Groth, Claus [1819-1899] Dithmarschen

Das ganze poetische Baumaterial zu dem plattdeutschen Dichtertempel, eine kräftige, biegsame, reine, gesangreiche und melodische Sprache, ein weites Feld von poetischen Anschauungen, lag fertig da, noch fehlte aber immer der geschickte Baumeister, der Genius, der das poetische Element überall mit nie fehlendem Blicke erkannte, im äußern wie im innern Leben, in der Natur wie im Menschenwerke, im Volke wie im einzelnen Menschenherzen, in der Kühe, wie in der Leidenschaft des Gemüts; — der mit jugendkräftiger Schöpfungskraft ausgerüstet, aus dem unerschöpflichen Reichtume poetischer Stoffe, die wie ein stilles Weltmeer sich vor ihm ausbreiten, die vollendetsten Gestalten, die schönsten Formen bilden und — ein neuer Prometheus — zu selbständigem Leben erwecken konnte! Dieser Genius erstand endlich in dem Ditmarsen Claus Groth [1819-1899]. Er formte Lieder, Volksgemälde und Dorfgeschichten, die nicht bloß ihn zu Ehren brachten, sondern auch die Ehre der plattdeutschen Sprache in einem Maße retteten, wie keine andere Schrift. Und zwar war es die Mundart seines Heimatgaus, die ditmarsche, in welcher er seine bereits in sieben Auflagen verbreitete Gedichtsammlung: „Quickborn“ und seine „Vertelln“ verfasste. Der „Quickborn“ erschien, von einem Vor- und Fürwort von Harms begleitet, zuerst im Jahre 1852 in Hamburg und wurde sehr bald von Gervinus, dann aber auch von der deutschen Kritik überhaupt mit seltner Einstimmigkeit als eine sehr hervorragende poetische Erscheinung begrüßt. Schon der Titel war sehr glücklich gewählt. Das niederdeutsche Wort Quickborn bedeutet nämlich: fließende Quelle, lebendiger Brunnen, Quelle der Erquickung. Überhaupt nannten die alten Niedersachsen solche Orte, wo sie perennierende Quellen fanden, Quickborn, und noch heut zu Tage fuhren viele Dörfer im Holsteinschen und Hannoverschen diesen Namen. Für die Groth'sche Liedersammlung hat aber der Titel zugleich eine allegorische Bedeutung. Es ist kein künstlich in das Erdreich der Poesie gebohrter Brunnen, aus dem die erquickende Flut dieser Lieder quillt, sondern sie entströmt ihm fast unmittelbar, fast ohne alle künstliche Beihilfe, ohne irgend auffällige Beimischung chemischer Kulturpräparate, ohne störende Versalzung oder Versüßung durch Zusätze gesellschaftlichen oder literarischen Raffinements. Zeigen sich vielleicht auch hier und da Einflüsse der Kunstdichtung und zwar namentlich nach der sentimentalen Seite, zuweilen auch in formeller Hinsicht, so sind dieselben so unmerklich, dass es eines scharfen Blicks bedarf, um sie von der volkstümlichen Strömung in seinen Liedern zu unterscheiden. Das Wasser des Quickborn ist echtes Lebenswasser; wohin es kam, Hess es Leben aufgehen, grüne Sprossen, aus denen Bäume mit Blüten und Vögeln darauf wurden, darunter freilich auch manche taube Blüte, mancher bloße Spatz, aber auch einige schöne Blumen und einige Nachtigallen.

Hier ist der Ort, um Einiges über Claus Groths Lebensgang, so viel hiervon zur öffentlichen Kunde gelangt ist, einzuschalten. Claus Groth ist am 24. April 1819 zu Heide geboren, in dessen Nähe noch jetzt sein Vater wohnt, den er in dem gemütlichen Gedicht „Min Jehan“ redend einführt, und als Mühlenbesitzer lebt. Dieser ein zuvorkommender Mann für Jeden, stark an Geist und Körper, beschäftigte seinen Sohn oft zu Hause und auf dem Felde. Der Großvater erzählte, wenn sie heueten und Torf machten, dem Kinde die Großtaten ihrer Vorfahren, deren Schlachtfelder sie umgaben. Natürlich litten die Fortschritte des jungen Knaben in der bescheidenen Stadtschule des Ortes bei alledem ein wenig; aber sein empfängliches Gemüt wurde so mit dem Leben und den Sitten seines braven Völkchens frühzeitig vertraut und er schöpfte auf den Feldern dieses tiefe Gefühl für die Natur, welches später alle seine Schriften belebte. Er war übrigens für eine literarische Laufbahn nicht bestimmt, und als der Ruf seines Innern, sein Drang nach Wissen ihn später fortriss ohne Widerstand von Seiten seines verständigen Vaters, hatte er unerhörte Anstrengungen zu machen, um sich die nöthigen Kenntnisse zu erwerben. Unser Dichter verdankt Alles sich selbst und er hat sein wissenschaftliches Ziel beständig mit der Festigkeit und Beharrlichkeit eines wahren Norddeutschen verfolgt. Er widmete sich zunächst der Lehrerlaufbahn und begab sich zu dem Ende auf die Normalschule von Tondern in der Nähe seines Landes, durch drei Jahre eifriger Studien, die er für sich im väterlichen Hause trieb, reiflich vorbereitet. Von dort kam er nach drei neuen Jahren emsiger und begeisterter Studien als Lehrer einer Mädchenschule zum Städtchen Heide zurück. Die ihm übrig bleibende freie Zeit benutzte er, um mit größtem Eifer und Fleiß, aber leider nicht ohne Nachteil für seine leibliche Gesundheit seinem Durst nach Wissen und geistiger Vervollkommnung genug zu tun; er warf sich auf das Studium der Philosophie, der Mathematik und Naturwissenschaften und er lernte mehrere Sprachen. Der Schotte Burns wurde, wie es scheint, sein Lieblingsdichter und zum Teil auch sein Vorbild, wenigstens insofern, als er von Burns lernte, sich unmittelbar an die inneren Gemüts- und Empfindungszustände des Volks und besonders des Landvolks zu halten, aus dem er ja auch wie Burns hervorgegangen war. Auch hat Claus Groth einige Burns'sche Gedichte, z. B. „Tam o' Shanter“ in seinem Heimatdialekt nachgebildet, sich übrigens sonst sowohl in formeller Hinsicht wie in Bezug auf den Inhalt seiner Gedichte von jeder auffälligen Reminiszenz freigehalten. Im Jahre 1847 nahm er seine Entlassung, indem er den Entschluss fasste, sich für das höhere Schulfach vorzubereiten und die Universität zu Berlin zu beziehen. Diesen Plan kreuzte jedoch eine Krankheit, die ihn in Folge zu eifrigen Studierens überfiel und ihn nötigte zur Wiederherstellung seiner Gesundheit auf Femern, einer kleinen Insel der Ostsee in der Nähe der Ostküste Holsteins, seinen Aufenthalt zu nehmen. Hier blieb er sechs Jahre und hier, ganz auf seine innere Gemütswelt zurückgewiesen und stillen Naturbeobachtungen lebend, verfasste er den größten Teil seiner Gedichte, die ihn in nähere Berührung mit dem Professor Müllenhof brachten, welcher sofort das Phänomenartige in dem niederdeutschen Dichter erkannte, und es sich seitdem angelegen sein ließ, den verschiedenen Ausgaben seiner Gedichte seine Sorgfalt zu widmen. Keineswegs wieder vollkommen hergestellt, begab sich Claus Groth im August 1853 nach Kiel, um hier den Quellen literarischer Bildung näher zu sein, und zugleich die Seebäder von Düsternbrook zu brauchen, die auch ihrer wohltätigen Wirkung auf seinen körperlichen Organismus nicht verfehlten. Nachdem Claus Groth noch 1854 eine Sammlung hochdeutscher Gedichte, die nicht denselben Beifall fanden wie seine plattdeutschen, und ein Jahr später seine „Vertelln“ (Braunschweig 1855), die schon im nächsten Jahre eine zweite Auflage erlebten, der Öffentlichkeit übergeben, reiste der Dichter nach Hamburg, brach von hier zu einer großen Erholungsreise nach Süddeutschland und der Schweiz auf und weilte dann längere Zeit in Bonn, wo er eine ebenso freundliche Aufnahme und liebevolles Entgegenkommen fand wie früher in den Universitätskreisen von Kiel. Von Bonn aus wurde ihm auch, zur Anerkennung seiner Verdienste um die plattdeutsche Sprache, das Diplom eines Doktors der Philosophie verliehen. Darauf brachte Claus Groth einige Zeit in Dresden hin unter Anregungen von mancherlei Art, geeignet, den Gesichtskreis seiner Anschauungen noch zu erweitern und sein poetisches Talent vielseitiger auszubilden, gegenwärtig aber lebt er als Universitätsdozent wiederum zu Kiel.


Seine Werke machen inmitten der gleichzeitigen und älteren Produktionen den Eindruck der belebenden, ahnungsvollen Stunde, die an einem schönen Frühlingsmorgen dem Anbruche des Tages vorangeht. Aus ihnen atmet uns ein so warmes, lebensvolles und gesundes Dichterherz entgegen, wie wir es nicht oft finden. Natürlichkeit und Wahrheit der Auffassung und Darstellung, Innigkeit der Empfindung charakterisieren es besonders. Man hat Claus Groth mit Burns verglichen, und der Vergleich ist, soweit Vergleiche von Dichtern überhaupt richtig sein können, richtig. Der Dichter des Quickborn ist ein Volksdichter im eminentesten Sinne des Wortes. Er hat die Seele des niederdeutschen Volkes verstanden, wie Niemand so tief vor ihm, und er ist darum wieder von ihr verstanden worden. Die volkstümliche, kindlich einfache Anschauung, der originelle Volkshumor, der sich so innig mit den zartesten Gefühlen verbindet und der sich so einfach wahr in der plattdeutschen Sprache ausdrückt, haben dem „Quickborn“ selbst eine freundliche Aufnahme bereitet. Schnell drang er unter das Volk, nicht bloß im Ditmarsischen, sondern in allen Ländern Norddeutschlands. Neues Leben und neue Anschauungen eröffnen sich dem Leser, der nordische Geist spricht sich so wahr darin aus, weil eben die Dichter noch ganz ihrem Volke angehören und aus dem Volke schöpfen und dichten. Wie die plattdeutsche Sprache in so lustiger, origineller Weise sich ausdrückt, das empfindet Jeder, der diese Sprache noch nicht kennt, wenn er den „Quickborn“ liest. Das Plattdeutsch drückt mehr noch den Kindheitscharakter eines Volkes aus, unbekümmert um die strengen Regeln der Sprache. Wenn die hochdeutschen Dichter oft Lieder zu ihren Reimen machen, so sehen wir, wie in den plattdeutschen, meist volkstümlichen Liedern sich die Reime an die Lieder schließen; dort sind die hohen großen Gebäude der Stadt, die langen Türme und langen Straßen und steifen Menschen und steifen Gedanken, hier ist Wiese und Feld und Vieh und Menschen und Blumen und Kartoffelkraut in naturwüchsiger Frische durcheinander gemengt und ein tiefer poetischer Hauch darüber hingegossen und Alles lustig und weich:

„Wer kiekt wull int Water, un denkt ni sin Deel?
Wer kiekt wull na'n Himmel, und wünscht sik ni veel?“

Anzuerkennen ist, dass der Dichter ohne Selbstüberhebung und mit bewusster Beschränkung sich selbst die Grenzen abgesteckt, dass er selten über sein Talent hinausgegriffen hat. Dieses umfasst aber einmal die Darstellung des gemütlich idyllischen Lebensbildes, dann auch das einfache, heitere oder wehmütige Empfindungslied. Hier ist er Meister; seine ,,Priameln“ und „Rimeln“, sein „Dönjens“, „Fiv nie Leeder ton Singe“, sein allerliebstes Liedchen „Jnt Holt“ und viele andere, wovon uns das Album einige mitteilt, sind unübertrefflich schon, von unvergleichlicher Frische und Anmut. Wo er jedoch einen Augenblick diese Schranke vergessen hat, da fühlt man es deutlich; denn wenn er z. B. zur Ballade im höhern Styl greift, da fehlt es freilich, wie es bei einem Dichter von echter Weihe nicht anders möglich ist, nicht an vielen einzelnen Schönheiten, doch zur Vollendung der übrigen Gedichte erheben sich diese bei weitem nicht. Unter den poetischen Erzählungen ist besonders „Peter Kunrad“ der Vorzug zu geben.

Man hat versucht, den „Quickborn“ nicht nur ins Hochdeutsche zu übersetzen, wodurch diese Gedichte indessen von ihrer Würde und Lauterkeit verlieren und zu einer ziemlich gewöhnlichen Mattheit herabsinken mussten, sondern auch ins Englische (durch Blackley). Sogar die Franzosen, welche sich sonst das alte klägliche Vorrecht, die Deutschen zu verkennen, aus Bequemlichkeit nicht ganz nehmen lassen, bezeigten sich gegen Claus Groth anerkennend, der im Jahre 1858 begründeten Revue germanique zufolge. Diese Zeitschrift führt nämlich dem französischen Publikum den Dichter des „Quickborn“ als einen Nationaldichter vor, dessen Gedichte belebt seien von einer ursprünglichen Frische und einer naiven Anmut, die der von Hebels Gedichten gleiche.

Doch häufen wir nicht alle Kränze der Ehre und des Ruhmes auf Claus Groth allein, übersehen wir nicht eine Reihe anderer mitstrebender Dichter, die vielleicht ihm an poetischem Talente nachstehen, die aber in den eigentlichen Charakter des plattdeutschen Idioms mehr oder weniger wohl eben so tief eingedrungen und denselben eben so treu und rein wiedergegeben haben, als der vielbewunderte Verfasser des Quickborn.