Suggerierter Glaube und die Suggestion durch Größe

Wir würden dem Wesen der Suggestion nicht voll gerecht werden, wenn wir nicht noch einen kurzen Blick auf den Einfluss werfen würden, den die Autorität Einzelner auf die Stellungnahme und die Urteilsfähigkeit ihrer Mitmenschen auszuüben vermag. Wir sahen, wie vor wenigen Jahrhunderten alle Welt an Hexerei und Zauberei glaubte, obwohl nur die allerwenigsten Menschen durch autosuggestive Halluzinationen die Hexen bei ihrer Arbeit oder auf ihrem Flug durch die Lüfte wirklich selbst gesehen hatten. Der blinde Glauben an die Richtigkeit irgend einer beliebigen, wunderbaren und Aufsehen erregenden Aussage kennzeichnete aber nicht nur das Altertum (z. B. die römische Überlieferung von der plötzlichen Himmelfahrt des wahrscheinlich von Priestern heimlich ermordeten Romulus) und das Mittelalter (der Glaube des französischen Volkes an die Realität der Visionen der Jeanne d'Arc und die göttliche Mission des Mädchens von Orleans), sondern er spukt in unendlich mannigfacher Gestalt auch noch in unsern Tagen umher und stiftet bald Unheil, bald Segen — immer aber Unwahrheit und Irrtum. Selbst Beispiele von riesenhaften Massensuggestionen, die an die Autosuggestion einer einzelnen Person anknüpfen, ereignen sich noch heutzutage. Pilgern doch auch im 20. Jahrhundert alljährlich im Durchschnitt gegen 200.000 Pilger zur Wunderquelle von Lourdes, getragen von der ehrlichen Überzeugung, dass hier wirklich am 11. Februar 1858 und in den folgenden Tagen und Wochen noch sechszehnmal die Mutter Gottes der 14jährigen, hysterischen Bernadotte Soubirouse leibhaftig erschienen und dass die aus der Grotte hervorsprudelnde Quelle wirklich erst während einer jener Erscheinungen der Jungfrau Maria dem Erdboden entsprungen sei. Nicht alle Wallfahrtsorte erlangen zwar die gleiche Berühmtheit, aber die Vorgeschichte der plötzlich als Wallfahrtsort ausgegebenen Ortschaften ist fast immer dieselbe. Irgend ein hysterisches Menschenkind hat einmal eine Vision gehabt oder hat sich gar von einer harmlosen Illusion täuschen lassen; sofort gaukelt ihm seine Phantasie eine himmlische Offenbarung vor, und die von Wunderbedürfnis angekränkelte katholische Bevölkerung der Umgegend — denn nur in katholischen Gegenden ereignen sich derartige Vorkommnisse — wallfahrtet alsbald in Scharen zu dem Ort der angeblichen Wundererscheinung und verehrt das göttliche Walten.

Die suggestive Macht des Autoritätsglaubens hat ja überhaupt von jeher seitens der katholischen Kirche die konsequenteste und raffinierteste Ausnutzung erfahren, die denkbar war: durch die Forderung des unbedingten, besinnungslosen Kadaverglaubens an jede noch so widersinnige Lehre, die irrende Nachfolger Christi ergrübelten und als Dogma aufzustellen für gut befanden. Durch die geschickte Fiktion, dass jede Skepsis, jedes Nachdenken über die von der kirchlichen Obrigkeit gepredigten Gedanken und Dogmen eine schwere Sünde, eine Auflehnung wider die göttliche Majestät seien, schuf sich grade der katholische Klerus seine beispiellose, unbegrenzte Macht über die Seelen und über die Leiber! Die priesterlichen und geistlichen Machthaber aller Völker und Zeiten vertraten den Grundsatz, dass der wahrhaft fromme und religiöse Mensch blindlings glauben müsse, was seine Obrigkeit von ihm verlangte, glauben ohne Widerspruch, ohne Zweifel, ohne Nachdenken — nirgends aber wurde mit solchem Eifer, mit solcher Inbrunst auf die unbedingte Befolgung dieser Vorschrift geachtet als in der katholischen Kirche. Naiv, wie das Kind an die Realität seiner Märchen und Phantasiegebilde, so soll auch der rechte Sohn jeder Kirche und Sekte kritiklos glauben, was eine kindliche Weltauffassung der Vorzeit und grübelnde Interpretationen irrender Menschen ihm in ehrlicher Überzeugung als göttliche Wahrheit und göttlichen Willen suggerieren, und jeder Zweifel soll Gotteslästerung und fluchwürdige Sünde sein. Noch heut sind wir in allen kirchlichen Gemeinschaften nichts weniger als frei von solcher Hochschätzung und Anpreisung des beschränkten Gläubigenverstandes, und die geistig Blinden werden noch immer Gottes liebste Kinder geheißen.


Mit Recht sagt Le Bon, dass die Masse leichter als der Einzelne suggerierbar sei. Der Einzelne lacht mich vielleicht aus, wenn ich ihm sage, dass mir ein göttliches Wesen erschienen sei und zu mir gesprochen habe; wenn er jedoch sieht, dass viele andre Menschen mir blindlings glauben, so stutzt er, wird in seinem Urteil unsicher und skeptisch, und in den meisten Fällen wird er schließlich gleichfalls der Suggestion unterliegen. Man denke nur an den König in Fuldas „Talisman“, der ebenso wie sein ganzes Volk der geschickten Suggestion mehr glaubt als dem Augenschein, nur weil die andern auch daran glauben, und der sich so fest verrennt in seinen phantastischen Irrwahn, dass er selbst dann, als das ganze Lügengebäude mit einem Schlage zusammenbricht, sich noch selbst belügt:

„Ich trage ein Kleid, ich trag' ein herrlich Kleid!

Ich seh's, ich seh's, ich ganz allein von allen!“

Der Glaube an jede Art von Autorität, in welcher Form sie auch an uns herantritt, steckt uns Menschen eben tief im Blute, und nur wenige sind gegen den Zauber gefeit und beugen sich nicht dem wirklichen oder erheuchelten Glauben der Menge, wie jene Rita: „Der König hat ja gar nichts an!“

Eine Behauptung mag noch so töricht und widersinnig sein — hat sie nur erst ein paar Gläubige gefunden (und das ist bei einiger Geschicklichkeit nicht schwer), so schwillt ihre Bedeutung lawinengleich weiter und weiter an. Kluge Betrüger und Schwindler wissen wohl zu rechnen mit der suggestiven Macht der großen Zahl. Alle die Erfinder der unzähligen, schon oben erwähnten, „einzig unfehlbaren“ Heilmittel und viele auch ehrlich gemeinte Reklamen fügen deshalb ihren Anpreisungen die sattsam bekannten „Anerkennungsschreiben“ bei und verstärken deren Wirkung, wenn es irgend angängig ist, noch durch das weitere Suggestivmittel klingender Namen und Titel.

Die kluge katholische Kirche, die die Schwächen der Menschen stets so wunderbar gekannt und ausgenutzt hat, hat ihre Macht nicht zum mindesten dadurch errichtet und gesichert, dass sie ihre Feste, Umzüge und Prozessionen stets in großartigstem Maßstabe betrieb und durch die Dimensionen ihrer Bauwerke und durch Pracht und Prunk aller Art die Menschen verblüffte und verschüchterte. Selbst der Freidenker, der moderne Verstandesmensch, kann sich der suggestiven Macht nicht völlig erwehren, die eine in Andacht versunkene, große Menge oder die Riesengröße vieler katholischer Dome auf ihn ausübt. Man höre selbst nur einmal im Konzert den machtvollen Chor des „Altniederländischen Dankgebetes“ von einer großen Sängerschar gesungen, und man wird die suggestive Wirkung der Massenandacht und Massenbegeisterung gewaltig spüren. Jede enthusiasmierte, von einem Geist beseelte Menge wirkt mit wuchtiger Oberzeugungskraft auf den Beschauer, und wer sich gar als ein Glied jener Menge fühlt, der wird durch die Überzeugungsglut der Andern oft zum Märtyrer für die allgemeine Idee — oder zum Narren!

Wie atmete Frankreich auf, als nach dem ersten Sturze Napoleons I. die Bourbonen wieder auf den Thron gelangt waren und die zwar ruhmvolle, aber furchtbar opferreiche Zeit unaufhörlicher Kriege endlich geendet hatte! Die Bevölkerung war wieder gut royalistisch gesinnt und freute sich der Segnungen des Friedens. Und als die Nachricht kam, Napoleon sei von Elba geflohen und werde nach Frankreich zurückkehren, da zogen ihm die Truppen zahlreich entgegen, um den für vogelfrei erklärten Rebellen gefangen zu nehmen oder zu vernichten. Aber dann gingen sie Mann für Mann zu ihm über, wenn sie in seine Nähe kamen und der ganze suggestive Zauber seines überragenden Geistes und Ruhmes wieder wirkte. Es wurde die Erinnerung wach an die unter seiner Führung in drei Kontinenten gewonnenen Schlachten, an all die toten Kameraden, „die im tiefen Norden erstarrt in Schnee und Eis, und die in Welschland liegen, wo ihnen die Erde zu heiß, und die der Nilschlamm decket und der arabische Sand“; und es wurde den alten Grenadieren warm ums Herz, und sie fühlten, als sie ihren Helden von Angesicht wiedersahen, dass ihm ihr Herz gehörte, ihm ihre Waffen, ihre Fahnen, ihre Tapferkeit und ihr Leben — und ohne einen Schwertstreich zu tun, eroberte der Einzelne binnen 20 Tagen das ganze ruhmreiche Frankreich, und wo er erschien, begrüßte ihn einstimmig der begeisterte Jubelruf: „Vive l'Empereur!“. Die Geschichte kennt kein zweites, gleich schlagendes Beispiel für die hinreißende Macht der Suggestion, die ein gewaltiger Geist auf Hunderttausende auszuüben vermag!

Am häufigsten äußert sich die suggestive Macht des großen Namens in der Gestalt des sogenannten Autoritätsglaubens. Jeder Autoritätsglaube ist blind, Verstand und Logik sprechen dabei nicht mit; er überredet statt zu überzeugen und erstickt jede Regung von Skepsis, wie das kirchliche Dogma den Zweifelgeist. Es wäre eine eigne, dankbare Aufgabe, die Bedeutung der Suggestion und des kritiklosen Autoritätsglaubens, der so oft auch Unwürdigen geschenkt wird, im öffentlichen Leben zu untersuchen — hier ist nicht der Platz dazu. Nur ein besonders charakteristisches Beispiel der neuesten Zeit veranschauliche seine Macht selbst über hochgebildete Leute und Fachmänner. Als im Jahre 1890 zu vorzeitig die ersten, erzwungenermaßen veröffentlichten Berichte Robert Kochs über sein Tuberkulin erschienen und die öffentliche Meinung der weitesten Kreise erregten, da genügte die Autorität Kochs, um zahlreiche tüchtige Arzte Wirkungen des neuen Mittels an ihren Kranken beobachten zu lassen, die man in jener ersten Zeit vom Tuberkulin zwar allgemein erhoffte, die es aber tatsächlich niemals hat ausüben können. Das Vertrauen in die Autorität des vortrefflichen Gelehrten, verbündet mit der Hoffnung, endlich eine der furchtbarsten Geißeln des Menschengeschlechts erfolgreich bekämpfen zu können, genügten, um die objektive Beobachtung und Kritik zu ertöten und ruhigen, gewissenhaften Forschem den Blick durch eine rosige Brille zu trüben.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zu Wunder und Wissenschaft