Das Niederdeutsche in Prosa und Poesie

Nicht so rüstig, wie am lexikalischen Aufbau der Sprache wird am grammatischen gezimmert, der eigentlich nur gelegentlich in den Wörterbüchern selbst gefördert wird. Von selbständigen Versuchen existieren nur wenige, und diese sind teils absichtlich ganz provinziell gehalten, oder können doch die Provinz nicht verleugnen. Erwähnenswert sind die plattdeutschen Grammatiken von Ritter, Julius Wiggers und A. Marahrens. Die arge Verwilderung der schriftlos und zuchtlos gewordenen Sprache macht auch eine Universalgrammatik der niederdeutschen Formenlehre und einer allgemein gleichen Orthographie, welche immer noch eine willkürliche, vielfach wechselnde ist, zu einer äußerst schwierigen Aufgabe.

Gehen alle diese Bestrebungen auf ein Erhalten und ein Erklären des niederdeutschen Sprachschatzes hinaus, das nur indirekt zu einer Verjüngung und Neubelebung führen kann, so ist dieses Letztere dagegen der ausgesprochene Zweck der schriftstellerischen Anwendung des Niederdeutschen in Prosa und Poesie, und wie weit in dieser Beziehung das Streben nach einer Wiedergeburt des Plattdeutschen sich erhoben hat, möge uns nun die Betrachtung der auf dem Gebiete der plattdeutschen Literatur hervorgegangenen Erscheinungen zeigen. Insofern sich jedoch das Feld der plattdeutschen Poesie überhaupt einer lebhafteren Bebauung und aufmerksameren Pflege zu erfreuen gehabt, so will ich im Anschluss an eine demnächst zu veröffentlichende Mustersammlung plattdeutscher Dichtungen vornehmlich deren hervorragende Denkmäler näher beleuchten.


Seitdem bereits 1621 die letzte niederdeutsche Bibel erschienen war — die erste zu Köln, ohne Angabe des Druckjahrs und des Druckers gedruckt, kann vermutlich in das Jahr 1480 versetzt werden, wo auch die erste niederdeutsche Ausgabe des Sachsenspiegels erschien — verschwand das Plattdeutsche nach und nach fast ganz aus den gedruckten Büchern, und dass sie durch Luthers Kirchenverbesserung hauptsächlich aus den öffentlichen Vorträgen und Schriften verbannt worden ist, bedarf wohl keines Beweises. Luthers kleine Aufsätze über wichtige Lehren, die als wohlfeile Flugschriften in die Hände des gemeinen Mannes kamen und sämtlich hochdeutsch abgefasst waren, besonders sein kleiner Katechismus, der in sehr kurzer Zeit in alle europäischen Sprachen übersetzt wurde, hauptsächlich seine Übersetzung der Bibel und endlich die Augsburgische Konfession trugen das meiste dazu bei, dass die hochdeutsche Sprache den Sieg erhielt. Bis dahin waren noch niederdeutsche Schriften, Gesang-, Gebet-, geistliche Lieder- und Historienbücher häufig, nachher wurden sie seltener. Außer einigen neuen Ausgaben und Erläuterungen alter Rechtsbücher, Chroniken und Urkundensammlungen wären als plattdeutsche Produkte des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts etwa noch erwähnenswert der Reineke Fuchs in einigen Bearbeitungen, W. Laurembergs vier Scherzgedichte, J. Sackmanns Predigten. In Bezug auf den Holsteiner W. Lauremberg († 1659) ist zu erwähnen, dass er der erste Schöpfer der Satire gewesen, welche im Munde und Herzen des Volkes gepflegt, in ihrer künstlerischen Wiedergeburt auch aus dessen Schoße hervorging und deren Geburtsstätte eben Norddeutschland war. Lauremberg, in seiner ganzen Weise noch unberührt von der antik - gelehrten Verskunst der schlesischen Dichterschule, auch ohne alle Lust an der freien unvolkstümlichen Verskünstelei, noch ein Mann des Volkes, schrieb im Volksdialekte und gehört mit seinem handgreiflichen Volksspaße, mit seinem derben Mutterwitze, mit seiner naiven, munteren, oft anstößigen platten Sprache dem alten Geschlechte und einer früheren Welt an. Seine Scherzgedichte in ,,Nedderdütsch gerymet durch Hans Wilmsen, L. Rost (oder in einer andern Ausgabe: De nye poleerte Utiopische Bokes Büdel),“ — nämlich: „Von izigen Wandel un Maneeren der Minschen; — von allemodischer Klederdracht; — von vermengder Sprake; — von allemodischen Rymen“ — worin er die Anmaßung und Bettelei der neuen Poeten verspottete, überhaupt die Nichtigkeit der Moden, das Abgeschmackte der Ausländerei abmalte, — erwarben dem heitern und volksfreundlichen Manne den Ruhm eines tüchtigen Volksatirikers.

Was J. Sackmann anbetrifft, den ich weiter oben bereits berührt, so steht er minder geist-, sinn- und bilderreich, aber auch minder gesucht und weniger mit künstlichen Antithesen spielend, als der bekannte katholische Kanzelredner Abraham a Sancta Clara, diesem wie der schalkhafte plane, mit einfachgesundem Menschenverstande begabte niederdeutsche Eulenspiegel dem phantasiereichen Süddeutschen und Katholiken gegenüber. Die Originalität und Drolligkeit seiner Kanzelvorträge, die neuerdings bereits in siebenter Auflage veröffentlicht worden, bewirkten, dass viele aus der Stadt Hannover Sonntags nach Limmer kamen, um Sackmann zu hören. In kernigen Ausdrücken gab er in kräftigen, plattdeutschen Worten seiner Gemeinde Ratschläge, wie sie sich im Familien- und im allgemeinen weltlichen Leben verhalten sollte. So ermahnte er sie oft daran, weißes, ungefärbtes Tuch zu kaufen, weil dieses stärker als das gefärbte und nicht in der Farbe verbrannt sei: „Lud köbt wit Wand (Wand, Tuch), wit Wand hölt Stand, wit Wand is nich in de Farf ferbränt.“

Erst dem Ende des vorigen und unserm Jahrhundert war es vorbehalten, wieder einige poetische Talente reifen zu lassen. Zu jener erfreulichen Zeitperiode, wo man sich unmittelbar an das Volk selbst wendete, wo man populäre Dichtungen für dasselbe schuf, und in den Geist, in das Herz, in die Sprache der untersten Klassen hinabzusteigen suchte, um durch solche Lieder das Volk ganz für sich zu gewinnen, führte das Bestreben der Dichter auch vornehmlich zur Bearbeitung der einzelnen deutschen Mundarten und Dialekte, welche eben seit der Reformation und seit der Herrschaft des Neuhochdeutschen — zum großen Nachteile des Volkes — fast gänzlich aus der Poesie und der Schriftsprache zurückgedrängt waren. Der urdeutsche J. H. Voss führte den Reigen an. Er ist gewissermaßen der erste Schriftsteller, den wir als das vorbereitende Zeichen dieses Zeitalters des Wiederaufblühens und der Reife unserer plattdeutschen Literatur anzusehen haben. Er suchte zuerst entschieden eine Bedeutung für die untern Volksklassen zu gewinnen. Deswegen sprach und dichtete er im Volksdialekte, und zwar in dem ihm als Mecklenburger zunächst liegenden Niederdeutschen, jenes Motto zu diesen seinen Gedichten so trefflich wählend:

„Wird doch dorische Sprache dem Dorier, denk' ich, erlaubt sein!“

Er arbeitete in seinen Gedichten auf Hebung und Befreiung der gedrückten Volksklassen. Trug doch der begeisterte Jüngling in seinem Feuereifer dem edlen Markgrafen von Baden seine Dichtkunst an, und empfahl sich diesem Fürsten, der den Bauer als die Grundlage des Landeswohles betrachtete, als Landpoeten, der die Sitten des Volkes bessern, die Freuden eines unschuldigen Volksgesanges ausbreiten solle. Durch einige plattdeutsche, hübsche Idyllen, wie: „De Winterawend; de Geldhapers“, in denen er einen burlesken Ton anschlug, gab er wohl eine Ahnung davon, was mit dieser Sprache für poetische Aufgaben auszurichten, wie dieses Plattdeutsch ein sehr handliches Werkzeug, und dass es mit Recht zu bedauern sei, dass es in seiner Entwicklung stecken geblieben ist, wie eine schöne Blume, der es an dauernder rationeller Pflege, Behandlung und Schonung fehlte, während die vielleicht minder schöne Schwesterblume in Folge besserer Behandlung über sie emporwuchs, durch ihre reiche Blätterentfaltung sie in Schatten stellte, durch ihre üppige Wurzelentwickelung ihr Raum und Erdreich benahm und dadurch zu ihrer Verkümmerung beitrug.