Zum vierhundertfünfzigsten Geburtstage Albrecht Dürers. Mit vier Bildern.

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1921
Autor: Markus Seibert., Erscheinungsjahr: 1921

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Kunst, Künstler, Malerei, Mittelalter, Albrecht Dürer 1471-1528, Meister, Begabung,
Im Jahre 1471 am St. Prudentientag in der Kreuzwoche an einem Dienstag ward dem Goldschmied Dürer in Nürnberg ein Sohn geboren, dem er seinen Vornamen Albrecht gab. Der Vater erzog den Knaben für sein eigenes Handwerk, ließ ihn dann aber halb wider Willen Maler werden, da der fünfzehnjährige Albrecht dies sehnlichst wünschte. Zu Ostern 1490 ging Dürer nach vollendeter Lehre zum ersten Mal auf die Wanderschaft und blieb der Heimat vier Jahre fern. Dem Wunsch des Vaters gehorsam, kam er 1494 zurück und heiratete. Früh zum Meister geworden, reifte er nun zu dem großen Menschen und Künstler heran, den seine Zeitgenossen ehrend den „Fürsten der Maler“ nannten. In der Natur dieses groß angelegten Mannes lag der nie rastende Trieb zur Vollkommenheit all seiner Fähigkeiten. Er nahm an allem teil, was seine Zeit geistig und sittlich bewegte, und ein wahrhaft unstillbarer Wissensdrang ließ ihn bis zu seinem Ende niemals ruhen. Nach seinem eigenen Bekenntnis vermochte er sich nie genug zu tun. Nach Dürers 1528 erfolgtem Tode schrieb Philipp Melanchthon: Dürer sei „ein Weiser zu nennen, an dem die künstlerische Begabung, so stark sie auch gewesen, doch nur das Wenigste seiner Vorzüge sei“.

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In Dürer, wie bei allen wahrhaft Großen, deckt sich die höchste Vollendung des Könnens mit der menschlichen Bedeutung, ihn beseelte nicht nur der bloße Trieb nach Erkenntnis um ihrer selbst willen, in ihm lebte der faustische, hohe sittliche Trieb zur inneren Durchbildung des ganzen Menschen. So konnte vier Jahre nach seinem Abscheiden der gelehrte Joachim Camerarius von Dürer sagen: „Und hatte schon seine Hand als Zeichner und Maler ihre ganze Reife erlangt, so ersieht man an seinen schriftlichen Werken nur umso deutlicher den hohen Geist, der sie lenkte. . . . Obwohl er so hoch stand, strebte er in seinem großen und erhabenen Geiste immer noch nach Höherem. . . . Wenn irgend etwas in diesem Manne war, was einem Fehler ähnlich sah, so war es einzig der unendliche Fleiß und die oft bis zur Ungerechtigkeit an sich geübte Selbstkritik.“ Von Dürer stammen die schönen Worte: „Aus Begierde könnten wir gerne viel, denn es ist uns aus Natur gegeben, dass wir gern alle Dinge wüssten, dadurch zu erkennen die Wahrheit aller Dinge.“ Dass ihn der Wissenstrieb nicht allein um eigener Ziele willen zur Tätigkeit spornte, bezeugen viele seiner Worte: „Wenn es möglich wäre, so wollt‘ ich gern alles das, was ich kann, klar an den Tag bringen den geschickten Jungen zulieb.“ Er hoffte und glaubte, dass in den Künsten die Deutschen „mit der Zeit keiner anderen Nation den Preis vor ihnen lassen“. In tiefer Bescheidenheit will er durchaus nicht haben, dass man ihm durchweg überall folgen solle. Jeder möge mit seinem Werk einen besseren Weg zeigen, denn es zeuge von geringer Vernunft, wenn man zu allen Zeiten einem anderen nachfolge. Aus „eigener Geschicklichkeit“ müsse man Besseres erstreben, denn in allen Meinungen sei Irrung; und so gut „wir ein Werk machten, noch möchte es allweg besser gemacht werden“. Groß und schlicht ist auch Dürers Bekenntnis: Wenn er durch seine Werke etwas entzündet habe und andere, dadurch ermuntert, es nach ihm besser machen würden, „so mag mit der Zeit ein Feuer daraus geschürt werden, dass durch die ganze Welt leuchtet“. Dass man nach Jahrhunderten Dürers noch gedenken kann, dass uns seine Werke noch lebendig sind, bezeugt, dass er mit seinem Schaffen ein „Feuer angezündet“ hat, das noch leuchtet und wärmt. Dürers Geist trieb ihn auch zu Forschungen über Geometrie, Perspektive, Proportionslehre und Mathematik. Die Geschichte der Mathematik gedenkt seiner ehrenvoll; ein eigenes Werk beschäftigt sich mit den Nachweisen Dürers einzelner Verdienste um diese Wissenschaft. Seine theoretischen Arbeiten über Festungsbau sind grundlegend; er eilte darin seiner Zeit so weit voraus, dass man erst spät seinen Ideen zu folgen vermochte. Und auch in diesem Falle beschäftigten ihn außer der in kriegerischen Zeiten nötigen Sicherung der Grenzen „um des Friedens willen“ wahrhaft soziale Gedanken, wenn er in seinem Buch über Befestigung schreibt: „Haben die Herrn viel armer Leut, die man sonst mit Almosen erhalten muss, und gäben sie ihnen Arbeit, so brauchen sie nit betteln und werden um so weniger zu Aufruhr bewegt.“ Immer war es der ganze Mensch, der Künstler und der um Erkenntnis Ringende, den Herz und Verstand gleicherweise zu seinem Tun bestimmten. Das sind Züge, woran man allein den Edlen erkennt, der sich als dienendes Glied im Volke fühlt und danach handelt.

Manches an Dürers künstlerischen Schöpfungen, die seinen Zeitgenossen in jedem Zuge durchaus verständlich gewesen und darum hoch geschäht worden sind, muten uns heute rätselhaft an. Wir fühlen mehr, dass eine besondere Bedeutung darin liegt, als dass sie uns klar erfassbar wird. Größer als in Worten hat Dürer das Ringen seiner faustisch strebenden Natur in dem Kupferstich Zum Ausdruck gebracht, den er 1514 geschaffen und Melancholie betitelt hat. Wie Faust, verzweifelnd an der menschlichen Begrenztheit aller höheren Einsicht in die Natur, erschüttert bekennt: „Ich sehe, dass wir nichts wissen können, das will mir schier das Herz verbrennen“, so empfand auch Dürer in seinem steten Ringen um Erkenntnis schmerzlich die dem Menschen gezogenen Grenzen. Mitten unter Geräten und Hilfsmitteln, die der wissenschaftlichen Forschung dienen, sitzt grübelnd in sich versunken der Genius der Menschheit. Es ist die trübe, herbe Stunde innerer Sammlung, die zur Einsicht führt, dass die letzten Geheimnisse der Natur kein erschaffener Geist durchdringt. Dem Faust Goethes gleicht er, der schmerzlich von der Natur bekennt: „Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag, das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.“ Gemeint ist mit diesen Worten, was wir als experimentelle Forschung bezeichnen.

Der Genius auf Dürers Blatt sinnt und grübelt, müde den Kopf auf den Arm gestützt; seine Linke hält ein Messwerkzeug, den Zirkel. Ihm nahe, kauert das müdgehetzte Windspiel; Erasmus von Rotterdam brauchte als Gleichnis für die Flinkheit und Schnelle der menschlichen Gedanken den Windhund, und alle gebildeten Zeitgenossen Dürers verstanden dies Gleichnis so. Gleich dem sitzenden Genius ruht nun auch Vermenschliche Gedanke. Die Gestalt aber ist beflügelt; der ewig suchende, nimmer rastende Menschengeist vermag ja alle Räume, alle Fernen zu durchfliegen; wenn die Stunde des trüben Sinnens vorüber ist, wird die Gestalt ihre starken Schwingen wieder ausbreiten und sich erheben, um Höchstes und Fernstes forschend zu durcheilen. Nie ruht ja der Wissensdrang in menschlichen Hirnen; um das edle sinnende Haupt sprosst verheißend hoffnungsvolles Grün; die Blüten daran werden zu neuen Früchten reifen. Wie Dürer mit Worten sagt, es sei der menschlichen Natur gegeben, gern alles zu wissen und die Wahrheit der Dinge zu erkennen, so gestaltet er diesen Gedanken hier. Er verzichtet nicht auf Erkenntnis, sondern will sich stets strebend darum bemühen. Der ruhend sinnende Genius hält nur Einkehr in sich selbst.

Auf einer Studie Zur Melancholie schrieb Dürer auf das Blatt: Schlüssel bedeutet Gewalt, der Beutel Reichtum. Man darf dafür Macht und Vermögen im geistigen Sinne setzen. Und an dem Genius gewahren wir die beiden Sinnbilder; dem Menschen ist gegeben, durch Wissen Macht über die Natur zu erringen, wenn er alle Hilfsmittel der Forschung zu nützen sucht. Maß, Zahl und Gewicht sind große Offenbarer; Mathematik und Geometrie sind hohe Hilfsmittel der Erkenntnis. Darauf deuten im Bilde: der Zirkel, die Sanduhr, Wage, Kugel, der stereometrische Körper. Im Schmelztiegel, der auf offenem Feuer steht, stellt die alchimistische Scheidekunst ihre Fragen an die Natur der Dinge. Droht auch im Sinne von Dürers Zeit am dunklen Himmel ein unheilkündender, Weltuntergang anzeigender Komet, so spannt sich doch über aller augenblicklichen Verdüsterung verheißungsvoll das uralte Sinnbild des Friedens und der Ewigkeit der Welt, der Regenbogen.

Das in der Dämmerung flatternde Wesen, das auf fledermausartigen Flügeln das Wort „Melencolia“ trägt, entschwebt; die bange Stunde der geistigen Ermattung wird vorübergehen. Aber Dürer sagt noch Tieferes. Der Trieb nach Wissen ist nicht dauernd gehemmt. Und nie ruht es nur in einem menschlichen Hirn, und auch nicht in einer Zeit. So wie er hofft, dass andere nach ihm weiterkommen und ein Feuer entzünden werden, das einst „durch die ganze Welt leuchtet“, so deutet neben der großen beschwingten Gestalt der junge, gleichfalls geflügelte Genius, der, auf einem Täfelchen schreibend, sich weiter um Wissen und Einsicht müht, verheißungsvoll in die Zukunft. Über dem „magischen Quadrat", dessen Deutung zu weit führen würde, hängt das „Zügenglöcklein“, das geläutet wird, wenn jemand mit den letzten Zügen seine Seele verhaucht und stirbt. Nochmals wiederholt Dürer damit den großen, tröstlichen Gedanken: nie, wenn auch der einzelne aus der Welt scheiden muss, wird das Ringen um Erkenntnis mit ihm dahingehen. In der Menschheit als Ganzem wirken die Kräfte weiter.

Kaum ein anderer aus Dürers Tagen hat mit Worten so ergreifend und verheißungsvoll zu sagen vermocht, was er bildlich zum Ausdruck brachte. Und die Zeitgenossen verstanden diese „Sprache“ bis zum letzten Zuge. Enträtselt man die alten Sinnbilder, dann vermögen auch wir nachzuempfinden, welche tiefe Gedanken Hirn und Herz des großen Mannes bewegten. Die Melancholie ist das Hohelied des menschlichen Geistesringens um Erkenntnis.

Der faustisch ringende Dürer dichtete in einem anderen Gebilde das stille Glück des inneren Friedens eines gläubig in Gott ruhenden Gemütes, das die „Welt“ überwunden hat: „Hieronymus im Gehäuse“.

Im helldurchsonnten, heimeligen Gemach, abgeschlossen von der Außenwelt, sitzt still und gesammelt vor seinem Schreibpult ein alter Mann. Vor ihm auf dem im Sonnenschein glänzenden Tisch steht das Kreuz mit dem Erlöser. Friedlich schlummern die Tiere, ein Löwe und ein Hündchen, am Boden; am Fensterbrett liegt, als leise Mahnung an die Vergänglichkeit, der blanke Schädel. Für den in sich sicher im Glauben Ruhenden ist der Tod kein Schreckbild. Leise verrinnt der Sand in der Uhr an der Wand. Nur wenige Bücher finden sich in dem traulichen Raum; auf dem Tisch des Mannes liegt kein Buch. Was er schreibt, dringt allein aus seinem Innersten. Der Einsame hält stille Zwiesprache mit sich selber; aus seinem Gemüt schöpft er im tiefen Herzensfrieden aus Erinnerungen des Lebens, das ihm keine sinnliche Unruhe mehr zu verdüstern vermag; von der Decke herab hängt ein ausgereister Kürbis, der davon erzählt. Dürer teilte die Auffassung, der Megenberg in seinem „Buch der Natur“ in den Worten Ausdruck gab: „Als ich noch jung war und blühte, öffnete ich gleich dem Kürbis meine Blüten in der Nacht.“ Das will sagen: die Üppigkeit des Weltlebens und seiner sinnlichen Lockungen lag mir im Wesen. Die Zeit der Reife, der Ruhe, des Seelenfriedens ist nun gekommen; oben an der Decke hängt die Frucht, fernliegt und versunken alle Unrast des lockenden Blutes. Vorbei! Vorüber und abgetan! Aber doch nicht verleugnet. In der sonnigen Stille ist kein Raum für dumpfe, wettfeindliche, asketisch düstere, lebensfeindliche Gedanken. Lichter Schein der ewigen Sonne erfüllt das Gemach, bis ins Gebälk der Decke freundlichen Schimmer breitend. Nie ist der tiefe Frieden eines Herzens schöner gestaltet worden.

Im Jahre 1513 schuf Dürer das Blatt mit dem Titel: „Ritter, Tod und Teufel.“ Wie er in der „Melancholie“ das Ringen um wissenschaftliche Erkenntnis schilderte und im „Hieronymus“ die Erlösung der Seele von äußerer Unrast des Lebens, so reitet mannhaft in verhaltener Kraft selbstbewusst und entschlossen als Mann der Tat der Ritter willensstark seinen Weg tapfer und aufrecht durch alle Fährnisse der Welt. Weder links noch rechts blickend, achtet er weder auf den Tod, der ihn mit vorgehaltenem Stundenglas an das Ende mahnt, noch auf den fratzenhaften Höllengeist, der ihn zu schrecken sucht. Dieses Werk Dürers sollte uns heute in schwerer Not ein geistiger Helfer sein. Unser Volk sollte nicht abirren vom rauen Weg, der nach einem alten Wort zu den Sternen führt. Wie Dürers Ritter wollen wir uns nicht durch böse und vernichtende Gewalten niederringen lassen. Das Blatt vom Ritter, Tod und Teufel bedarf keiner Enträtselung; es ist uns nach mehr als vier Jahrhunderten noch immer ohne weiteres verständlich.

In diesen Tagen, wie zu allen Zeiten, die zur stillen Einkehr und Selbstbesinnung mahnen, kann uns Dürer einer unserer größten Nothelfer sein, wenn wir ihm im Geiste und nicht nur äußerlich nahezukommen suchen. Wie Goethe bekennt, hat er ein „festes Leben in Männlichkeit, innerer Kraft und Ständigkeit geführt“. Er hing an seiner Heimat; in Venedig und Antwerpen bot man ihm hohe Jahrgelder, die er ausschlug. Er glaubte an seines Volkes Zukunft und ist den Besten von uns im Herzen immer nahe gewesen.

Selbstbildnis Albrecht Dürers.
Melancholie. Von Albrecht Dürer.
Hieronymus im Gehäuse. Von Albrecht Dürer.
Ritter, Tod und Teufel. Von Albrecht Dürer.

Dürer, Selbstbildnis Dürers

Dürer, Selbstbildnis Dürers

Dürer, Melancholie

Dürer, Melancholie

Dürer, Hieronymus im Gehäuse

Dürer, Hieronymus im Gehäuse

Dürer, Ritter, Tod und Teufel

Dürer, Ritter, Tod und Teufel