Zur Frage der Auswanderung von Frauen und Mädchen

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1921
Autor: Hugo Semper, Erscheinungsjahr: 1921

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Auswanderung, Auswanderer, Mädchenhandel, Mädchenhändler, Schwindelagenturen, Bestechung, Korruption, Zwischendeckspassagiere, Wohltätigkeitsvereine, Missstände,
Deutschland herrscht zurzeit ein Auswanderungsfieber, von dem auch in großer Anzahl Frauen und Mädchen ergriffen sind. Viele in der Heimat und in der Etappe, in der allein fünfundzwanzigtausend tätig gewesen sind, vor nicht geringen Aufgaben gestanden, so dass sie sich nun schwer in dem früheren Kreis ihrer Tätigkeit zurechtfinden. Viele sind auch von den zurückgekehrten Männern aus ihrem Arbeitsfeld wieder verdrängt worden. Wenn es in einzelnen Fällen noch zu keinen übereilten Entschlüssen geführt hat, so liegt das wohl daran, dass viele nicht wissen, wohin sie sich wenden sollen.

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In den Jahrzehnten vor dem Krieg wanderten häufig Familien aus, allmählich aber immer mehr Einzelpersonen. Bei der Familienauswanderung überwog das weibliche, bei der Einzelauswanderung das männliche Geschlecht. So betrug beispielsweise 1910 die Familienauswanderung 35 und die Einzelauswanderung 65 Prozent. Im Durchschnitt waren ungefähr 40 Prozent der Auswandernden weiblichen Geschlechts. Fast alle Auslandsberichte erzählen von der unschätzbaren Bedeutung der deutschen Frau für die Erhaltung des Deutschtums im Ausland. Fehlt sie, dann ist schon die nächste Generation dem Deutschtum verloren. Ein weitverzweigtes Netz von deutschen Vereinen und Organisationen zur Fürsorge für weibliche Auswanderer ist vom Krieg zerstört. Solange die dadurch entstandene Schutzlosigkeit nicht beseitigt ist, ist jeder alleinstehenden Frau entschieden von der Auswanderung abzuraten.

Aber auch andere Hindernisse erschweren die Überseeauswanderung: kostet doch beispielsweise schon die Fahrt Rotterdam—Buenos Aires, die früher für 160 Mark möglich war, 4012 Mark und Genua—Buenos Aires 2411 Mark. Von allen Seiten wird gemahnt, deutsche Frauen und Mädchen sollten sich nicht den Gefahren des Zwischendecks aussetzen, da es ein Wunder wäre, wenn sie diese Fahrt ohne Schaden an Leib und Seele zurücklegten. Da schon jetzt die Welttonnage viel höher ist als vor dem Krieg, ist es zum mindesten ratsam, die unweigerlich kommende Herabsetzung der Schifffahrtspreise abzuwarten, die eine würdigere Unterkunft für eine Überseereise gestatten wird. Außerdem beachtet man nicht genug, dass die Teuerung sich über die ganze Welt erstreckt. In dem großen Getreideexportland Argentinien sind die Lebensmittelpreise auf das Doppelte bis Dreifache gestiegen. Bedenkt man weiterhin, dass es nur wenigen vergönnt sein wird, sofort in der neuen Heimat Erwerb zu finden, dass sie also auf das mitgebrachte und durch die Umwechslung kläglich zusammengeschmolzene Kapital monatelang angewiesen sind, so kommt man zu dem Ergebnis, dass man, so merkwürdig es klingt, in Deutschland doch noch billiger als im Ausland lebt.

In dem früher beliebtesten Auswanderungsland, den Vereinigten Staaten von Nordamerika, fiel es schon vor 1914 schwer, eine neue Existenz zu gründen. Oft war es weiblichen Einzelauswanderern nur möglich, Stellungen als Dienstmädchen und Köchinnen zu erlangen. Während des Kriegs setzte dann die maßlos und eifrig betriebene Deutschenhetze ein, wodurch noch jetzt das Leben in den Staaten und vor allem in den östlichen Gebieten vergiftet ist. Wie mancher deutsche Landsmann möchte jetzt in die Heimat zurückkehren, wenn ihn nicht der Mangel an Überfahrtsmöglichkeit, unsere verworrenen Zustände oder seine eigenen Familienverhältnisse daran hinderten.

Nach dem Einwanderungsgesetz von 1917 dürfen keine Personen landen, von denen befürchtet wird, dass sie der allgemeinen Unterstützung zur Last fallen könnten, wie zum Beispiel allein reisende schwangere Frauen oder Frauen mit Lindern unter zehn Jahren, deren Vater nicht in den Staatenlebt. Ein neues Einwanderungsverbot betrifft alle Deutschen, die keine Angehörigen in diesem Land besitzen.

In Kanada wie auch in sämtlichen anderen englischen Kolonien und Dominien ist Deutschen die Einwanderung auf Jahre hinausverboten, und das revolutionsdurchwühlte Mexiko aufzusuchen, ist fürs erste nicht ratsam.

Über die Stellung des deutschen Mädchens in dem größtenteils romanischen Südamerika, wo die sittlichen Anschauungen wesentlich andere sind als in Deutschland, schreibt Frau Niessen-Deiters: „Von Mexiko bis Chile und Argentinien wiederholt sich das gleiche: die Frau tritt nicht an die Öffentlichkeit, die „Dame“ arbeitet nicht; Frauenarbeit ist höchstens ein Notbehelf fürs Proletariat. Wer aber jemals beobachtet hat, wie hartnäckig eine solche Anschauung, von oben ausgehend, auch solche Kreise tyrannisiert, von denen die Lebensnotwendigkeit eigentlich ganz anderes verlangt, der begreift, dass damit die soziale Stellung auch für die arbeitende Ausländerin eine vollkommen andere wird als in Nordamerika.“

In Brasilien, wo das Deutschtum hauptsächlich in den Südstaaten in geschlossenen Bauernkolonien zu finden ist, schließt sich die Tätigkeit der Frau an die des Kolonisten an. Dieses Land will es nun aber mit allen Mitteln erzwingen, dass die Deutschen in der eigenen Bevölkerungsmasse aufgesogen werden. Man verhindert deshalb einerseits ohne Ausnahme jede neuere geschlossene Deutschsiedlung, verspricht aber anderseits unseren Landsleuten beachtliche Vorteile, wenn sie Brasilianerinnen heiraten.

In Argentinien werden alleinreisende Frauen nicht eingelassen, wenn sie nicht genügende Existenzmittel aufweisen können. Der Deutsche Volksbund und der Deutsche Frauenverein, der in Buenos Aires ein Heim unterhält, bemühen sich eifrig um die ankommenden Landsleute. Leider ist der deutsche Ruf durch agitatorisch-bolschewistisch auftretende Arbeiter geschmälert worden, was umso mehr zu bedauern ist, als man für die ankommenden Deutschen Kreditorganisationen schaffen wollte.

In Paraguay, das an sich für einige Siedlungen in Betracht kommt, ist durch einen früheren Krieg ein bedeutender Frauenüberschuss entstanden, der sich im Erwerbsleben sehr bemerkbar macht.

In Afrika kommt nur die alte Kolonie Deutsch-Südwest in Frage, wo der Deutsche unter günstigeren Bedingungen als in unseren anderen früheren Kolonien lebt. Zur Bewahrung des deutschen Charakters wird hoffentlich bald wieder eine Auswanderung deutscher Frauen möglich sein.

Wie sich die Verhältnisse in der zerstückelten Türkei und ihren früheren Landesteilen entwickeln werden, ist schwer vorauszusagen, vorderhand dürften sich keine Möglichkeiten zur Einwanderung bieten, wenn auch dort das letzte Wort in dieser Beziehung noch nicht gesprochen ist.

Außer England, Frankreich und Belgien scheiden in Europa Spanien, Rumänien, Bulgarien und Jugoslawien völlig für unsere Betrachtungen aus. In Deutsch-Österreich sind die Verhältnisse derart trostlos, dass wohl kaum ein Einwanderer sein Brot dort finden wird, wenn er nicht kapitalkräftig ist und verhindern hilft, dass deutscher Grund und Boden in die Hände von Amerikanern, Italienern oder Franzosen gerät.

Skandinavien wird nur in vereinzelten Fällen Verdienstmöglichkeiten gewähren können. Aus Elsass-Lothringen bringt man deutsche Bauernmädchen in großer Zahl als Köchinnen nach Paris.

Die Gefahr, dass gutgläubige Mädchen durch harmlos klingende Anzeigen oder Anwerbungen dazu verführt werden, im Ausland ohne vorherige Prüfung Stellung anzunehmen und dort der Prostitution in die Hände fallen, ist groß. Ein vielbegangener Weg ist folgender: Ein elegant auftretender Herr gibt einem Mädchen das Heiratsversprechen oder lässt sich sogar von einem falschen Geistlichen mit ihr trauen, um sie dann im Ausland für tausend Mark zu verkaufen. Vor 1914 gab es weitverzweigte Organisationen dieses unsauberen Gewerbes, die unter sich Ringe geschlossen hatten. Der Mädchenhandelsprozess 1913 in Beuthen deckte himmelschreiende Zustände auf. Zeugen mussten abreisen, weil sie nach Aussage des Staatsanwalts sich berechtigterweise nicht mehr vor dem Stahl des Mädchenhändlers sicher fühlen konnten. Beamte waren bestochen, belastende Akten verschwanden. Wieviel größer sind nun derartige Missstände im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten. Nach dem damaligen Bericht der „Frankfurter Zeitung“ waren 1909 alle in Betracht kommenden Stellen vom Polizisten bis zum Polizeipräsidenten und Staatssenator bestochen, wofür jährlich achtundzwanzig Millionen aufgewandt wurden. Unter dem Namen von Wohltätigkeitsvereinen verbargen sich die größten Mädchenhändlerringe! Große „Märkte“ waren Rio, Montevideo und Buenos Aires, wo vor 1914 unter den Verführten jede sechste eine Deutsche gewesen sein soll. Im Jahre 1913 wurden achttausend Mädchenhändler aus Argentinien ausgewiesen, die nach Kongresspolen eilten, um dort neue Beute zu ergattern. Große Schifffahrtslinien nahmen skrupellos außer den vor dem Heeresdienst flüchtenden Leuten aus Österreich-Ungarn auch die Mädchen als Zwischendeckspassagiere nicht nur auf, sondern ließen auch noch durch ihre Agenten diese anwerben; steigen doch die Gewinne mit der Zahl der Zwischendeckspassagiere.

Durch den Friedenschluss sind wir unserer Handelsflotte beraubt, aber englische, amerikanische und japanische Schiffe werden die Linien fahren, und in nicht allzu ferner Zeit wird man wieder Umschau nach neuen Opfern halten. Auch im besetzten Gebiet hat diese Tätigkeit eingesetzt; bei der Deutschenflucht aus den von den Polen besetzten Gebieten wird die Linie Danzig—Neu York große Gefahren für die Mädchen bringen. Denken wir daran, dass wir Deutschen während des Krieges von Engländern und Franzosen als Vieh bezeichnet und fast noch schlimmer behandelt wurden, denken wir ferner an die soziale Not, die in Deutschland herrscht und durch einen unerhörten Steuerdruck noch steigen wird, so können wir die Notwendigkeit von entschiedenen Abwehrmaßregeln gegen den Mädchenhandel ermessen.

Es kann deshalb nur auf das dringendste empfohlen werden, dass sich alle Auswanderer, besonders aber Frauen und Mädchen, ehe sie sich zu dem folgenschweren Schritt entschließen, über die Vertrauenswürdigkeit angebotener Auslandstellungen an zuverlässiger Stelle Gewissheit verschaffen. Bisher sind in den Auswanderungsberatungen für Frauen außer dem „Reichswanderungsamt“, dem „Evangelischen Hauptverein für deutsche Ansiedler und Auswanderer in Witzenhausen“, dem „Caritasverband in Freiburg“ für die katholische Auswandererfürsorge und ihren Nebenstellen auch das „Deutsche Auslandsinstitut in Stuttgart“ tätig. Holt sich die Auswanderungslustige jedoch an anderer Stelle Auskunft, so sollte sie sich wenigstens auf alle Fälle beim Reichswanderungsamt erkundigen, ob dieses die einwandfreie Zuverlässigkeit der Beratung bestätigen kann, denn mehr als fünfhundert Schwindelagenturen sind in Deutschland zur Zeit darauf aus, denen, die nie alle werden, das Geld abzunehmen.

Deutschlands wirtschaftliche und politische Verhältnisse werden sich hoffentlich nach und nach bessern. Manche Schätze liegen noch ungehoben im Boden, und zu der Arbeit, die Deutschland wieder in die Höhe bringen soll, sind alle Kräfte daheim nötig. Sollte trotzdem noch überschüssige Kraft vorhanden sein, so dürften in späterer Zeit Auswandernde wieder unter besseren Bedingungen in die neue Heimat ziehen können, als es vorläufig der Fall ist.

Auswanderer auf dem Wege zur Abfahrtstelle.
Auswanderer vor der Abfahrtshalle der Hamburg-Amerika-Linie.
Straße in den Auswandererhallen der Hamburg-Amerika-Linie.
Zwischendeckspassagiere begeben sich über die Laufplanke an Bord.
Zwischendeckspassagiere auf dem Vorderdeck eines Auswandererschiffes.

Auswanderung, Auswanderer auf dem Weg zur Abfahrtstelle

Auswanderung, Auswanderer auf dem Weg zur Abfahrtstelle

Auswanderung, Auswanderer vor der Abfahrtshalle der Hamburg-Amerika-Linie

Auswanderung, Auswanderer vor der Abfahrtshalle der Hamburg-Amerika-Linie

Auswanderung, Straße in den Auswandererhallen der Hamburg-Amerika-Linie

Auswanderung, Straße in den Auswandererhallen der Hamburg-Amerika-Linie

Auswanderung, Zwischendeckspassagiere begeben sich über die Laufplanken an Bord

Auswanderung, Zwischendeckspassagiere begeben sich über die Laufplanken an Bord

Auswanderung, Zwischendeckspassagiere auf dem Vorderdeck eines Auswanderer-Schiffes

Auswanderung, Zwischendeckspassagiere auf dem Vorderdeck eines Auswanderer-Schiffes