Schlussbetrachtung über die Suggestion

Wer die ganze Bedeutung der Fremdsuggestion und der Autosuggestion in ihrem vollen Umfange erkannt hat, im Wach- und Schlafzustand, im gesunden und im kranken Leben, der wird vielen Problemen des Okkultismus und besonders des Spiritismus mit ganz andern Augen und viel reiferer Kritik entgegentreten, als der, der unvorbereitet an ein Studium der okkulten und mystischen Erscheinungen geht. Die Hauptwirkung der spiritistischen, mediumistischen und okkulten Wunderberichte und -Zeugnisse liegt in der ungeheuren Menge des Materials, das als ein Beweis für die Richtigkeit der aufgestellten Behauptungen beigebracht werden kann und zum großen Teil von durchaus überzeugten, ehrenwerten, über jeden Verdacht des bewussten Betruges erhabenen Beobachtern herrührt.

Wieder ist es da die Suggestion der Masse und der großen Zahl, die in allen diesen riesenhaften Materialsammlungen wirkt und sich äußert, denn der skeptische Leser und Zuhörer sagt sich schließlich: eine so große Zahl von ehrlichen Augenzeugen kann sich nicht von Anfang an bis zu Ende getäuscht haben — kurz und gut: „Es muss etwas daran sein!“ Und wer nicht auf das gründlichste vertraut ist mit der völligen Unzuverlässigkeit des Augenscheines und der Schilderung gehabter Erlebnisse einerseits, mit den Kunststücken der Taschenspieler und Betrüger andrerseits, der wird gar zu leicht, zumal wenn er sich, als Laie in derartigen schwierigen Gebieten, persönlich durch den Augenschein von der Wirklichkeit oder Irrtümlichkeit der behaupteten Geisterproduktionen überzeugen will, durch das Gesehene und Gehörte verleitet werden, die spiritistischen Folgerungen als die zwar nicht natürlichste, aber doch nächstliegende und wahrscheinlichste Erklärung rundweg anzunehmen.


Wer jedoch die „Psychologie der Aussage“ und die „Psychologie der Beobachtungsfehler“ gründlich kennt, der wird in jener Legion von unbeanstandeten Wunderberichten und Wunderzeugnissen doch an allen Ecken und Enden den Pferdefuss der Suggestion verspüren und zu dem trübseligen Schluß kommen, dass die Zuverlässigkeit der Zeugenaussagen zur Stärke der Suggestion in einem umgekehrten Verhältnis steht. Nicht mit Unrecht sprachen wir aber in den vorstehenden Abschnitten gelegentlich von der Allmacht der Suggestion — dann würde also an Zuverlässigkeit von Zeugenaussagen so gut wie nichts übrigbleiben!

Ein Urteil über den Wert und Unwert der spiritistischen und okkulten Phänomene steht jedenfalls nur demjenigen zu, der sich gründlichst vertraut gemacht mit der Tragweite der verschiedenen Fehlerquellen, mit den unabsichtlichen und absichtlichen Täuschungen, welche allüberall sowohl die fremden Aussagen wie die eignen Beobachtungen fälschen und ihre Zuverlässigkeit untergraben. Es maßt sich heut jeder Laie ein Urteil über alle diese ungemein schwierigen Fragen an. Niemandem fällt es ein, als Laie ein Urteil abzugeben über komplizierte juristische, theologische, philologische, technische Fragen — über die unsichersten Gebiete der ohnehin äußerst schwierigen wissenschaftlichen Psychologie jedoch traut sich Jeder ein Urteil zu! Spiritisten wie Antispiritisten, Mystiker wie Materialisten pflegen dabei gleich viel zu sündigen. Es kann daher nicht nachdrücklich genug gefordert werden, die Fachwissenschaft von den okkulten Phänomenen und den spiritistischen Vorgängen den Fachmännern zu überlassen, die die nötigen psychologischen Vorkenntnisse zur Bewertung einer so schwierigen Materie besitzen.

Das vorstehende Kapitel über Suggestion sollte dem Laien zeigen, wie schwierig es ist, ein sichres Urteil auch nur über die eine allerwichtigste Fehlerquelle der Beobachtung und Beschreibung zu gewinnen. Die folgenden Ausführungen nun dürften sowohl den Spiritisten wie den Antispiritisten unter den Laien gleich viele Überraschungen gewähren und sie beide warnen, nicht ohne weiteres als unbestreitbare Tatsache auszugeben, was ein jeder, vom Standpunkte seiner subjektiven Weltanschauung aus, am liebsten als Tatsache erwiesen wissen möchte. Denn nur vorurteilsloses Prüfen kann zur Erkenntnis der Wahrheit führen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zu Wunder und Wissenschaft