosophische, historische und literarische Studien, denen sich Karpeles widmete und schon als Bruder Studio erregte er durch eine Broschüre: „Heinrich Heine und das Judentum“ die Aufmerksamkeit literarischer Kreise. Nach Vollendung seiner akademischen Jahre ging er nach London, wo sein Onkel, der bekannte Literarhistoriker Professor Buchheim, lebt, und nach einem Jahre nach Berlin, wo er sich an der Redaktion der „Jüdischen Presse“ und der von Frau von Gayette-Georgens herausgegebenen Zeitschrift: „Auf der Höhe“ eifrig beteiligte, folgte 1872 einem Rufe zur Übernahme der Redaktion der „Breslauer Nachrichten“, leitete dort von 1872 — 1877 das Feuilleton der „Breslauer Zeitung“ und kehrte dann nach Berlin zurück, wo er mehrere Jahre hindurch der damals noch auf der Höhe stehenden „Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte“ als leitender Redakteur vorstand. Seit 1890 redigiert er die „Allgem. Zeitung des Judentums“.

Ein höchst originelles Werk ist das „Literarische Wanderbuch“ des Verfassers, worin er eine sehr hübsche Idee mit großem Geschick durchgeführt hat. Er führt seine Leser auf unterhaltenden Spaziergängen durch weite Gebiete der Weltliteratur, die der Autor der vielverbreiteten „Allgemeinen Geschichte der Literatur“ wie wenige andere beherrscht. Naturschilderung und Literaturbild ergänzen sich in sehr origineller Weise. Als das Programm dieser Wanderungen kann der einleitende Essay über die Geschichte des Naturgefühls gelten; hierauf führt uns der Verfasser zuerst nach China in die Urheimat eines Märchens, das von dort aus sich über die ganze Welt verbreitet hat. Wir folgen den Wanderungen und Wandlungen der Geschichte von der treulosen Wittwe durch Länder und Zeiten mit wachsendem Literesse. Ein zweiter Spaziergang durch die Weltliteratur führt uns das dichterische Schaffen der Frauen von den ersten Anfängen bis auf die Gegenwart in großen Zügen vor. In dem dritten Kapitel gelangen wir aus der Weltliteratur auf die heimatlichen Gefilde des deutschen Schrifttums und lernen zugleich die Geschichte des ersten Ritterromans „Ruodlieb“ kennen. Von den Abenteuern jenes alten Ritters bis zu den Schwänken Till Eulenspiegels ist nur ein kurzer Weg, den wir auf dem Zaubermantel der Phantasie im Fluge zurücklegen. Einem Besuch der alten Stadt Mölln und dem Grabe Eulenspiegels ist das vierte Kapitel gewidmet. Auf vielverschlungenen Pfaden geleitet uns der Verfasser hierauf von der naiven Komik eines Eulenspiegel zu dem hohen Pathos eines Schiller und zu den Stätten in Jena und Marbach, die seiner Erinnerung geweiht sind. Von besonderem Interesse dürfte für alle Leser das folgende Kapitel: „Zur Literaturgeschichte der böhmischen Bäder“ sein, in dem die Reisen Schillers und Goethes nach Karlsbad, Marienbad und Franzensbad in Zusammicnhang ausführlich dargestellt werden. Aus den böhmischen Bädern wandern wir schließlich mit dem wegkundigen Autor nach der deutschen Reichshauptstadt, deren geistiges Leben in den Tagen der Romantik und des Lebens er angenehm zu schildern weiß. Friedrich August Wolf, Friedrich Schlegel, Henriette Herz, E. T. A. Hoffmann, Adelbert von Chamisso und Friedrich Rückert werden uns in ihrem Berliner Leben in fesselnden Bildern vorgeführt. Eine dankenswerte Zugabe bilden die Studien über den Berliner Dialekt, dem bisher so wenig Beachtung geschenkt wurde. Die Schilderungen des Buches sind durchweg lebensfrisch und anziehend, sie haben nichtsdestoweniger auch selbstständige literarische Bedeutung und bilden in ihrer fesselnden Eigenart eine wertvolle Ergänzung zur allgemeinen wie zur deutschen Literaturgeschichte.

Alles in allem wird Gustav Karpeles für immer seine Bedeutung nicht nur für das Judentum, sondern auch für die Weltliteratur als einer der fleißigsten und berufensten Propheten der letzteren, als ein volkstümlicher Schriftsteller, der namentlich die Schätze der hebräischen Dichtkunst und Wissenschaft zu heben und sie zum Gemeingut aller Gebildeten zu machen gesucht hat, beibehalten. Seine Eigenart bezeichnet er selbst treffend im Vorwort seines Werkes: „Literarisches Wanderbuch“, wo er sagt:

„Schriftsteller und Gelehrte pflegen mit Vorliebe, wenn sie auf die Wanderung gehen, ihr gelehrtes Gepäck zu Hause zu lassen. Mir ist es leider nicht so gut gegangen im Leben. Wie jener griechische Philosoph trage ich meine geringe literarische Habe überall dahin mit, wohin mich ein gütiges Schicksal jemals geführt hat. Einem literarischen Trieb, wenn ich das Wort gebrauchen darf, folgte ich auf meinen Wanderungen durch Städte und Länder. Der genius loci einer Stadt, einer Gegend, eines Landes, die Beziehungen der Dichter zu den verschiedenen Städten und Gebieten, die ich durchstreifte, alle Denkmäler geistigen Schaffens, merkwürdige Feste, Sitten und Bräuche, die in irgend einem Verhältnis zur Poesie und Literatur stehen, zogen mich immer in ihren Zauberkreis ... Der einheitliche Gedanke, der wie ein roter Faden durch die verschiedenartigen Arbeiten dieses Buches zieht, ist der der Weltliteratur, die der greise Dichterfürst an seinem Lebensabend ahnte und plante, und die nunmehr nach einem halben Jahrhundert schon in das allgemeine Bewusstsein und Verständnis der Völker überzugehen beginnt, und nun blickt sie mutig in die weite Welt und überall sieht sie neue Sonnenaare fliegen und alles, was schön und groß erscheint im Garten der Dichtung, das sammelt sie still und treu, um es dann in eine höhere Ordnung zu bringen und zu einem Weltgespräch am deutschen Herd zu gestalten.“

Von seinen zahlreichen Werken, welche die verschiedensten Gebiete der Literatur umfassen, seien hier noch die folgenden hervorgehoben: ein Festspiel, betitelt „Deutsche Liebe“, „Grabbes Don Juan und Faust für die Bühne eingerichtet“, Biographien von Heinrich Heine, Ludwig Börne und Nikolaus Lenau, „Lichtstrahlen von Ludwig Börne“, „Heinrich Heine und seine Zeitgenossen“, „HeineAutobiographie“ und „Heinrich Heine, aus seinem Leben und aus seiner Zeit“.

Auch gab er in neun Bänden seine bereits in zweiter Auflage erschienene „Gesamtausgabe der Schriften und Briefe Heinrich Heines“ mit Einleitung, kritischen Bemerkungen etc. heraus.

Gustav Karpeles schrieb ferner einen literarischen Essay über „Friedrich Spielhagen“, ein Buch über „Goethe in Polen“ und gab eine Anthologie neuhebräischer Dichtungen in deutscher Übertragung, betitelt: „Die Zionsharfe“, heraus. Seit den letzten Jahren erscheint von ihm alljährlich ein vorzüglich redigiertes „Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur“.