Zur jüdischen Volkskunde (Ein Wort an unsere Leser)

Aus: Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für modernes Judentum
Autor: Redaktion von „Ost und West, Erscheinungsjahr: 1905

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Judentum, Volkskunde, jüdische Sagen- und Märchenwelt, Volkslieder und Volksmelodien, Sitten, Bräuche, Sprichwörter, Volksglauben, Eigentümlichkeiten, Volkstrachten, Volksmedizin, Denkweise, Sprache, Volksgeist, Trauerbräuche, Hochzeitsbräuche, Volkspoesie,
Mit dem beginnenden neuen Jahrgang wird unsere Zeitschrift der jüdischen Volkskunde eine intensivere und ausgedehntere Pflege angedeihen lassen.

Unter allen Zweigen der Wissenschaft des Judentums, die in den letzten achtzig; Jahren so herrlich emporgeblüht ist, blieb die Volkskunde das verwahrloste, stiefmütterlich behandelte Aschenbrödel.

Während alte verwitterte Literaturdenkmäler, gleichviel ob von hohem oder geringem Wert, aus dem Staube der Bibliotheken ausgegraben, erforscht und ans Tageslicht gezogen worden sind, schenkte man dem, was in der Volksseele lebte und webte, kaum irgend welche Beachtung.

Nicht nur das Auge der Forscher war unausgesetzt rückwärts gewandt, auch die Dichter und Belletristen gingen mit achtlosem und geringschätzigem Blicke an den Schätzen vorüber Sinnen und Sehnen, das Trachten und Hoffen der breiten dunklen, namenlosen Volksmassen aufgehäuft hatte und das gleich einer frischen, grünenden Wiese, aber wie von Nebeln umschattet, dicht in ihrer Nahe dalag.

Und doch, welch reichliche Ausbeute, ebenso für die wissenschaftliche Erkenntnis wie für das poetische, künstlerische Schaffen böte eine systematische Durchforschung der lebenden, literarisch noch nicht petrifizierten jüdischen Sagen- und Märchenwelt, der Volkslieder und Volksmelodien, der Sitten und Bräuche, der Sprichwörter, des Volksglaubens, der volkstümlichen Vorstellungen und Anschauungen in Betreff der übersinnlichen Welt und der letzten Dinge!

Das haben die zivilisierten Nationen Europas längst eingesehen. Regierungen, gelehrte Körperschaften, Behörden haben der Volkskunde große Aufmerksamkeit und eingehende Studien gewidmet. In allen Ländern bestehen und wirken zahlreiche Vereine, die, mit reichlichen Mitteln ausgestattet, für die Erforschung der Eigentümlichkeiten jedes Volkes und Stammes, ja sogar jedes verschwindenden Volkssplitters energisch tätig sind. In engster Berührung mit den breiten Volksmassen stehend, haben die Forscher ein überaus reiches Material zu einem systematischen wissenschaftlichen Betrieb der Volkskunde herbeigeschafft und in eigens hierzu bestimmten Organen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Imponierend ist die Zahl und der Umfang der Sammlungen von Volksliedern, Melodien, Sprichwörtern, Sagen und Märchen, der Darstellungen von Volkstrachten, Volksbräuchen und Sitten, der Volksmedizin, des Volksglaubens, in denen sich die Weltanschauung, die Lebensweise und die Seele des Volkes spiegeln.

Nur wir Juden sind auf beschämende Weise in dieser Beziehung im Rückstande geblieben.

Es ist höchste Zeit, dass auch wir endlich an die Arbeit gehen.

Das erscheint um so mehr dringend geboten, als kein Volkstum der Welt so sehr der umgestaltenden, zerstörenden Wirkung der modernen Zeit und der von ihr hervorgebrachten neuen Lebensformen ausgesetzt ist, wie das jüdische.

Während politische Unterdrückung und wirtschaftliche Not Hunderttausende aus ihren uralten Heimstätten verdrängen und sie antreiben, in weiter Feme, in einer unbekannten, fremdartigen Umgebung die schwanken Zelte aufzurichten, tun auch in der alten Heimat die naturnotwendigen Umwälzungen ökonomischer und kultureller Art und die dadurch bedingte und erzwungene Anpassung an die eherne Gewalt der Umstände das ihrige, um die alten und hergebrachten Lebensformen, Überlieferungen und Anschauungen zu verdrängen, oder von Grund aus umzugestalten und ihnen ein völlig neuartiges Gepräge aufzudrücken.

Dem gesamten Inhalt der volkstümlichen Schöpfungen, jener unschätzbaren Dokumente der Phantasie, des Gemüts und der Denkweise des Volkes während einer ganzen langen Periode, droht also Vernichtung und Vergessenheit, insofern sie nicht rechtzeitig literarisch festgehalten und der wissenschaftlichen Behandlung anheimgestellt werden.

Können wir ja täglich beobachten, dass schon die Sprache der Vorfahren der nächsten Generation fremd und fremder, ja ganz unverständlich wird. Wie sollen nun die in dieser Sprache geprägten Produkte des Volksgeistes auf die Dauer vor dem Untergange bewahrt bleiben?

Wir können und dürfen aber auch nicht erwarten, dass etwa Regierungen, Behörden und gelehrte Körperschaften sich der jüdischen Volkskunde annehmen. Wir sind hierin, wie auch sonst in allem und jedem, auf uns selbst angewiesen. Aber es ist auch in erster Reihe unsere Aufgabe, ja unsere Ehrenpflicht, ein Gebot unserer nationalen Würde und unseres Selbstbewusstseins, hier selber Hand anzulegen.

Darum rufen wir hiermit den weiten, über alle von Juden bewohnten Länder verbreiteten Kreis unserer geschätzten Leser zur Arbeit auf.

Es handelt sich zunächst um das Sammeln und Herbeischaffen von Material. Und hierzu ist jeder Gebildete, der Sinn und Verständnis für die Weise und das Leben des Volkes hat, berufen.

Es handelt sich um das Beobachten und Verzeichnen der Sitten und Volksbräuche als:

Hochzeitsbräuche (Verlobung, Brautgeschenke, Hochzeit, Scheidung, Chalizah),

Sitten und Bräuche, die das Kind, dessen Geburt, Wartung, Schutz vor Dämonen und Pflege betreffen,

Trauerbräuche (letzte Stunden, Tod, Begräbnis, Trauer, Friedhof).

Um die vom religiösen Ritual vorgeschriebenen und streng beobachteten Bräuche und neben ihnen haben sich im Verlaufe der Zeit eine Menge lediglich in der Volkssitte wurzelnde Praktiken und Vorstellungen herausgebildet, deren möglichst genaue Beobachtung und Beschreibung von großer Wichtigkeit ist. Besonders in betreff der Hochzeitsbräuche wird sich alsbald, in der auf den bevorstehenden Sabbat Schirah folgenden Woche, wo viele Hochzeitsfeste gefeiert werden, unseren Lesern in allen Ländern reichlich Gelegenheit bieten, Beobachtungen anzustellen und Aufzeichnungen zu machen. Wir bitten, diese Gelegenheit nicht ungenützt vorübergehen zu lassen. Es sind ferner lokale Bräuche, die sich auf einzelne Feste, Fasttage usw. beziehen, nicht zu vernachlässigen.

Wichtig ist ferner die Volkspoesie in allen ihren Verzweigungen, also:

Sagen und Märchen. Hierbei sind die noch nicht niedergeschriebenen chassidischen Wundersagen und Erzählungen besonders zu berücksichtigen, ferner Sagen, die sich auf bekannte historische Persönlichkeiten oder historische Lokalitäten und Städte beziehen.

Volkslieder und Melodien jeglicher Art.
Sprichwörter, Redensarten, Anekdoten, Kinderreime. Kinderspiele.

Es folgt nun das dritte Gebiet der Volkskunde, nämlich das des Volksglaubens, also: Dämonenglaube, Vorstellungen über das Schicksal der Seelen Jenseits, über ihre zeitweise Wiederkehr und Herumirren auf dieser Welt. Hierher gehört auch die Volksmedizin; sympathetische Mittel (Segullôth), Wunderkuren, Hausmittel, Amulette, Zaubermittel u. dgl.

Hiermit haben wir im allgemeinen die Gebiete umschrieben, die zu durch forschen sind Bei einer regen Beteiligung der Leser werden wir spezialisierte Fragebogen veröffentlichen.

Das auf diese Weise gesammelte Material bitten wir auf die unten angegebene Adresse unserer Redaktion einzusenden.

Wir wenden uns besonders an die gebildete jüdische Jugend beiderlei Geschlechtes, die noch den Zusammenhang mit dem Volke nicht verloren hat, namentlich aber in jenen Ländern, wo die Juden am dichtesten wohnen und das jüdische Volkstum sich noch unberührt in aller Urwüchsigkeit und Frische erhalten hat, mit der herzlichen Bitte, sich an unserer Sammelarbeit aufs lebhafteste zu beteiligen.

Natürlich wäre es uns am meisten erwünscht, wenn alle Einsendungen, besonders diejenigen, die die Volkspoesie betreffen, in der jüdischen Sprache und mit hebräischen Leitern geschrieben, erfolgen würden. (Bei der Transskription in ein anderes Alphabet, geschweige bei einer Übersetzung geht unvermeidlich viel von der Originalität verloren.) Doch sind uns Beschreibungen, namentlich von Sitten und Bräuchen, wie auch Beitrage zum Volksglauben in jeder Sprache willkommen.

Die Namen der Einsender werden wir mit größter Genauigkeit in unserer Zeitschrift veröffentlichen. Wir bitten daher um genaue Unterschrift, wie auch um präzise Angabe der Örtlichkeit, aus der die Beobachtungen und Aufzeichnungen stammen.

Wir hoffen, dass unser Appell nicht ungehört verhallen wird.

      Berlin NW. 23. Altonaerstraße 36.
                        Redaktion von „Ost und West".

Die kleine Näherin

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Epstein, Jehudo - Porträt-Studie

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Israels, Josef - Allein auf der Welt (Ausschnitt)

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Israels, Josef - Der Dorfschreiber (Ausschnitt)

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Israels, Josef - Der Thoraschreiber (Ausschnitt)

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Israels, Josef - Der treue Freund (Ausschnitt)

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Israels, Josef - Die Frau am Fenster

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Israels, Josef - Die junge Mutter

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Israels, Josef - Die kranke Frau (Ausschnitt)

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Israels, Josef - Die Spinnerin (Ausschnitt)

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Israels, Josef - Die Stütze der Mutter (Ausschnitt)

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Israels, Josef - Frau am Fenster mit Kätzchen (Ausschnitt)

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Jüdische Hochzeit

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Israels, Josef - Muttersorgen

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Liebermann, Max - Kuhhirtin (1894) Ausschnitt

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Liebermann, Max - Frau am Spinnrad

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Liebermann, Max - Die Gänserupferinnen (1878)

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Lilien, Ephraim Moses - Zauberflöte

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Ury, Lesser - Bei der Toilette (1889)

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Ury, Lesser - Jerusalem (1896)

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