Thedche Bolzen.

„Thedche Bolzen“

Sie sieht nicht eben hübsch aus mit ihren geraden roten Mauern, den schmutzigen Treppenstufen und der breiten Haustür, deren Flügel immer halb offen stehen Diese Flügel, von denen viele kleine Hände und derbe Rücken die dunkelgraue Farbe abgewischt haben, so daß auf dem hellen, verschabten Rande die geistreiche Inschrift in zollangen Buchstaben angebracht werden konnte: „wer das list is ein esell.“ An der Tür der Volksschule Ja man verfügt nicht umsonst über eine eigene Bleifeder; solch ein Besitz erstickt alle Ehrfurcht; mit ihm beschmiert man sogar den Eingang zu Räumen, wo Einem Nachsitzen und andre Höllenstrafen zudiktiert werden können. Es kommt ja fast nie heraus, wer es getan hat.


Drinnen ist es auch nicht viel hübscher. Die großen, langweiligen, viereckigen, getünchten Klassenzimmer, hell und kalt am Fenster, heiß und dunkel am Ofen, die engen Schulbänke, auf denen die Jungen sitzen wie in den Block geklemmt zwischen Rückenlehne und Tischklappen, die Füße auf den Trittleisten, das geradbeinige, gelb angestrichene Pult mit dem großen, eingelassenen Tintenfaß, an der Wand die schwarze Tafel, und vor derselben, mit der Kreide in der Hand, die Lehrerin, die anschreibt, wer zu spät gekommen. Sie könnte hübsch sein, diese kleine Lehrerin mit der glänzenden braunen Flechtenkrone, wenn sie nicht so blaß wäre und so dunkle Ringe um die grauen Augen hätte. Mit sechzig solcher Burschen fertig zu werden, das gehört nicht zu den stärkenden Beschäftigungen. Vielleicht würde sie nicht mit ihnen fertig, wenn sie nicht noch so jung, so kindlich lachen könnte. Es gibt hier aber doch auch manche Gelegenheit dazu, und jetzt eben verbeißt sie es sich mit Mühe, denn der zur Tür hereinkommt, eine halbe Stunde nach dem Läuten, ist Thedche Bolzen und er hat schon draußen auf dem Vorplatz gebrüllt, als solle er geschlachtet werden, und er brüllt noch immer und tritt brüllend und mit erhobenem Zeigefinger der rechten Hand an die schwarze Tafel. Da braucht man nicht mehr strenge zu sein, da kann man mit seiner natürlichen Stimme sagen (und Fräulein Friedas Stimme ist sanft und freundlich): „Sei nur still, Theodor, geh nur zu Platz, ich weiß ja, du kommst sonst nie zu spät; wie ist das denn heute passiert?“

„Mein Papa“ – schluchzt der Junge, „mein Papa will sich immer gerade waschen, wenn ich mir waschen will.“

„Mich,“ unterbricht das Fräulein mit strenger Miene, unter der es zuckt.

„Und denn is Er immer so nölich, und denn muß man um Ihn zu spät kommen,“ sagte Thedche, und betont das Ihn mit großer Bitterkeit, „und denn weiß er nie, wo seine Strümpfe sind, und denn muß ich sie ihn noch immer suchen, und wie ich mir heute waschen will, da schmeißt er mit seine alten großen Ellbogen die Kumme um, un kaput is sie, un ich muß mir in unsen Milchtopf waschen mit ohne Schnauze an.“

Jetzt lachten auch Theodors neunundfünfzig Mitschüler, und Fräulein Frieda mußte laut in die Hände klatschen und eins zwei drei zählen und Ruhe gebieten und den kleinen Bolzen schnell an seinen Platz schicken. Ihre hellen Augen aber wanderten in der Lesestunde mehr als einmal zu dem kleinen mageren verweinten Jungen mit der hochstrebenden rötlichen Nase unter dem zerzausten Strohdach und dem stets erhobenen Zeigefinger. Theodor war der aufmerksamste Schüler, und er beantwortete auch heute alle an ihn gerichteten Fragen; aber es lag noch immer der Schatten des erlittenen Unrechts auf dem kleinen bekümmerten Gesicht, und in seiner sonst so sicheren Stimme schluchzte es noch. Während der Frühstückspause drückte er sich an den Wänden hin, wo die Jacken und Tornister hängen, und spielte nicht mit den andern.

Fräulein Frieda aber begrüßt diese Erholungsstunde ungefähr mit derselben Erleichterung, wie ihre Schüler. Es tut so wohl, ruhig auf dem Stuhl sitzen bleiben zu dürfen und die mitgenommenen Butterbröte in die Milch zu „stippen“, welche die Kastellanin für sie gewärmt hat. Die Fenster sind offen, und statt der aus Staub und Menschenduft zusammengesetzten Schulatmosphäre dringt die feuchtkalte, aber reine Winterluft herein. Draußen auf dem Fenstersims sitzt sogar ein Sperling, schornsteinfegermäßig schwarz zwar; denn er hat heute nacht in einem Kamin geschlafen, aber seine Stimme, sein aufforderndes „Piep“ und dann die Art, wie er mit dem erbeuteten Krümchen flügelschwingend davon fliegt, all das ist solch ein angenehmer Gegensatz zu dem großen Schulgefängnis, in dem sie hier alle eingesperrt sind.

Die ersehnteste Abwechslung aber ist immer ein Besuch aus der Parallelklasse nebenan, wo Friedas Freundin unterrichtet. Man öffnet die Zwischentür, und dann ist man beieinander. Fräulein Karoline, noch schlanker und zerbrechlicher durch die eng anliegende dunkelblaue Trikottaille, in der sie steckt, sieht etwas älter aus als Frieda, hat aber doch auch ein Gesicht, auf dem noch Jugend und Erschöpfung um den Vorrang streiten, und das in jeder Ferienzeit wieder aufblüht. Verstand sich Frieda aufs Lachen, so war der Freundin immer das Weinen näher, aber es galt nicht gerade den Schülern. Wenn man noch jung ist und leben möchte, kann man nicht ganz selbstlos sein. Die Kinder nun ja, jeden Tag sechs Stunden und mit dem besten Willen, das heißt, noch besser wäre es, wenn man einen andern Beruf erfinden könnte, der jährlich so viel einbrächte, daß man wohnen, essen und sich kleiden kann.

Frieda erzählte von Thedche Bolzens komischem Mißgeschick, aber Karoline fürchtete, es werde heute an dem Mittagstisch, wo sie speisten, wieder Schellfische geben, wie letzten Mittwoch und vorletzten Die gewöhnten sich an, jeden Mittwoch Schellfische zu kochen, obgleich sie wohl gesehen, daß nicht alle sie mochten; und Karoline roch sie jetzt schon mit ihrem feinen, spitzen Näschen, die verhaßten Schellfische. Sie konnte nicht darüber lachen, wie die Freundin, nein gut genährt muß man sein, woher soll man sonst die Kraft zur Arbeit nehmen? Frieda war ganz einverstanden und sah die arme Karoline betrübt an; der standen wahrhaftig die Tränen in den Augen aus Angst vor den Schellfischen.

Da läutete es, die Pause war vorüber, mit bodenerschütterndem Getrampel kehrten die hundertundzwanzig Beine in die Klasse zurück.

„Fräulein, mein Butterbrot is all wieder aus meine Dose rausgewesen,“ sagte der Klassenerste, während er an seinen Platz ging.

„Aus meiner Dose,“ berichtigte die Lehrerin, „hast du es auch ganz gewiß nicht verloren, Walter?“

Der Junge schüttelte den Kopf: „Nee, es is nu all das drittemal,“ sagte er, „aber es macht nix.“

Walter war ihr Liebling. Er hatte einen runden Kopf voll krauser Locken und ein gutes, sorgenloses Kindergesicht, frisch wie ein Apfel. Er hatte immer den reinsten Kragen und das reinste Taschentuch, und ordentlich einen kleinen Winterüberzieher und eine bunte, schottische Schleife: er war der Aristokrat hier; Frieda hätte gewünscht, daß ihre ganze Klasse so sauber, so manierlich und so artig wäre. Und wie nobel er den Verlust seines Butterbrotes verschmerzte Frieda konnte nicht umhin, ihm das Haar zu streicheln. „Ich werde es gleich untersuchen, Walter; du mußt zu Mittag um so mehr essen,“ tröstete sie ihn.

„Heut mittag gibt es Speckpfannkuchen, ist mir desto lieber,“ lächelte Walter verständnisvoll und strich sich zärtlich an Fräuleins Ärmel. Er stand mit Fräulein auf einem ganz besondern Fuß, hatte ihr sommerlang jeden Morgen aus dem eigenen Garten ein Sträußchen gebracht, das ihm die Mutter mitgegeben. Sein Vater war Zugführer, und er hatte in den Sommerferien mitfahren dürfen bis nach Mölln, wo er Eulenspiegels Grab gesehen hatte, und von seiner Großmutter, die dort wohnte, mit den weichen Möllnschen Zwiebäcken vollgestopft worden war. Thedche Bolzen quollen die Augen heraus, als ihm Walter von all den Zwiebäcken erzählte. Als er aber prahlerisch hinzufügte, er habe nicht mal alle aufessen können, gab ihm Thedche einen Puff und sagte verächtlich: „Döskopp.“ Und Walter erwiderte natürlich den Puff aus dem Gefühl der beleidigten Jungensehre und kam mit beschmutztem Gesicht heim; denn der andre hatte ihn untergekriegt und mit Schnee eingerieben, der schon etwas grausprengelig und „matschig“ war. Seitdem ging Walter ihm aus dem Wege, die Mutter hatte es befohlen.

Die dunklen Tage vor Weihnachten, das ist eine Qual in der Schule Draußen steht der dicke, schwarzgelbe Nebel vor den Fenstern, und drinnen scheint von den Wänden her eine Finsternis auszugehen, die zugleich unartig und schläfrig macht. Die Zeichenstunde muß ausfallen, dafür gibt es wieder biblische Geschichte, und Frieda kämpft mit ihrer eigenen Müdigkeit und mit der schweren Bibelstelle, die sie den kleinen Dickschädeln einprägen soll. So „unbegreifsam,“ dies Wort hat Frieda selbst erfunden, sind sie selten gewesen.

„Gott machte Adam aus einem Erdenkloß und blies ihm lebendigen Odem in die Nase, wiederhole das, August.“ Und August steht auf, scharrt mit dem Fuß und stotternd ins Leere stierend: „Gott blies Adam in die Nase.“ „Unsinn“ sagt die Lehrerin, „du, Cäsar.“

Eine feine, quieksende Stimme antwortet mit großer Geläufigkeit: „Gott blies Odem einen lebendigen Adam in die Nase.“ Das Fräulein wird ganz munter über diese Variationen; „Falsch nun Theodor, du du hältst ja schon wieder den Finger hoch.“

„Gott machte Odem einen lebendigen Erdenkloß in die Nase,“ antwortet Thedche Bolzen im Aufsageton, und im Charakter der vertraulichen Mitteilung setzt er hinzu: „ich hab auch mal ‘n Jung einen eingesteckt, aber keinen lebendigen, bloß man ‘n ganz gewöhnlichen.“

„Pfui, Theodor, das magst du noch sagen?“ ruft die Lehrerin entrüstet, aber die Klasse ist wenigstens aufgewacht; denn alle lachen.

Sie wiederholt den Satz noch einmal, aber es hilft nicht. Die Antworten taumeln fortwährend zwischen Adam und Odem umher, und es will nichts in die harten Köpfe, als der Erdenkloß, den sie nach Theodor Bolzens bösem Beispiel immer wieder mit der Nase in einen ärgerlichen Zusammenhang bringen. Und plötzlich gibt Emil Würger, der seinen dicken, schmutzigen Finger schon seit einer Weile hoch über seinem Kopf reckt, die unvermutete Antwort ab:

„Thedche Bolzen kaut.“

„Ein schlechtes Zeichen fürs Angeben“ ruft das Fräulein mit einem drohenden Blick auf den stumpfsinnigen Burschen, der seine Augen nie bei der Lehrerin, seine Gedanken nie bei der Sache hat, aber eine merkwürdige Gabe besitzt, Ungehörigkeiten zu entdecken.

„Was ißt du, Theodor?“

„Ich eß nich,“ brummt der Kleine vorwurfsvoll und nimmt ein schwarzes Klümpchen zwischen den Zähnen heraus, um es mit den Fingern hochzuhalten, „ich krieg ja all die ganse Woche nix mit, is bloß ‘n büschen Kaugummi.“

„Thedche Bolzen lügt,“ sagt Emil Würger, „er hat heute doch Brot gehabt.“

„Ich hab aber nix mitgekriegt,“ über die schmalen Backen fliegt ein helles Rot; er kneift die Augen zu und zieht die Mundwinkel herunter.

„Woher hattest du denn das Butterbrot, Theodor?“ sagt das Fräulein aufmerksam und strengen Tones, „komm mal heraus aus der Bank da, komm mal hierher ans Pult, sieh mich mal an, hörst du?“

Mit schlotternden Knieen kommt er heran, die dünnen Händchen vor den Augen, während er heftig an dem wiedereingesteckten Gummi kaut.

„Du weißt, daß seit acht Tagen immer Klage darüber ist, daß Butterbrot aus den Dosen verschwindet?“ fragt ihn Frieda. Der Junge nickt. „Und ich hab euch jeden Tag gefragt, ob es einer von der Klasse gewesen ist“ Theodor nickte wieder.

„Weißt du nicht, daß es sehr schlecht ist, jemand etwas wegzunehmen?“

Der Kleine drückte die Finger noch fester in die Augen. „Alle Jungens kriegen was mit, bloß ich nicht,“ weinte er.

„Warum denn nicht?“

„Weil mein Papa selber nix hat, weil wir diese Woche Miete bezahlen müssen.“

„Warum bist du nicht zu mir gekommen und hast gesagt: Fräulein, ich hab das Butterbrot weggenommen?“ fragte sie mit milderer Stimme.

„Weil ich denn den andren Tag wieder nix gehabt hätte,“ brachte er schluchzend heraus.

Frieda sah ihn kummervoll an, ihre glänzenden Augen liefen plötzlich über.

Emil Würger hielt den Finger in die Höhe und sagte, ohne die Erlaubnis zu sprechen abzuwarten, in seinem gewöhnlichen Angeberton: „Fräulein weint.“

„Ein Kind aus meiner Klasse, das etwas wegnimmt, o es ist schrecklich“ rief die Lehrerin, und nun weinte sie wirklich, aber noch lauter schrie der kleine Sünder: „Nich wieder tun nich wieder tun“ so daß sich die Zwischentür öffnete, und Fräulein Karoline mit erstaunten Blicken und einem großen Tafelschwamm in der Hand auf der Schwelle erschien. Sie sah aus, als wolle sie alle Unordnung hier auf einmal wegwischen. Sie brachte auch die Klasse wieder in Ruhe, sie verstand das viel besser, als ihre weichere Freundin, und riet ihr, den Thedche Bolzen mindestens zum Alleinsitzen zu verurteilen.

„Wenn so etwas um sich griffe, denke dir, Frieda Der Jung muß eben die paar Stunden so aushalten, bei mir sind auch einige, die nichts mitbekommen, geht es uns denn viel besser? mich friert in der dünnen Jacke, daß mir die Zähne klappern, und meine Füße werden überhaupt nicht mehr warm Leider Gottes hat jeder genug mit sich selber zu tun.“

Die beiden nächsten Tage versorgte Frieda den armen Hungrigen selbst mit einem Butterbrot, am dritten aber fand sie ihn, als sie ihn rief, schon in voller Eßarbeit.

„Woher hast du nun das wieder genommen, du böser Junge?“ fuhr Karoline ihn an.

„Von Walter Krull hat Walter Krull mir gegeben,“ schrie Theodor, das dicke Schwarzbrot zwischen den Zähnen und die Hand schützend davor, als fürchte er, es möchte ihm da herausgerissen werden. Walter wurde gerufen und bestätigte vergnügt, daß seine Mutter ihm dieses Stück für Thedche Bolzen mitgegeben habe.

„Das ist doch merkwürdig,“ sagte Karoline, „wie ist denn das so gekommen, Walter?“ Walter lehnte sich in Friedas Arm zurück und lächelte: „Gestern hab ich zu mein Mama gesagt, du Mama, Thedche Bolzen hat gar kein Butterbrot mit, seine Eltern haben wohl gar kein Geld, nicht du? und da sagte mein Mama, das wird wohl so sein. Und da frag ich mein Mama, ob wir auch so wenig Geld haben, und da sagt mein Mama, nee, wir haben so viel, daß wir uns ordentlich sattessen können. Und da sag ich, na Mama, denn sei man so gut und gib mir immer zwei Stück mit jeden Tag, ein für mich und ein für Thedche Bolzen, daß er uns nicht immer was wegzustehlen braucht, und da sagt mein Mama ja, und da hab ich es ihm heute mitgebracht.“ Er schüttelte lustig seinen hübschen Lockenkopf und sprang davon; er hörte kaum darauf, wie ihm die zwei Fräulein nachriefen: „Das war recht, Walter.“ Er hatte einen neuen Ball bekommen heute, den er hatte zur Schule mitnehmen dürfen, und von dem sein Herz voll war.

Kinder ahmen alles nach, auch das Gute zum Glück. Nach ein paar Tagen stand Thedche Bolzen während der Frühstückspause da, wie ein Bäckerjunge ohne Körbe, Hände, Taschen, Ränzel, alles war voll von Butterbröten, die ihm freiwillig geschenkt worden waren. Frieda erzählte in der wöchentlichen Konferenz mit Stolz von dem guten Geist ihrer Klasse, und Thedche Bolzen, dessen Backen sich tatsächlich zu färben und zu runden begannen, wurde zu einer Merkwürdigkeit mit seiner Brotladung, die er in der Pause nicht bewältigen konnte, sondern zur größeren Hälfte daheim verzehrte. Besonders die jungen Lehrer, die Kollegen der beiden Fräulein, machten oft Besuche in der Elementarklasse, um ihn zu sehen, wie er so dastand mit ausgespreiztem Jackenzipfel, auf dem die Rundstücke kaum Platz hatten. Daß die Besucher daneben auch die beiden freundlichen Schäferinnen der kleinen Herde in Augenschein nahmen, kann ihnen niemand verdenken. Da war besonders einer, der gern kam und gern gesehen wurde.

Weihnachtsferien in Sicht Jubelwort für Schüler und Lehrer Und kann man nicht nach Hause reisen, wenn man eine Freundin hat, da ist’s auch in der Fremde gemütlich, zumal, wenn diese Fremde das gute, alte Hamburg ist. Frieda hatte Karoline zum Dableiben bestimmt; es war fast unmöglich, so zur Winterszeit die Insel Pelworm zu erreichen, die ihre Heimat war; und da die beiden eine Wohnung inne hatten, so suchten sie dem düstern, wenn auch geräumigen Wohnzimmer einigen Festglanz zu verleihen. Frieda stand allein; sie war elternlos, die Brüder verheiratet, aber sie brachte in alle Räume eine Art von Familienhaftigkeit. Natürlich mußten sie einen Tannenbaum haben und Körbchen daran von rosa und weißem Seidenpapier, und hinter den Spiegel mußten Tannenzweige gesteckt werden; und ein Rezept für braune Kuchen von ihrer Großmutter her war auch noch da; die Wirtin erlaubte schon, daß man sich hie und da ihrer Küche bediente.

Sie saßen beieinander auf dem kleinen, knochigen Sofa und besprachen diese Dinge, während sie Nüsse vergoldeten. Die Nüsse gehörten zu der Weihnachtskiste für Karolinens Eltern und Geschwister, bei denen sie die Sommerferien verbracht hatten.

„Wär es man erst wieder Sommer, nicht Frieda?“ sagte Karoline.

„Sollst seh’n, dies Jahr kommst du nicht nach Pelworm,“ meinte Frieda mit Betonung.

„Warum denn das nicht?“

„Weil Er dich nicht wegläßt“

„Wer er? ach Frieda, du bist komisch“ und Karoline roch an ihrer Nuß, so daß ihre Nasenspitze auch ganz vergoldet wurde, dann sagte sie:

„Du Frieda, neulich hab ich bei ihm hospitiert, das heißt, ich saß im Konferenzzimmer neben seiner Klasse, aber er hat mich nicht gesehen, obgleich die Tür offen war.“

„Wieder so schön?“ fragte die Freundin gespannt. Karoline schlug die Augen zur Decke empor.

„Eine Weltgeschichtsstunde, ich sag dir, himmlisch“

„Na siehst du wohl, na siehst du wohl“ rief Frieda eifrig, „und Bücher schreibt er auch, zwei Bände ›für die Jugend‹ Du kannst wohl lachen, meine kleine Karo.“

„Ja, was hilft mir das,“ erwiderte Karoline niedergeschlagen, „was macht er sich aus mir?“

„Na wart man, er wird wohl bald ankommen,“ tröstete Frieda.

Karolinens blasses Gesicht hatte sich während dieses anregenden Gespräches gerötet und belebt.

„Du,“ sagte sie plötzlich mit ungewohnter Weichheit, die Hand mit der Nuß um ihre Freundin schlingend; „wie schade, daß er keinen Bruder hat.“

„Man nicht für mich“ sprudelte Frieda heraus, und fügte mit einem langen komischen Seufzer hinzu:

„Nein, mein Karo, ich krieg nu keinen mehr ab, das hab ich aufgegeben ich werd ‘n alte Jungfer mit so-o-n langen Strickbeutel und so-o-n dicken Mops“ Und sie hüpfte auf dem Sofa auf und nieder, daß es krachte und alle Nüsse unter den Tisch rollten, und zeigte fortwährend, wie lang der Strickbeutel, und wie dick der Mops sein sollte, bis Karoline scheltend und lachend ausrief: „Du hast ganz recht, so’n Gör kann sich gar nicht verheiraten,“ während sie die Nüsse wieder aufsammelte.

Und nun ist er da, der Weihnachtsabend. „Es wird schon dunkel um und um, der Pelzemärtel geht herum und sucht nun auf die Kinder.“ Und die Großen ebenfalls. Im Wohnzimmer der beiden Lehrerinnen ist es wirklich behaglich. Der kleine Tannenbaum übervoll behängt auf dem weißgedeckten Seitentischchen, in der Ofenkasse der summende Teekessel, und der warme Glutschein auf dem Fußboden; die Lampe brennt noch nicht. Frieda legt die Kuchen auf den Teller und ruft fortwährend: „aber bitte Karoline, du verdirbst dir ja die Augen was prökst3 du denn noch immer?“

„Gleich, gleich, noch ein paar Stiche“

„Du, Karo, wollen wir nicht ein bißchen ausgehen?“

„Ausgehen?“ Karoline fährt förmlich zusammen bei der Zumutung. „Es prasselt ja ordentlich an die Fenster, Schnee und Regen durcheinander, hörst es nicht?“

„So laß uns wenigstens kein Licht anstecken, dann sehen wir gegenüber die Tannenbäume brennen.“

Frieda schob sich mit ihrem Stuhl neben die Freundin, und so umschlungen sahen sie in träumerischem Dämmern durch die nur halb klaren Scheiben die gebrochenen Lichter in den Häusern gegenüber, und wie nacheinander in allen Stockwerken die Lichterbäumchen aufflammten.

„So, jetzt müssen wir aber wirklich Kaffee machen, der Kessel kocht ja aus,“ sagte Karoline aufstehend und die behagliche Trägheit von sich schüttelnd, „ich glaube, du könntest hier jawohl den ganzen Abend sitzen und glupen.“4

„Mir ist immer, als müßte noch jemand kommen,“ meinte Frieda mit halbzugedrückten Lidern und schläfriger Stimme.

„Kommen? ach was, wer sollte wohl kommen zünde lieber die Lichter an Der Kaffee wird gleich fertig sein.“

„Mag mal die Augen zu, Karo“, rief nun Frieda ganz munter, „ich muß etwas da untern Tannenbaum legen, aber nicht spiekern, hörst du wohl?“

Der Kaffee dampfte in den netten, rosenbestreuten Täßchen; die getrockneten Blumen des Lampenschirms schimmerten wie lebende; die kleinen Weihnachtslichter leuchteten mit ihrer äußersten Kraft und setzten gleich zwei Seidenpapierkörbchen in Brand, die von Karoline mit Gekreisch gelöscht wurden. Die neugeschenkten Schleifen prangten um den Hals und in den Haaren der beiden, und die Schürze, an der Karoline noch bis zuletzt gestickt hatte, wurde von allen Seiten besehen und bewundert. An die Fenster rieselte der nasse Schnee, und eine klägliche Stimme plärrte draußen:

„Wir wünschen dem Herrn einen goldenen Tisch,

An allen vier Ecken ‘n gebratenen Fisch“ –

„Schade, daß wir heute keinen Karpfen haben,“ sagte Karoline.

„Aber doch Beefsteak,“ tröstete die andre, „freust du dich über den Storm?“

„Oh, schrecklich“ erwiderte Karoline, in dem zierlich gebundenen Buche blätternd, „wenn sie nur nicht alle so furchtbar traurig endigen, kriegen sie sich? Herrgott, hört das Gejaul da draußen denn gar nicht auf?“

„Wir wünschen der Tochter ‘n Bräutigam“

Sang es draußen in jammervollen Tönen. Frieda lachte anzüglich, Karoline schalt, um sie abzuwehren, auf diese Art von Bettelei.

„Ich will ihnen ein paar Pfennige geben,“ sagte Frieda und riß die Tür auf, prallte aber sogleich zurück und schrie: „Karo, Karo, es ist Thedche Bolzen“

Hatte der nasse zerlumpte kleine Bursche eine Ahnung gehabt, vor wessen Tür er seinen Weihnachtsgesang herunterleierte? Gewiß nicht es bedurfte nicht Karolinens Ausrufs: „Ein Kind aus unsrer Schule“ Sobald er nur die Gesichter erkannt, floh er in zitternden Sprüngen an die Treppe zurück. Aber Frieda lief ihm nach und ergriff ihn an dem dünnen Ärmchen. „Komm herein, Theodor,“ sagte sie betrübt und sanft. „Das ist ja schrecklich wir wollen dir ein Stück Kuchen geben.“ Karoline warf ihm, als er sich hereinziehen ließ, hastig eine Strohmatte vor die Füße: „Da stell dich drauf.“

Er hatte die Mütze noch auf dem Kopf, eine jener drolligen Mützen, die eine Art Visier vor Mund und Kinn bilden und nur Augen und Nase frei lassen. Gegen diese reichliche, obwohl auch triefende Kopfbedeckung stach die schmutzfarbene, kurzärmelige Jacke und die zerlumpte Hose betrüblich ab. Ein paar Holzpantoffeln hingen klappernd und weit an den mageren Füßen. Unter dem Mützenvisier starrten die Augen furchtsam und verwunderungsvoll auf die Lichterpracht ringsum.

„Da setz dich hin, kriegst ‘ne Tasse Kaffee,“ sagte Karoline noch immer voller Schrecken. „Warum tust du so was, Junge?“

Thedche Bolzen knöpfte sich die Mütze ab und legte sie auf den Boden, nahm sie aber gleich wieder auf und blickte reuevoll auf den nassen Fleck, den sie dort verursacht hatte.

„Weil nu Ferien sind,“ sagte er.

„Ferien? Kann man die nicht besser anwenden?“ Karoline vermochte es nicht, im Verkehr mit Schülern etwas andres als Lehrerin zu sein.

„Weil ich nu kein Butterbrot mehr mitgebracht krieg“, sagte Thedche ruhig.

„Gibt dir denn bein Vater nichts?“ rief Frieda mitleidig.

„Ja, jeden Tag ‘n büschen, aber, da werd ich nicht satt von.“

„Was ist dein Vater?“

„Er arbeit’ in die Zuckerfabrik.“

„Kann denn deine Mutter nichts mit zuverdienen?“ fragte Karoline.

Der Junge verzog den Mund zum Weinen: „Sie is uns ausgekratzt, sagt mein Papa.“

Die beiden Mädchen sahen sich an.

„Warum denn das,“ rief Karoline neugierig.

„Sie hat ‘n andern g’hatt, un mit den is sie uns ausgekratzt.“

Karoline räusperte sich heftig. Frieda strich ihm über das nasse Haar. „Da, trink den warmen Kaffee, Theodor, kriegst auch noch ein Stück Kuchen, wenn du dies aufhast.“

Der Kleine sah mit einem verwunderten Blick auf die liebkosende Hand, dann begann er so eifrig zu kauen, daß er dunkelrot wurde und sich verschluckte. „Laß dir Zeit,“ ermahnte Frieda, „du bist wohl ganz naß?“

Der Kleine sah mit gewissenhaft prüfenden Blicken an sich herunter, steckte die Hand in seinen Ärmel, dann in sein Hosenbein und sagte: „bloß auf’n Rücken nich.“

„Na, das ist eine nette Einquartierung,“ lächelte Karoline, „ich will mal unsre Hauswirtin fragen, die hat ja einen Jungen in seinem Alter.“

„Nicht wahr?“ sagte Frieda eifrig, „man kann ihn doch unmöglich so wieder wegschicken Theodor, weiß dein Papa, wo du bist?“

Der Kleine schüttelte den Kopf.

„Da wird er dich aber suchen?“

Der Kleine schüttelte wieder.

„Ist er böse mit dir?“ fragte Frieda, von Mitleid ergriffen. Abermaliges Kopfschütteln.

„Er hat mir bloß erst zweimal durchgeneit.“

„Warum denn, Theodor?“

„Einmal, weil ich seine Kartoffeln aufgegessen hatt, die er sich aufbewahrt hatt, un einmal, weil ich sein Hemd angezogen hatt.“ – Thedche lächelte.

„Sein Hemd? Aber das war dir ja auch viel zu groß, Theodor“

„In’n Bett is es einerlei; er nimmt immer die ganze Decke, un ich kann nackend liegen; da hab ich sein Hemd angezogen, was er eben ausgezogen hatt und wickel mir da’rein, aber morgens, als ich noch schlaf, miteins neit er mir durch un reißt mich das Hemd wieder ab.“

Unter dem brennenden Tannenbaum ward der kleine Proletarier entkleidet, gewaschen und in die trockenen, zu eng gewordenen Kleider des kleinen Haussohnes gesteckt. In dieser Verwandlung sah er aus, wie ein hübsches, zartes Kind, nur war der Gesichtsausdruck sorgenvoll und vernünftig über seine Jahre.

„Möchtest du wohl fort von deinem Papa?“ sagte Frieda, in deren Kopfe sich der Wunsch, zu helfen, mit fast schmerzhafter Lebhaftigkeit bewegte.

„Wenn ich groß bin, kann ich mir verheiraten,“ erwiderte Thedche nachdenklich. Die Mädchen lachten, nun lachte er auch.

„Darf ich Fräulein heiraten, wenn ich groß bin?“ sagte er bittend. Die beiden lachten noch stärker, besonders Karoline. „Warum denn, Theodor?“ fragte sie, sein Kinn hochhebend.

„Weil es hier bei Fräulein so schön is, und weil man bei Fräulein so schön viel zu essen kriegt.“

„Lieber Gott,“ rief Karoline, „das steckt jetzt schon d’rin, wenn sie nur so groß sind“ Und sie begann mit einer Art Entrüstung dem kleinen Jungen zu erklären, daß ein Mann erst viel Geld haben müsse, um seine Frau ernähren zu können, eher dürfe er sich nicht verheiraten. Thedche hörte mit offenem Munde zu. Plötzlich rief er: „Denn is meine Mama uns wohl darum ausgekratzt?“ und er begann zu schluchzen und zu weinen, daß die Tränen über Friedas Hand liefen.

„Weinst du um deine Mama?“ flüsterte Frieda liebkosend. Der Kleine schüttelte heftig den Kopf. „Warum denn? sag mir’s doch, Theodor.“

„Weil ich mir nicht verheiraten soll,“ heulte Thedche zum Erbarmen. Dann, als ihn Frieda neben sich aufs Sofa setzte und an sich lehnte, hörte er allmählich auf; langsam glättete sich das kummerverzogene Gesicht, und dann war er auf einmal eingeschlafen, betäubt von der ungewohnten Wärme.

„Ein sonderbarer Weihnachtsabend,“ sagte Karoline, und ihr Auge hing an den letzten verglimmenden Weihnachtslichtern. „Aber was sollen wir mit ihm anfangen?“

Sie brach ab und horchte auf: „Es hat geklopft, hast du’s nicht auch gehört, Frieda? Da wieder: herein O Gott, Herr Olbrich“ –

Und herein trat ein junger Mann von blühender Gesichtsfarbe und mit schwarzem, etwas gesträubtem Haar. Ein Duft von Maiblumen und Veilchen verbreitete sich von dem Strauße her, den er samt dem Hute in der Hand hielt.

„Ich sah Ihren Weihnachtsbaum brennen, Fräulein, und da hab ich mir erlaubt es ist allerdings schon etwas spät“ – stotterte er, an der Tür stehen bleibend, „verzeihen Sie, aber meine Brille ist derartig beschlagen“ – Er stellte den Hut auf die Erde, legte den Strauß darauf, nahm die Brille ab, ging dann in dem Gefühl, daß er sich lächerlich mache, einige Schritte vorwärts, stammelte: „Wenn ich vielleicht dies mit zur Verherrlichung Ihres allerliebsten Weihnachtstisches“ – und legte die Brille auf den Tisch. Dann ging er zu seinem Hut zurück, sah mit äußerstem Erstaunen den Strauß noch darauf liegen und überreichte ihn mit einer schnellen Eingebung Fräulein Karoline, die rot übergossen dastand und vor Verlegenheit nicht einmal gelächelt hatte. Während sie sich so gegenüber standen, tastete er mit der Hand auf dem Tische umher nach seiner Brille und fühlte sie sich zugeschoben. Hastig setzte er sie auf und erblickte auf dem Sofa Fräulein Frieda und das schlafende Kind. Das Eis war gebrochen.

„Thedche Bolzen,“ rief er im ungezwungenen Ton heiterster Überraschung. Nun hatte er auch auf einmal einen Stuhl, und die beiden Kolleginnen ihm gegenüber fanden gleichfalls Worte, und daß die Unterhaltung mit Rücksicht auf den schlafenden Kleinen in etwas gedämpften Tönen geführt werden mußte, gab ihr einen harmlosen und doch reizenden Anstrich von Vertraulichkeit. Olbrich hatte es zum ersten Male gewagt, die beiden Damen aufzusuchen, und wer weiß, wie kurz der Besuch ausgefallen wäre ohne das ausgiebige und bewegliche Thema: „Thedche Bolzen“.

Als Karoline auf einen Augenblick das Zimmer verließ, flüsterte Olbrich verrtrauensselig: „Helfen Sie mir bei unsrer Freundin, Fräulein Frieda, darf ich mir Hoffnung machen?“

Frieda überflog mit einem Schelmenblick sein gespanntes Gesicht und die festliche, himmelblaue Krawatte.

„Leider ist Ihnen schon einer zuvorgekommen,“ erwiderte sie, die Augen niederschlagend. Da trat Karoline wieder ein. Olbrichs Gesicht war ganz verändert; das charaktervolle Kinn, das ihr so gut an ihm gefiel, tief in die himmelblaue Krawatte versenkt, die Züge von Betroffenheit überschattet, stand er da, den Hut in der Hand drehend.

„Sie wollen schon wieder gehen?“

„Ich muß – leider,“ sagte er, die Augen abwendend. „Ich habe soeben eine recht traurige Nachricht bekommen.“

„Eine traurige Nachricht? hier?“ Karoline sah sich erschrocken im ganzen Zimmer um. „Weißt du etwas davon, Frieda?“ Aus Friedas Augen sprühte die Necklust.

„Sind Sie denn gar nicht begierig, zu wissen, wie er heißt?“

Karoline blickte verständnislos von einem zum andern.

„O, Sie haben gescherzt“ rief Olbrich aufmerksam und erleichtert. „Wer ist mir zuvorgekommen? Es ist doch nicht etwa gar,“ fragte er ihrem Blicke folgend.

„Thedche Bolzen,“ fiel Frieda mit pathetischem Kopfnicken ein.

Olbrich brach in ein lautes, herzliches Lachen aus. „Das müssen Sie mir erzählen“, sagte er, seinen Stuhl eilig wieder heranziehend.

„Wenn Sie morgen, wie Sie versprochen, zu seinem Vater gehen,“ erwiderte Karoline.

„- Und wenn wir es durchsetzen, daß er ins Waisenhaus kommt.“

Olbrich hielt ihr schnell mit einem vielsagenden Blick die Hand hin: „Dann?“

„Ja“ sagte sie ganz leise und legte ihre Hand in die seine.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zwischen Elbe und Alster