Die Suggestion in pathologischen Bewusstseinsstörungen

Träume kommen überall da vor, wo das normale Bewusstsein, das Tagesbewusstsein, gestört ist und daher auch seine Attribute Verstand, Logik und Kritik beschränkt oder ausgeschaltet sind. Der Geist arbeitet dann weiter, die Gedanken und Erinnerungen wirbeln durcheinander; frei waltet die Phantasie und gaukelt den Sinnen Eindrücke aller Art vor, in Form von Träumen, an deren Wirklichkeit willig geglaubt wird, denn der Zweifel ist ein Kind des kritisch tätigen Verstandes und schlummert wie dieser selber. Die Träume des Morphinisten und Opiumessers und alle übrigen narkotischen Träume, wie die Halluzinationen des Delirium tremens, der Paralyse, der Hysterie, der Hypnose, jeder Ekstase und schließlich, wie wir sehen werden, auch die Träume und Halluzinationen der Trancemedien — sie sind untereinander völlig wesensgleich, sie sind ebenfalls identisch mit den Träumen des normalen Schlafes und nur hinsichtlich ihrer Intensität, also graduell untereinander verschieden. Will man jene als pathologisch bezeichnen, so muss man auch die gewöhnlichen Träume so nennen, will man für diese den nicht-pathologischen Charakter aufrechterhalten, so darf man ihn jenen auch nicht absprechen und kann nur für die begleitenden Umstände mit Recht den Ausdruck „pathologisch“ gebrauchen.

Die Phantasie ist die unbeschränkte Herrscherin im weiten Gebiet der Träume; die Suggestion dagegen regt wieder die Phantasie an, und aus diesem Grunde erklärt sich die hohe Bedeutung der Suggestion für alle Formen der pathologischen Bewusstseinsstörungen und in erster Linie für den hypnotischen Schlaf, dessen Hauptunterscheidungsmerkmal vom gewöhnlichen Schlaf ja grade in seiner ungewöhnlich hoch gesteigerten Suggestibilität liegt. Im normalen Schlaf ist die Wirkung der Suggestionen begrenzt: nur Gehör und Gefühl vermögen im allgemeinen die suggestiv wirkenden Eindrücke der Außenwelt zu vermitteln, und jeder allzu starke oder erregende Reiz wird mit Erwachen quittiert. Im hypnotischen Schlaf, in der Hysterie und im Trancezustand ist jeder Sinn der Suggestion zugänglich, kann beliebig verfeinert, abgestumpft, getäuscht und ausgeschaltet werden, und ein spontanes Erwachen infolge allzu heftiger oder erregender Suggestionen ist zwar nicht ausgeschlossen, aber doch erheblich schwieriger und seltener als im gewöhnlichen Schlaf. Überall äußert sich die Suggestion in Form von Träumen und Halluzinationen, denn alle Träume sind Halluzinationen, da der Träumende die geträumten Erlebnisse wirklich wahrzunehmen glaubt und von ihrer Wirklichkeit überzeugt ist. Es wäre ein müßiger Streit um Worte, wollte man darüber debattieren, ob der Hypnotisierte, dem ich suggeriert habe, dass ein Regiment Soldaten mit klingendem Spiel vorüberzieht, träumt oder halluziniert, wenn er mir zugesteht, dass er die Musik deutlich höre. Und wenn ein Mensch, der in normalem Schlaf liegt, überhaupt in der Lage wäre, während des Träumens über seine Wahrnehmungen zu berichten, würde er ebenso unfehlbar, wie der Hypnotisierte, den Eindruck eines Halluzinierenden machen. Darin liegt aber ein Beweis, dass die Traumbilder jeder Art als richtige Halluzinationen aufgefasst werden müssen.



Die Halluzinationen nun, die sich in den verschiedenen Schlafzuständen (gewöhnlichem Schlaf, hypnotischem Schlaf, narkotischer Betäubung, Trancezustand) einstellen, sind von denen, die im Wachzustand bei gewissen Bewusstseinsstörungen (Paralyse, Delirium, Hysterie, Ekstase) vorkommen, in keiner Weise irgendwie verschieden. Wie sehr die Halluzinationen des Wachzustandes den typischen Charakter von Träumen tragen können, geht am besten aus folgendem Bericht Janets hervor: Er besuchte eines Tages eine seiner hysterischen Patientinnen, mit der er Experimente zu machen pflegte. Er fand sie aber diesmal zu Versuchen nicht aufgelegt und sagte daher zu ihr: „Gut, so wollen wir heute faulenzen; damit ich aber nicht vergebens gekommen bin, musst du mir eine Geschichte erzählen.“ „Was sind das für Dummheiten! Ich weiß keine. Sie wollen doch wohl nicht, dass ich Ihnen die Geschichte von Ali Baba erzählen soll?“ „Warum denn nicht? Ich höre zu.“ Halb lachend, halb ärgerlich fing sie an die Geschichte zu erzählen. . . . Allmählich redete sie sich warm, es kam Zug in die Erzählung, und sie beachtete mich nicht mehr. Plötzlich stieß sie einen Schrei aus und hielt inne, indem sie die Augen nach einer Ecke des Zimmers richtete; nun sprach sie ganz leise vor sich selber: „Dort sind sie, alle Räuber! — In großen Säcken.“ Sie erzählte nun nicht mehr, sie sah; sie verfolgte die ganze Szene, die sich vor ihren Augen entrollte, und murmelte von Zeit zu Zeit ihre Bemerkungen dazu wie ein Kind: „Jetzt wird man sie alle töten — es ist gut.“ Die Geschichte von Ali Baba war mir nie so interessant vorgekommen.“

Auch die Wirkung der Suggestion ist in allen Formen von Bewusstseinsstörungen die gleiche, und nur der Grad der Empfänglichkeit für Suggestionen variiert im einzelnen. Nachdem wir daher die Bedeutung der Suggestion für das Traumleben des gewöhnlichen Schlafes bereits einer eingehenden Betrachtung unterzogen haben, bleibt für die übrigen Formen der Bewusstseinsstörungen nicht mehr viel hinzuzufügen, als dass die Wirkung der Suggestion und Autosuggestion auf das Traumleben und auf die Phantasie überall die gleiche, in ihrer Tragweite nahezu unbegrenzte ist.

Was insbesondere den Hypnotismus anbetrifft, diese ureigenste Domäne der Suggestion, so kann auf dieses große, umfangreiche Sondergebiet hier nicht näher eingegangen werden, als zur Beleuchtung des Wesens der Suggestion und zur Aufhellung okkulter Phänomene erforderlich ist. Zur Aufklärung über den Begriff der Hypnose und der Posthypnose, über das Wesen des hypnotischen Schlafes und der äußerst nützlichen und segensreichen Suggestionstherapie muss auf die zahlreichen Spezialwerke verwiesen werden, von denen nach wie vor Albert Molls Buch*) das beste und populärste ist. Das Wesen der Hypnose ist in den letzten 15 Jahren auch in Deutschland so gründlich durchforscht und klargestellt worden, dass man den „magnetischen Schlaf“, welche schlechte und irreführende Bezeichnung man besser durch den Ausdruck „hypnotischen Schlaf' ersetzt, heut unmöglich mehr unter die okkulten oder gar mystischen Probleme rechnen darf; vielmehr zählt der Hypnotismus heut unbedingt unter die im ganzen Umfange aufgehellten, wissenschaftlichen Tatsachen, und es ist an ihm nichts wunderbarer und mystischer als am normalen Schlaf und an dem Zustand der der Hypnose so überaus eng verwandten Hysterie. Es müssen daher an dieser Stelle über den Hypnotismus, auf den wir auch in den folgenden Teilen noch oftmals Bezug nehmen werden, solche Betrachtungen genügen, die die Wirkung der Suggestion in neuem Lichte erscheinen lassen und die Behandlung unsres eigentlichen Themas zu vertiefen gestatten. Im übrigen setzen wir das Wesen des Hypnotismus als bekannt voraus.

*) Albert Moll: „Der Hypnotismus“ 3. Auflage. Berlin, I895.

Die psychisch wunderbarste Wirkung der Suggestion in der Hypnose, die obendrein ein helles Schlaglicht auf einige der allerrätselhaftesten und scheinbar übernatürlichen okkulten und spiritistischen Phänomene wirft, ist das Vergessenmachen der eignen Persönlichkeit und das Vertauschen der Persönlichkeit, das sich bei jeder, nur einigermaßen brauchbaren, hypnotisierten Versuchsperson herbeiführen lässt.

Im gewöhnlichen Schlaf streifen wir das Bewusstsein unsres Ich niemals ab. Stets sind wir selbst der Mittelpunkt unsrer Traumerlebnisse: wir mögen im Traum lange vergangene Situationen noch einmal durchleben, ohne Verwunderung mit unsern toten Lieben plaudern, die seit vielen Jahrzehnten der kühle Rasen deckt, die tollsten Unmöglichkeiten und wirren Verwandlungen durchleben oder gar glauben, wir selber seien gestorben und lägen im Grab — stets bleiben wir dabei dasselbe Ich, das wir bei Tage sind; niemals träumen wir, wir seien dieser oder jener Mensch, niemals sehen wir uns im Traum in einem andren Lebensalter, anders fühlend und denkend, als wir uns im wachen Zustande kennen und fühlen. Der wachende und der träumende Mensch ist eine geschlossene, einheitliche Persönlichkeit, die sich ihrer selbst bewusst ist und durch keine Suggestion oder Autosuggestion dazu gebracht werden kann, ihr Ichgefühl zu verlieren. So machtvoll und so vielseitig auch die bisher betrachteten Wirkungen der Suggestion im Wachzustande und im Traum des gewöhnlichen Schlafes waren — das Ichgefühl konnten sie niemals fälschen oder gar ertöten.

Anders in gewissen krankhaften Bewusstseinsstörungen des Wachzustandes, anders auch in den abnormen Schlafzuständen, vor allem in der Hypnose! Der Hypnotisierte vergisst auf Befehl sein Alter, seinen Namen, sein Ich und wird statt dessen jede andre Persönlichkeit, jeder andre Gegenstand, den die Suggestion des Hypnotiseurs ihm eingibt; er ist auf Verlangen Kind oder Greis, Mann oder Weib, heldenhaft oder feige, sanftmütig oder grausam-wild, selbst Tier oder Möbel, und benimmt sich, spricht, schreibt, handelt genau so, wie es das einsuggerierte Subjekt seiner Vorstellung nach tun würde. — Was die Hypnose uns kennen lehrt an Vertauschungen der Persönlichkeit, finden wir wieder in sämtlichen andern pathologischen Bewusstseinsstörungen. Es ist bekannt, dass zahllose Geisteskranke sich einbilden, sie seien irgend eine erdichtete oder wirklich existierende Persönlichkeit, meistens, wie es psychologisch natürlich ist, ein König oder Kaiser oder Papst oder Gott selbst, oft aber auch irgend eine beliebige andre, vielleicht schon lange verstorbene Persönlichkeit, oder auch ein Hund oder sonst ein Tier oder ein Gebrauchsgegenstand, ein Stück Holz oder Glas oder Metall.

Inwieweit die zahllosen geschichtlichen Persönlichkeiten, die behaupteten, sie seien irgend ein für tot gehaltener Herrscher, Geisteskranke und inwieweit sie Betrüger waren, wird sich wohl niemals feststellen lassen. Jedenfalls ist es auffallend, wie oft sich in der Geschichte an den plötzlichen oder geheimnisvollen Tod eines Herrschers, besonders wenn er eine bedeutende, kraftvolle Persönlichkeit war, das Auftreten eines „falschen“ Königs anknüpft, der behauptet, er sei der angebliche Tote, er sei damals nicht gestorben, sondern nur aus irgend einem Grunde lange versteckt und verschollen gewesen und kehre nun wieder, um sein Volk aus der Zeit wirklichen oder angeblichen Niedergangs wieder zu früherem Glanz zu führen und den Thron seiner Väter wieder einzunehmen. So geschah es nach dem Tode des ritterlichen Kaisers Friedrich II. und nach dem des letzten Askaniers, des großen Waldemar. Die Episode vom falschen Waldemar, die bekannteste und geschichtlich wichtigste ihrer Art, findet Seitenstücke in dem Auftreten der vier falschen Demetriusse, die sich für den 1591 ermordeten Demetrius, sowie der vier falschen Sebastiane, die sich für den am 4. August 1578 bei Alcassar gefallenen König Sebastian von Portugal ausgaben, und in den zahlreichen Abenteurern des 19. Jahrhunderts, die sich teils für den als Kind (8. Juni 1795) gestorbenen Dauphin Ludwig XVII. ausgaben, teils für natürliche Söhne oder Nachkommen Napoleons I., Napoleons III., des „Prinzen Lulu“ usw.

Bei Hysterischen führt die Störung des Ichbewusstseins nicht selten zu einer Verdoppelung des Bewusstseins, zu einem merkwürdigen geistigen Doppelleben. Die Störung, die beim Geisteskranken dauernd vorhanden ist, beim Hypnotisierten nur kurze Zeit — solange der Hypnotiseur es befiehlt — tritt bei vielen Hysterischen periodenweise auf. Diese sind dann zeitweilig scheinbar normale Menschen, doch treten gelegentlich Episoden von sehr verschiedener, manchmal minuten-, manchmal monatelanger Dauer auf, in denen sie ein ganz andres Wesen mit andrem Charakter und Temperament, mit andern Neigungen und Stimmungen sind. An Stelle dieser Verdoppelung der Persönlichkeit tritt gelegentlich eine Verdreifachung, ja noch weitere Vervielfachungen. Einer der am besten beobachteten Fälle dieser Art ist die von Azam beschriebene Geschichte der Felida X., die nach Lehmann hier mitgeteilt sei:

„Felida war von gesunden Eltern geboren. Als sie 13 Jahre alt war, zeigten sich verschiedene hysterische Symptome bei ihr; 1½ Jahre später begannen dann ihre Anfälle von hysterischem Somnambulismus. Sie fühlte Schmerzen in den Schläfen, verfiel in einen lethargischen Zustand — Janets hypnotische Ohnmacht — und erwachte 10 Minuten später in sekundärem Zustande. Dieser dauerte 1 — 2 Stunden; sodann kehrte sie nach einer neuen hypnotischen Ohnmacht in den primären Zustand wieder zurück. Im Lauf der Zeit wurden diese Anfälle seltener, aber dafür dauerte der sekundäre Zustand um so länger. Als sie 32 Jahre alt war, hielt letzterer etwa 3 Monate an, und wurde vom primären, normalen oft nur für einige Stunden unterbrochen. ... In dem sekundären oder somnambulen Zustande erinnerte sie sich an alles, sowohl das, was im normalen Zustande, als das, was während der somnambulen Anfälle passiert war. Im primären oder normalen Zustande dagegen erinnerte sie sich nicht, was sie während des Somnambulismus getan hatte. Deshalb waren die kurzen Anfälle des natürlichen Zustandes ihr in den späteren Jahren sehr unangenehm, weil sie während derselben die Erinnerung für alles, was sie in den Monaten ihres zweiten Zustandes sich vorgenommen hatte, verlor. Ihr sekundärer oder somnambuler Zustand war für sie wirklich eine höhere Daseinsform. Dieses zeigte sich auch in ihrem Charakter. Im normalen Zustande war sie melancholisch und verschlossen, sprach sehr wenig, klagte aber beständig über Schmerzen, beschäftigte sich überhaupt viel mit sich selber und ihrem Zustande und interessierte sich nicht sehr für ihre Umgebung. Während des Somnambulismus aber war sie munter und sorglos, fast übermütig, wenig arbeitsfähig und mehr von ihrer Toilette eingenommen, aber auch liebreicher und zärtlicher ihren Kindern und Verwandten gegenüber. Es waren also wirklich zwei ganz verschiedene Persönlichkeiten in demselben Individuum.“

Es ist weiterhin bemerkenswert, dass im hypnotischen Schlaf die Suggestion keineswegs immer und mit unbedingter Notwendigkeit vom Hypnotiseur ausgehen muss. Vielmehr kann, wie im gewöhnlichen Schlaf, jeder beliebige Sinneseindruck spontane Traumhalluzinationen hervorrufen, wenngleich im allgemeinen der Hypnotisierte nur das tut und träumt, was die Suggestion des Hypnotiseurs ihm eingibt. Moll erzählt z. B. von einem Hypnotisierten, in dem das Knarren eines Stiefels den Gedanken an Hundegebell und im Anschluss daran die Halluzination eines tollen Hundes und eine längere Schreckens- und Fluchtszene auslöste. In einem andern Fall sah ein Hypnotisierter, ohne dass eine entsprechende Suggestion vorhergegangen war, ein auf dem Tisch stehendes Glas hin und her tanzen, und diese spontan auftretende Halluzination war ihm so unangenehm, dass er aufstand, auf den Tisch zutrat und das Glas auf den Boden des Zimmers hinstellte.

Es ist weiterhin bekannt und in der Literatur des Hypnotismus viel erwähnt, dass eine charakteristische Körperstellung, die man einen Hypnotisierten einnehmen lässt, in ihm auch ohne begleitende Wortsuggestion die jeweilige Stimmung, den Affekt, die Handlung hervorruft, für die die betreffende Körperhaltung eine typische Begleiterscheinung ist. Lässt man den Hypnotisierten z. B. niederknien und faltet ihm die Hände, so wird er ganz von selbst in eine andächtige, feierliche Stimmung kommen, vielleicht gar spontan zu beten anfangen; wenn man ihn die Fäuste ballen und die Arme erheben lässt und Körper und Gesicht in eine bestimmte Stellung bringt, so wird er ohne jeden äußeren Anlass zornig werden, vielleicht gar zu toben beginnen und auf Befragen meist auch irgend einen rasch erfundenen Grund seines Zornes namhaft machen; läst man ihn einen Schritt zurück weichen, sich ducken und die Hände wie zur Abwehr vor sich strecken, so wird er Furcht oder Schrecken empfinden und auch hierfür bald einen bestimmten Anlass nennen, der sich sehr oft zu lebhaften, schreckenden Halluzinationen steigert.

Bei der vielbesprochenen Münchener „Schlaftänzerin“ Madeleine G., von der im Frühjahr und Sommer 1904 in der deutschen Presse so viel die Rede war und die man zweifellos mit Unrecht als Betrügerin verdächtigt hat, war es der Gefühlseindruck der Musik, der Stimmungen und im Anschluss daran Traumerlebnisse und Halluzinationen aller Art suggestiv hervorrief. Die vielgerühmte, überraschend wunderbare Naturtreue ihrer sich wandelnden, mit dem Charakter der Musik stets übereinstimmenden Stimmungen und Gebärden ist eben grade dadurch zu erklären, dass sie nicht wie eine Schauspielerin sich in eine „Rolle“ hineinleben, eine Stimmung und einen Affekt fingieren musste, sondern dass sie in ihrem hypnotischen Schlummer ihre Traumhalluzinationen wirklich innerlich erlebte und mitfühlte; von einer künstlerischen Leistung konnte also bei ihren Produktionen eigentlich gar nicht die Rede sein, denn sie ahmte echte Empfindungen nicht nach, sondern was sie bot, war Empfindung selbst, war Natur, nicht Kunst. Ein Teil eines Berichtes über ihre wundervollen Leistungen sei hier wiedergegeben, da er charakteristisch schildert, in welcher Weise die Klänge guter, empfindungsreicher Musik ihre Suggestion auf die in hypnotischen Schlaf versenkte Madeleine wirkten:

Während sie in hypnotischem Schlaf lag, wurde der berühmte Trauermarsch von Chopin gespielt. Während des ersten Satzes in B-moll drückte sich tiefstes Weh in ihrem Mienenspiel aus; sie schien überwältigt zu werden von wehmütigen Gefühlen, und während der Tremolofiguren im Bass starrte sie in unendlichem Schmerz vor sich hin, als ob vor ihren Augen in die offene Grube, in die man ihr Liebstes legte, die Erdschollen niederprasselten auf den Sarg. Dann brach sie kraftlos zusammen. — Kaum begann jedoch der berühmte Mittelsatz in Des-dur, als sie aufblickte, wie wenn eine Stimme vom Himmel her ihr Trost zuspräche. Sie richtete sich auf, verklärt und beruhigt, und der große Schmerz löste sich in milde Trauer auf. Im Schlusssatz wiederholten sich dann die Begleiterscheinungen des ersten Satzes und endeten mit einer kataleptischen Starre und dem Ausdruck hoffnungslosen Schmerzes im Antlitz.

Die Lebhaftigkeit und Intensität der Traumbilder, die in allen abnormen Geisteszuständen auftreten, wird durch den vorstehenden Bericht hinreichend gekennzeichnet. Wir werden später Halluzinationen in Trancezuständen kennen lernen, die den Traumbildern der Schlaftänzerin Madeleine an Deutlichkeit, Exaktheit und Naturwahrheit in keiner Weise nachstehen. —

In den hypnotischen Zuständen sind die Halluzinationen und Träume stets eine Folge von Suggestionen, die von außen kommen. Theoretisch liegt zwar gar kein Grund dafür vor, dass sie nicht auch gelegentlich ganz spontan und ohne jede Spur von äußerem Anreiz sollten entstehen können, wie ja auch die Mehrzahl der Träume des normalen Schlafes auftritt, ohne dass ein von außen kommender Sinneseindruck als Ursache dafür in Frage kommt. Wenn trotzdem in der Hypnose das selbstständige Entstehen von Halluzinationen an Bedeutung nahezu völlig verschwindet gegenüber der Menge der durch Fremdsuggestion hervorgerufenen Sinnestäuschungen, so liegt dies offenbar daran, dass die Aufmerksamkeit des Hypnotisierten nahezu dauernd ausschließlich auf den Hypnotiseur und seine Befehle konzentriert zu sein pflegt.

In andern abnormen Geisteszuständen ist es nicht ebenso. Bei Hysterischen, bei Geisteskranken, Epileptikern, Ekstatikern usw. und vor allem auch bei den Trancemedien der Spiritisten spielt vielmehr die Fremdsuggestion eine weit geringere Rolle als die Autosuggestion. Die Traumhalluzinationen und Illusionen entstehen in diesen krankhaften Zuständen zumeist spontan, wie die Träume des gewöhnlichen Schlafes, und geben dann nicht selten Anlass zu den allerseltsamsten psychopathischen Erscheinungen, insbesondere zu den geschilderten Verdoppelungen und Vertauschungen der geistigen Persönlichkeit und zu staunenswerten Steigerungen und Veränderungen der intellektuellen Fähigkeiten. Wir werden bei der Betrachtung der okkulten Phänomene und der spiritistischen Produktionen noch wiederholt die zum Teil geradezu verblüffenden Wirkungen der Autosuggestion in dieser Hinsicht kennen lernen (Besessenheit, Trance usw.) und werden uns dann daran zu erinnern haben, dass das Wesen dieser durch Autosuggestion zu erklärenden Erscheinungen genau dasselbe ist, wie es uns die hypnotischen Vorgänge als wohlbekannte Wirkung der Fremdsuggestion zu zeigen pflegen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zu Wunder und Wissenschaft