Zwei Dichter und ein Dichterasyl.

Johann Gottfried Seume und Johann Paulus Friedrich Richter, mit seinem Schriftstellernamen Jean Paul genannt.
Autor: Storch, Ludwig (1803-1881) deutscher Schriftsteller, Erscheinungsjahr: 1873
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Das erste Viertel dieses Jahres, das voraussichtlich in Bezug auf den Fortschritt der politischen Entwicklung Deutschlands eine wichtige Stellung in der Weltgeschichte einnehmen wird, bringt uns die hundertjährige Geburtstagsfeier zweier sehr bedeutenden Dichter und Menschen, die auf diese Entwicklung und die Zeitigung des deutschen Volks zur Einheit und Erstrebung der ihm gebührenden Stelle im europäischen Concert einen mehr oder minder großen Einfluss ausgeübt haben. Sie waren beide nicht nur hochbegabte, sondern auch patriotisch treue und hochbegeisterte Verkünder des Völkerfrühlings, scharfe Tadler der obsoleten, faulenden öffentlichen Zustände unseres von ihnen so heiß geliebten Vaterlandes, Propheten und Deuter einer schönern Zukunft, Herolde der Freiheit und Sittlichkeit und Weltverbesserer im reinsten edelsten Sinne des Wortes. Der Eine die scharfschmetternde Lerche, der Andere die berauschende flötende Nachtigall, beide uns hochheilige Sänger, beide herrliche deutsche Männer durch und durch vom Wirbel des Haupthaars bis zur Fußsohle hinab; beide edle Gestalten, an deren Bildern - das eine aus deutschem Granit, das andere aus deutschem Marmor gehauen - unser Blick mit ehrfurchtsvollem Entzücken hängt, und die unser Herz mit dankbaren Gefühlen preist; denn beiden gebührt das beneidenswerte Verdienst, rüstige Arbeiter im Weinberge der deutschen Bildung gewesen zu sein und ihr Volk aus dem elenden Zustande eines apathischen Sklaventums mit emporgehoben und ihm Teilnahme an den öffentlichen Zuständen und Begeisterung für die freiheitliche Emporbildung des deutschen Lebens eingehaucht zu haben. Der Eine mit der Hacke als kräftiger Häcker, der die Erde um den Weinstock lockerte und mit scharfer Winzerhippe die geilen Ranken verschnitt; der Andere als wundertätiger Magnus, der üppige Trauben hervorzauberte und farbenprangende narkotisch duftende Blumen zwischen Weinstöcken wachsen und an ihnen empor sich ranken machte, Alles mit Regen und mit Tau begießend, in deren Tropfen er die Welt sich farbenprächtig wiederspiegeln ließ, und der dann wieder das Winzerhäuschen zu einem süßen Nestchen umschuf, einem heitern Tempelchen der Unschuld und Kinderfreude, aus dem hervor er zu Aller Ergötzen sein schelmisches Lachen über die Thorheiten und Verkehrtheiten der Menschen hervorschallen ließ.

Der verehrte Leser weiß nun schon, welch ein seltnes Dichter- und Männerpaar ich meine; es ist Johann Gottfried Seume und Johann Paulus Friedrich Richter, mit seinem Schriftstellernamen Jean Paul genannt. Der Erstere wurde am 29. Januar, der Andere am 21. März 1763 geboren, jener im Dörfchen Posern bei Weißenfels im Meißnerland, als der Sohn eines jungen Landbauers; dieser im Städtchen Wunsiedel im Fichtelgebirge in der Brandenburger Markgrafschaft Bayreuth, als der Sohn eines jungen Unterpredigers (Tertius). Wie sie beide in ihren äußern Lebensverhältnissen viel Aehnlichkeit mit einander haben, so auch in ihrer geistigen Anschauung und in ihrem Charakter. In ihrer dichterischen Schöpferkraft sind sie dagegen sehr verschieden und fast Gegensätze. Sie sind beide Kinder des Volks und der Armut, beider Eltern verarmten, beide wuchsen unter Landleuten auf, beide verloren ihre wackern Väter frühzeitig; beide hingen mit rührender Liebe an ihren Müttern; beide studierten mit wohltätiger Unterstützung Theologie in Leipzig, und in den Jahren 1780 und 1781 mögen sie wohl in denselben Hörsälen zusammengesessen haben; beide wurden der Theologie aus demselben Grunde ungetreu, weil ihre Überzeugungen sich in immer schärfern Widerspruch mit dem Kirchenglauben setzten; beide wurden Schriftsteller ohne Amt oder ausgezeichnete Lebensstellung, und beide blieben arm bis an ihren Tod.

Aber noch größer ist die Aehnlichkeit ihrer hehren Gesinnung und ihrer daraus entsprungenen Handlungsweise; man darf sagen: in beiden kam die edelste Humanität und das spezifische Deutschtum, d. h. die schönste Verschmelzung von Geist und Gemüt, zur reinsten herrlichsten Blüte. Und so waren sie beide die edelsten Schwärmer für Deutschlands Ehre und Größe, und deshalb huldigten sie mit Wort und Tat allen Tugenden, glühten für Wahrheit und Recht, für Vernunft, Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz, aber sie hassten eben so stark und heiß allen Despotismus, alles Junkertum, alles Pfaffentum, alles Privilegium, alle Selbstsucht und Heuchelei, alle Verdummung und Verknechtung des Volks, alle Faulheit und Niedertracht, alle sittliche Verkommenheit und Verworfenheit in allen Schichten der Gesellschaft, mit einem Worte: sie liebten alles Gute und Rechte und sie hassten alles Böse und Schlechte, und sie priesen jenes und geißelten dieses jeder nach seiner Kraft und Begabung.

Beide sind Edelsteine vom reinsten Wasser, der Eine ein wertvoller Amethyst, der Andere ein unschätzbarer Diamant, beide geschliffen auf den Schleifsteinen der Wissenschaft, vorzüglich auf denen des Hellenismus, der Eine in klaren ruhigen Flächen, der Andere in tausend blitzenden Facetten.

Was Seume in klaren Worten einfach sagte, angetrieben von hoher heiliger Liebe zur Menschheit oder vom edlen Zorn über Mißbrauch, Schmach und Verderbtheit der höchsten Güter, das führt Richter im prächtig glühenden Farben- und Formenschmuck stets wechselnder wunderbarer Bilder an uns vorüber. Der Eine hält uns den einfachen klaren Spiegel entgegen, welcher unser Bild getreu zurückwirft, der Andere den mit Guirlanden und Arabesken umrahmten Hohl- und Zauberspiegel phantastischer Poesie, der den Bildern der Dinge eine seltsame Form und Färbung giebt. Beiden wurde das Glück zu Theil, schon bei ihren Lebzeiten geliebt, geschätzt, verehrt und gefeiert zu werden. Seume hatte eine Menge Freunde, Richter eine Unmasse Verehrer; Seume, der warmfühlende finstere Mann, wurde mehr geliebt, Richter, das lachende, scherzende Kind, mehr verehrt, gefeiert, ja vergöttert.

Und auch darin hatten diese beiden Dichter und Altersgenossen Aehnlichkeit mit einander, daß sie in den höchsten Kreisen der Gesellschaft persönliche Verehrer und Begünstiger zählten, ja sogar dieselben fürstlichen Persönlichkeiten waren beiden wohlwollend gesinnt, wie z. B. die russische Kaiserfamilie, die Herzogin Anna Amalia von Weimar etc. Dieser Umstand nimmt uns heutigen Tags um so mehr Wunder, als beide, wären sie, wie Uhland, erst vor Kurzem gestorben, gleich diesem und mit Recht Demokraten vom reinsten Wasser genannt worden sein würden. Denn in der Tat und Wahrheit haben sie sich eben so entschieden demokratisch ausgesprochen, als der jüngst abgeschiedene große Dichter und deutsche Mann. Aber so wenig Uhland bei unsern Fürstlichkeiten beliebt war, so wenig würden es heute Richter und Seume sein; wiewohl wiederholt darauf aufmerksam gemacht werden muss, daß Richters herrliche Erzstatue in Bayreuth ganz allein auf Kosten des Königs Ludwig von Baiern errichtet worden ist, nachdem vergebens versucht worden war, das Geld dafür vom deutschen Volke zusammenzubringen.

Und um die Aehnlichkeit beider trefflichen Männer gleichsam vollständig zu machen, theilten sie beide, die in der ganzen zivilisierten Welt so hoch Geehrten und hoch Gefeierten, die Neigung, den stillen gemütlichen Zug zu den einfachen natürlichen Menschen der untersten Gesellschaftsklassen, zum Volke, und wenn Seume länger gelebt hätte, würde er zweifelsohne sich ein Asyl unter Leuten gegründet haben, wie die gewesen, denen er entsprungen war, und wie Richter auf eine seiner poetischen Eigentümlichkeit angemessene originelle Weise es sich wirklich gründete.

Dafür bürgt uns Seume’s ganzes Wesen, das sich so unverkennbar treu und wahr in seinen Schriften ausgeprägt hat, dafür ganz besonders das Fragment seiner Autobiographie, in welcher er seine Eltern und seinen väterlichen Urgroßvater mit wenigen, aber köstlichen Strichen gezeichnet hat. Fast alle hochbegabten Geister, die aus den gesunden naturwüchsigen Elementen des deutschen Volkstums hervorgegangen sind, haben, nachdem sie sich mit mehr oder minder Lust und Geschick in den hohen und höchsten Kreisen bewegt, sich endlich wieder gedrungen gefühlt, sich an der Einfachheit des Volkslebens zu betheiligen und im Umgange mit dem „gemeinen Manne“ Erholung und Freude zu suchen und zu finden. Es ist das gleichsam die Probe auf das Exempel einer edlen gesinnungstüchtigen Natur.

Es ist bekannt, wie glücklich Richter verheiratet war. Seine Gattin war eine der Edelsten und Trefflichsten ihres Geschlechts und fast eben so einzig in ihrer Art, wie er in der seinigen. Gerade weil sie in allen menschlichen Beziehungen, vorzüglich aber als Gattin und Mutter, so echt rein und wahr weiblich war, ist stets so wenig von ihr die Rede gewesen, aber man muss nur in Bayreuth oder München nach ihr fragen, und Jedermann wird sich beeilen, ihr die ungeteilteste Anerkennung, das ungemessenste Lob zu spenden.

Aber auffallender Weise tritt auf der Tafel der Geschichte, wie sie die Hand des Volks zu schreiben pflegt, in dem unsern Richter abhandelnden Kapitel die Freundin des Dichters, die Frau aus dem Volke, weit schärfer und charakteristischer gezeichnet hervor, als die hochbegabte und hochedle Gattin desselben. Dies liegt an dem eigentümlichen und ungewöhnlichen Verhältnisse, in welchem Richter zu Frau Rollwenzel stand. So genau ich mich in Bayreuth während meines einjährigen Aufenthaltes dort bei Leuten aus allen Ständen, die den Dichter und Frau Rollwenzel noch sehr gut persönlich gekannt hatten, nach diesem Verhältnis erkundigt habe, alle stimmten in dem Urteile überein, daß von einer gewöhnlichen geschlechtlichen Accommodation durchaus keine Rede sein könne. Frau Rollwenzel war dem Dichter die Repräsentantin des deutschen Volks, die vox popui, und er erfrischte sich geistig und körperlich in dem ihm in beiden Beziehungen zum Bedürfnis gewordenen täglichen Umgange mit ihr. Denn sie war in der Tat ebenso in idealer wie in materieller Beziehung sein „Feldgehilfe“. Während ihre naiven treffenden Ansichten und Urteile ihn geistig und seelisch anmuteten, gab ihre Kochkunst ihm die erwünschte leibliche Stärkung. Und daß Richter in beiden Beziehungen eben nicht leicht zu befriedigen sein mochte, ergibt sich aus seinem geistigen Wesen, wie es uns in seinen Werken entgegentritt, und aus dem Umstande, daß er an fürstlichen und andern vornehmen Tafeln verwöhnt war, von selbst.

Ich habe das Verhältnis des hochbegeisterten Dichterfürsten und der einfachen Schankwirtin, wie ich es in Bayreuth aus dem Munde des Volks erfuhr, in Nr. 36 des vierten Jahrgangs der Gartenlaube bereits dargestellt und dort das Brustbild der Frau Rollwenzel nach dem Miniaturbilde, welches in der Jean-Paul-Stube des nach ihr benannten Wirtshauses bei Bayreuth hängt, in Holzdruck wiedergegeben. Für Leser, welchen jener Jahrgang nicht zur Hand ist, will ich das dort Gesagte kürzer wiederholen. Als Richter im 41. Lebensjahre mit seiner jungen Familie festen Wohnsitz in Bayreuth genommen, fand er bald in dem kleinen Wirtshause am Fuße der Anhöhe, welche das fürstliche Lustschloss Eremitage krönt, nicht nur ein Lokal, sondern auch Menschen, die ganz seinen Wünschen und Bedürfnissen angemessen waren. In einer keinen, abgelegenen Stube des Hinterhauses bot sich ihm die ungemein reizende Aussicht auf eine idyllische Landschaft, im Hintergrunde begrenzt von den in majestätischen Wellenlinien aufsteigenden Bergen des Fichtelgebirges. Dies war das Stück Erde, welches ihm durch die süßen Erinnerungen seiner Jugend so heilig und so teuer war. Die kleine, ärmliche Schenke wurde ihm deshalb wert, noch werter durch das aufgeweckte, gewandte, witzige und gefällige Wesen der schon 48 Jahre alten Wirtin, die dem geistreichen Gaste bald all seine Lieblingsneigungen abgelauscht hatte und sich beeilte, sie mit Anstand, Achtsamkeit und Sorgfalt auszuführen. Bald waren es nicht allein die guten Speisen und Getränke der Frau Dorothea Rollwenzel und die Aussicht aus der Hinterstube, die ihn in das kleine Haus zogen, er entdeckte in der Wirtsfrau geistige Schätze seltner Art, scharfen Verstand, Humor und tiefes Gemüt. Der Wirth, Friedrich Rollwenzel, war nicht minder eine ehrenwerte Persönlichkeit und teilte mit seiner Frau die hohe Verehrung des ausgezeichneten Gastes. Richter lebte sich so allmählich in das Haus und die Wirtsleute hinein, daß er sich in der Hinterstube sein gemütliches Nestchen einrichtete, eine Neigung, die seinem hohen Genius ganz vorzüglich eigen war. Frau Rollwenzel verstand den Flügelschlag desselben so gut und war eine so klare, scharfe und witzige Beurteilerin seiner geistigen und seelischen Eigentümlichkeit, daß er sich bald überzeugte, welch ein richtiges Verständnis ihm in ihr entgegen komme. Er las ihr also nicht selten die Erzeugnisse seines Geistes vor, die seine Feder in der Hinterstube auf das Papier geworfen, er liebte es auch, mit ihr in der ihm eigentümlichen Weise, von der seine persönlichen Freunde mit Bewunderung sprechen, über geistige Interessen zu disputieren. Frau Rollwenzel füllte also den Kreis seiner Bedürfnisse ans, indem sie ihn ebenso durch Witz und Genialität, wie mit delikatem Kaffee, köstlichem Bier, schmackhaftem Braten und feinem Kuchen ergötzte.

So wurde denn in kurzer Zeit die trauliche Hinterstube zur Schöpferwerkstatt des Dichterheros, und fast alle seine späteren Werke sind in ihr entstanden. Denn fast volle zwanzig Jahre ist er, in der schönen Jahreszeit, schier täglich und zwar schon in der frischen Morgenfrühe von der Stadt durch die prächtige Linden- und Kastanienallee hinauf nach dem keinen Wirtshause gewandert, um sich dort ungestört in süßer Behäbigkeit den erhabenen Schöpfungen seines Geistes hinzugeben und in den Pausen mit Frau Dorothea zu plaudern oder ihre Erzeugnisse zu genießen. Es leben immer noch Leute, welchen die untersetzte, kräftig gebaute Gestalt des Dichterfürsten erinnerlich ist, wie er in schlichter, meist vernachlässigter Kleidung mit offener Brust, freiem Haar, einem Knotenstock und den Ranzen voll Bücher und Manuskripte rüstig die Anhöhe emporschritt. Den Wein, welcher ihm während der Arbeit Bedürfnis war, nahm er sich aus seinem eigenen wohl versorgten Keller jedesmal mit, und man sah die Hälse der Flaschen freundlich aus seinen Taschen herauslugen. Sein treuer Begleiter war stets sein Spitz, den er ebenso wie Frau Rollwenzel in mehreren seiner Dichtungen verherrlicht hat.

Der Maler unserer heutigen trefflichen Illustration hat den Moment aufgefasst, wo der Dichter eben am Rollwenzelhäuschen ankommt, von Wirth und Wirtin freundlich begrüßt. Der Hund ist ihm vorausgeeilt und tauscht mit Frau Rollwenzel Liebkosungen aus.

Nicht selten begleitete den Dichter sein treuer trefflicher Freund Christian Otto in das kleine Wirtshaus und arbeitete in einem andern Stübchen. Abends holte dann wohl Richter’s Familie den geliebten Mann ab.

Aber auch zum Mittelpunkt seiner oft weit ausgedehnten Spaziergänge diente ihm das Häuschen. Von hier durchstreifte er Berg und Thal, Wald und Flur der lieblichen Gegend, oft ohne Hut und in einem Anzuge, der freilich den vergötterten Liebling der deutschen Intelligenz und vorzüglich der gebildeten Frauenwelt nicht vermuten ließ. Pflegte er sich doch oft auf den grünen Rasen unter einem Baume oder im Saatfeld niederzuwerfen und sich so dem gewaltigen Strome seiner Gedanken und Gefühle zu überlassen. Wie sich seine Kleider dabei standen, kümmerte ihn ganz und gar nicht. So geschah es denn, daß er eines schönen Tages mitten im Felde von einem Gensd’arm, der ihn nicht kannte, als Vagabund und Stromer arretiert und nach der Stadt zu geführt wurde. Zufällig begegnet dem sonderbaren Menschenpaar der Gouverneur der Stadt im Wagen. Der begrüßt den Dichter ehrerbietigst und läßt halten, um sich nach dem seltsamen Auszug zu erkundigen.

„Ich freue mich sehr, der Arrestant dieses vorsichtigen Herrn zu sein,“ versetzt Richter äußerst vergnügt, „und werde ins Loch gesteckt werben. Weiß ich doch nun auch, wie’s einem armen Teufel zu Mute ist, der mir nichts dir nichts aufgegriffen, transportiert und frei logiert und beköstigt wird, Alles gegen seinen ausdrücklichen Willen. Besuchen Sie mich im Loche.“

Dem Gensd’armen wird’s angst, er stottert Entschuldigungen und will ausreißen. Aber Richter hält ihn fest und drückt ihm einen Taler in die Hand. „Nehmen Sie wenigstens erst eine kleine Erkenntlichkeit für das Vergnügen, das Sie mir bereitet haben.“ –

Eines schönen Sommertags des Jahres 1816 fährt eine prächtige Equipage vor dem Rollwenzelhause vor; ein Cavalier und galonnirte Diener fragen hastig nach Herrn Legationsrat Richter. Der Dichter erscheint heute besonders derangiert und hört etwas bestürzt, daß Ihre kaiserliche Hoheit die Großfürstin Katharina Paulowna von Russland im Gasthause zur Sonne in Bayreuth auf ihn warte und ihm ihren Wagen schicke. Richter remonstrirt, daß er erst heim müsse, um sich in anständige Kleidung zu werfen; vergebens, der Kavalier der Großfürstin erklärt auf das Bestimmteste: er habe den gemessenen Befehl, Herrn Richter zu bringen, wie er ihn fände; Ihre kaiserliche Hoheit habe große Eile. Kein Weigern hilft, der Dichter wird in seinem alten Gottfried in den Wagen gepackt und in der Sonne abgeliefert.

Es war die liebenswürdige, geniale junge Wittwe des Prinzen Peter von Holstein-Oldenburg, die als Braut des Kronprinzen Wilhelm von Würtemberg, des jetzigen hoch betagten Königs, auf der Brautreise nach Stuttgart begriffen ist. Kaum in Bayreuth angekommen, sieht sie in ihrem Vorzimmer die obersten Behörden der Stadt versammelt, um sie im Namen des Königs von Baiern ehrfurchtsvoll zu begrüßen. Sie hört die Anmeldung der adligen Herren nur mit halbem Ohr.

„Ist Herr Richter da? Herr Richter soll kommen, Niemand als Herr Richter.“

Man fragt, man läuft. Herr Richter ist bei Frau Rollwenzel. Die Großfürstin giebt schnelle Befehle, der Wagen rollt fort, sie misst mit fieberhafter Ungeduld das Zimmer und vergisst die Herren ganz, die draußen in steifer Haltung des gnädigen Wortes der Zulassung harren.

Endlich! Der Dichter wird in seinem malpropren Ajustement durch die Reihen der erstaunten geputzten Herren geführt; die Fürstin reißt die Tür auf, stürmt ihm entgegen, umarmt ihn, weint vor Rührung und Wonne an seinem Halse und ruft: „Göttlichster aller Menschen, Schöpfer meiner seligsten Stunden, willkommen! willkommen!“

Sie zieht ihn ins Zimmer und auf das Sopha und plaudert mit ihm; sie sieht nicht seinen Rock, nicht sein unrasiertes Kinn; sie sieht nur seinen herrlichen Kopf, sein schönes, tiefes, wonnestrahlendes Auge, sie hört nur den Wohlkang seiner Stimme, seine geistreichen gemütlichen Worte; sie ist selig versunken in sein Anschauen und Anhören, und sie erzählt dem glücklichen Dichter von all den hohen Freuden, die er ihr geschenkt.

Die Stunden fliegen; der Kammerherr mahnt an den unerlässlichen Aufbruch. Die Großfürstin nimmt endlich des Dichters Arm und schreitet mit ihm durch die wartenden, adeligen Herren, ihren respektvollen Gruß freundlich erwidernd; sie steigt in den Wagen, sie wirft ihm noch Grüße und Dankesworte zu.

Wie freute sich Frau Rollwenzel, als er ihr dieses freundliche Erlebnis erzählte! Denn die alte Schankwirtin nahm an Allem, was den Dichter anging, den lebhaftesten Anteil. Sie gehörte ja zu ihm; sie war der Mond, der, von dieser prächtigen Geistessonne angestrahlt, das Licht empfing, das ihr nun für alle Zeiten bleiben wird. Denn das ist der wunderbare Segen des unsterblichen Genius, daß er den Menschen und den Dingen, die mit ihm in längerer Berührung sind, den leuchtenden Stempel seines Wesens für alle Zeit aufprägt, daß er gleichsam Alles in seiner Nähe mit dem Goldglanze seiner Sonnenstrahlen überleidet.

So hat Jean Paul Richter der Frau Dorothea Rollwenzel und ihrem keinen Hause die Unsterblichkeit gesichert.

In den spätern Jahren ging der Dichter gewöhnlich nur noch Nachmittags zur Rollwenzel und nur einige Male in der Woche. Wenn ihn Krankheit an seine Stadtwohnung fesselte, und in der letzten trüben Zeit, als sein Augenlicht erloschen war, kam auf seinen Wunsch die kleine alte Frau zu ihm, und es gereichte ihm zur Befriedigung, sich mit ihr in der alten muntern Weise unterhalten zu können. Sie überlebte ihn vier und ein halbes Jahr und starb 74 Jahre alt, am 22. April 1830. –

Das kleine Haus, auch jetzt noch eine häufig besuchte Schenke, ziert eine dunkle Marmortafel mit der vergoldeten Inschrift: „Rollwenzel’s Haus. Hier dichtete Jean Paul.“ Im Volksmunde heißt das Haus aber „die Rollwenzel“ oder „die Rollwenzelei“. Die Jean-Paul-Stube, jahraus, jahrein von vielen Verehrern des Dichters aus allen Landen besucht, ist so erhalten, wie er sie verlassen hat, und man bewundert mit Rührung den einfachen, genügsamen Sinn des unsterblichen Dichterfürsten. Man findet seine Büste und sein Bild in der Stube, darunter das keine Bild der Frau, deren Namen mit dem seinigen so merkwürdig verbunden ist. Ein Album nimmt die Namen der Besucher auf. Daneben liegt eine Handschrift des Dichters nebst einigen Büchern von ihm und über ihn.

Voraussichtlich werden das Rollwenzelhaus und die Jean-Paul-Stube darin Orte angemessener Feierlichleiten am hundertjährigen Geburtstag des Dichters und die Erinnerungen an ihn und seine Freundin aus dem Volke lebendig aufgefrischt werden. Die Wallfahrt nach diesen durch den großen Mann geheiligten Lokalitäten werden bis in die spätesten Zeiten fortdauern, und an Frau Rollwenzel wird Schiller’s schöner Spruch in Erfüllung gehen:

„Mit dem Philister stirbt auch sein Ruhm. Du ewige Muse
Hebst, die dich lieben, die du liebst, in Muemosyne’s Schooß.“