Dialektdichtung in Deutschland

Seitdem die Einkehr ins deutsche Leben das Stichwort der deutschen Literatur geworden, hat dieselbe vielfach auch die Dialekte in ihr Bereich gezogen und die Eigentümlichkeiten derselben verwertet. Besonders hat sich die Lyrik viel auf diesem Felde versucht und oft mit großem Erfolg. Man erfuhr, dass hinterm Berge auch Leute wohnen, dass über die Grenze des Hochdeutschen hinaus, dass im Volke auch Poesie, Gefühl und Humor in beachtenswertem Maße zu finden seien, und man tat zu gleicher Zeit sehr belehrende Blicke in das Wesen des Sprachgeistes und den Charakter der Stämme, welche durch die Dialekte bezeichnet sind. Vornehmlich ist es das gegenwärtige Jahrhundert und zwar seit dem großen Erfolge der „Alemannischen Gedichte“ von Hebel, wo die Dialektdichtung in Deutschland eine immer größere Ausdehnung gewonnen. Hebels Dichtungen spiegelten die Heiterkeit des Himmels, die Fruchtbarkeit der Erde, die Mannigfaltigkeit der Gegend, die Behaglichkeit, Geschwätzigkeit und Darstellungsgabe seines Stammes, seine neckische Sprachweise und sein Talent zum Scherz in so liebenswerter Weise ab, dass alle Welt daran erfreut war und zahlreiche Volksdichter mit mehr oder weniger Anlage in anderen Landschaften es ihm nachzutun versuchten. So wurde die Straßburger Mundart von Arnold, die Nürnberger von Grübel *), die schlesische von Holtei, die westlicher von Schandein, die südbairische von Kobell und Pangkofer, mehrere österreichische Mundarten wurden von Castelli, Kaltenbrunner, Klesheim und Stelzhamer, die pfälzische von Nadler, die schweizerische vom Schweizer Maler Usteri*), zum Teil mit nicht geringem Glück für die Behandlung poetischer, besonders lyrischer Stoffe benutzt. Diese Dialektpoesie hat ohne Zweifel ihren unbestreitbaren Wert, indem sie uns von dem deutschen Volksgemüt in seinen einfachsten Urelementen und in seinen verschiedenen Nuancen je nach Gau und Stamm wenigstens eine annähernde Vorstellung geben und daher gewissermaßen als ethnographische Supplemente zur allseitigen Kenntnis des deutschen Volks zu betrachten sind. Außerdem haben sie auch wesentlich dazu beigetragen, die Kenntnis von dem Reichtum und der Mannigfaltigkeit der deutschen Mundarten zu erweitern, worüber namentlich Firmenichs große Sammlung eine interessante und lehrreiche Übersicht gewährt. Mit ihrem ethnographischen Nutzen verbindet sich also, von ihrem verhältnismäßig poetischen Werth ganz abgesehen, auch ein linguistischer und grammatischer.

*) Grübel verhält sich zu Hebel wie Armut zu Reichtum, reizendes Landleben zu eingeschnürtem Stadtleben, wie Natur zu Stube, paradiesisches Feld- und Gartenleben zu dürrem Philistertum. Bei Hebel ist der freie Sternenhimmel über uns aufgespannt, vor uns blühet das gesegnete Wiesenland, tobt das lebendige Meer, waltet die Allmutter Natur; bei Grübel umdunstet uns die dicke Straßenluft und umschließt uns das unreinliche Zimmer.


**) Bald Claudius nachahmend, dann Voss und Hebel zum Vorbild nehmend, macht er seine illustrierten Schweizeridyllen durch die dabei gesetzten ausdrucksvollen Zeichnungen, woran seine Dichtungen erzählend sich festhalten, sehr belebt.


Nur das Plattdeutsche, obschon es als in sich geschlossenes, wenig nüanciertes Ganzes sein viel umfangreicheres Ländergebiet beherrscht, schien für die Literatur und Poesie erstorben, eine bloße Bauernsprache, gut genug, sich über die Zucht guter Milchkühe, über den Kohlgarten und andere niedere Alltäglichkeiten des dörflichen Lebens darin zu verständigen. Die Musen in dieser Sprache sprechen zu lassen, war erst der neuesten Zeit vorbehalten. Dass die Hansa sich ihrer bedient, das deutsche Recht in sie gekleidet, dass sie Cimbrien für sich erobert und bis in das ferne Russland vorgedrungen, war längst vergessen. Man wusste nur, dass Till Eulenspiegel bei seinen Späßen sie gebraucht hatte. Sie, die einst in der Literatur so hervorragende Bedeutung hatte, in der allbekannte gelehrte, wie populäre Werke geschrieben waren, lag zwei Jahrhunderte lang fast völlig brach und wie in verzaubertem Schlafe. Es gab keine niederdeutsche Literatur mehr, und was sich den Kreisen allgemeiner deutscher Bildung beirechnete, schämte sich wohl gar, wenn schon von Geburt ihr nahestehend, seiner Muttersprache.

Aber man kann sagen, dass ein besonders günstiges Schicksal über ihr gewacht hat, sonst hätte sie bei der großen Nichtachtung und der Geringschätzung, welche sie Jahrhunderte lang erfuhr, zu Grunde gehen müssen. Die Schlafende ist wieder erwacht. Und nicht erst seit Claus Groths Quickborn, wie man öfter fälschlich hört, ist diese neue Regsamkeit, die alte, ehrwürdige Muttersprache, das Niederdeutsche oder Platt zu halten, zu festigen, zu verjüngen, erwacht, nicht aus seinem Jungbrunnen brauchte erst getrunken zu werden, im Gegenteil dieser selber ist nur ein Zeichen des erwachten Lebens, seine Lieder selbst sind die Kinder der verjüngten Liebe — soll ich sagen des Volkes oder der Gebildeten? — zu der schönen Aschenbrödel, die so lange in unserer Nähe weilte, dass man ob der Gewohnheit ihrer Reize nicht achtete, bis endlich ein Irgendwer sie wieder entdeckte, und Alles über die eigene Blindheit staunte. Nun aber sind rührige Anbeter aufgestanden zur Pflege dieser herrlichen Volkssprache, welche sich immer noch ihre Gewandtheit, Traulichkeit, Naivität, die ihr etwas Kindliches, Gemütliches verleiht, und eine jugendliche Frische bewahrt hat, welche das später entstandene Hochdeutsche längst zum großen Teil eingebüßt hat. Sie besitzt einen ihr ureigenen ungezählten Reichtum von individuellen Wörtern, welche die Gesamtsprache so wenig wiederzugeben vermag, als ihre eigenen Eigentümlichkeiten die Fremdsprache. Aber auch einen unerschöpflichen Vorrat plastischer, kerniger Formen und Begriffe schließt sie ein, eine Menge sinnlich bedeutender, wohlklingender Worte, Worte von einem, zwei Buchstaben, kurzer, leichter Silben, Elemente, durch glückliche Konstruktionen und lebhafte Formen zu einem Stil zusammengedrängt, der vor unserer Büchersprache große Vorzüge hat. Das Plattdeutsch hat sogar einen nicht gering anzuschlagenden Vorzug selbst vor dem Schriftdeutschen voraus; es ist weicher, flüssiger, volltönender, weniger mit Zischlauten und harten Konsonanten überladen, und eignet sich, sowie es jetzt ist, freilich wenig zum Hochpathetischen, Oratorischen, dafür ist es aber auch in seiner kernigen Einfachheit, Schlichtheit und Klarheit der Phrase dem Schwulst, dem gezierten und geschraubten Ausdruck gänzlich unzugänglich; und wenn das Plattdeutsch sich auch nicht für erhabene Reflexionen eignet, so doch um so mehr für den treffenden Ausdruck der auf gesundem Menschenverstand beruhenden praktischen Moral, für die Spruchdichtung, für den Ausdruck tiefer und inniger, dabei aber einfach natürlicher Empfindungen, und ganz vorzüglich für alle Arten der sowohl derben als schalkhaften Komik und Humoristik, mehr vielleicht als das Hochdeutsche. Blicken wir indessen zurück auf die neuangebrochene Ära des Plattdeutschen, und verfolgen dessen Fortschritte auf dem Sprach- und Literaturgebiete, so müssen wir die Mannigfaltigkeit der Arbeiten, die Rührigkeit der wissenschaftlichen Forschungen und den unermüdlichen Eifer, die plattdeutsche Literatur durch fördernde Pflege wieder zu Ehren zu bringen, rühmend anerkennen. Es traten mehr oder weniger umfangreiche und schwierige Arbeiten in Bezug auf die Sammlungen des niederdeutschen Sprachschatzes hervor, teils in Sammlungen von Märchen und Sagen, von Sprichwörtern und sprichwörtlichen Redensarten, die sich in Niedersachsen vorzugsweise reich vorfinden, namentlich durch E. Höfer „Wie das Volk spricht“ und den Pseudonym K. Eichwald, — beides Werkchen, die so recht dem Volke abgelauscht haben, wie es seinen Stimmungen in sentenziöser Weise Luft macht, — teils in Glossarien zu bestimmten Werken, teils in Idiotiken für abgegrenzte Gegenden, wohin z. B. die zwei verdienstlichen Arbeiten Stürembergs für das Ostfriesische und Schambachs Göttingisch-Grubenhagensches Idiotikon zu rechnen ist. Beide haben dadurch eine eigentümliche Wichtigkeit, dass sie an bedrohten Sprachgrenzen entstanden sind, und so den heutigen Dialekt für die spätere Nachwelt aufbewahren; auf das Ostfriesisch-Niedersächsische, welches die friesische Sprache verdrängte, übt nämlich die Tochter der Besiegten, das Holländische, nochentschiedenen Einfluss; im Göttingischen aber geht das Platt mit seinen dortigen harten Formen ebenso entschieden seinem Aussterben entgegen. An einem Wörterbuche der altmärkischen Mundart hatte es auch fast ganz gefehlt; der einzige Versuch in den „Denkwürdigkeiten der Mark Brandenburg“ (1797, 4. 1227—1240), konnte weder auf Wissenschaftlichkeit noch auf Vollständigkeit Anspruch machen. Es war daher ein dankenswertes Unternehmen J. F. Danneils, den Wortvorrat eines nicht unwichtigen plattdeutschen Dialektes in einem Wörterbuche zu sammeln. Sein Hauptaugenmerk richtet der Verfasser darauf, die feinen Unterscheidungen und Schattierungen der Wortbegriffe darzulegen, indem er gelegentlich volkstümliche Keime und Bruchstücke aus Volksliedern mitteilt, die den Reiz und Wert seines Buches erhöhen. Auf viel weiteren Umfang ist dagegen des hochverdienten Greifswalder Historikers Kosegarten Riesenwerk berechnet, auf eine Darstellung des gesamten Niederdeutschen von den ältesten Quellen bis auf heute und in allen seinen diabetischen Sprachfärbungen. Alle niedersächsischen Schriftwerke und die noch lebende Sprache sind seine Quellen. Das Unternehmen ist kühn und gewaltig, mit einem großen Aufwande von Gelehrsamkeit, dessen Vollendung und Gelingen für die Wissenschaft ein herrlicher Gewinn wäre.