Gefälschte Weissagungen

Zu all den genannten zahlreichen Fehlerquellen gesellt sich nun aber noch eine weitere, höchst bedeutungsvolle; der absichtliche und bewusste Betrug, der leider bei allen mystischen und spiritistischen Phänomenen eine nur gar zu umfangreiche und erfolgreiche Rolle spielt. Gerade einige der berühmtesten und am meisten zitierten Weissagungen, welche zunächst auf eine später durch die Tatsachen bestätigte Vorahnung schließen zu lassen scheinen, sind apokryph, sind erst post eventum in ihren wichtigsten Einzelheiten ausgearbeitet worden, so dass die Richtigkeit dieser Vorahnungen nicht wunderbarer ist, als etwa die zutreffenden Zukunftsprophezeiungen des Attinghausen in Schillers „Tell“ oder die Weissagungen der Jeanne d'Arc in der „Jungfrau von Orleans“.

Da ist z. B. die berühmte sogenannte Lehninsche Weissagung, eine angeblich im Jahre 1306 niedergeschriebene, umfangreiche Zukunftsenthüllung eines historisch nicht nachweisbaren Lehniner Mönches oder Abtes Hermann, die dem Geschlecht der Hohenzollern seine künftigen Schicksale prophezeit. Bis auf die Zeit Friedrich Wilhelms, des Großen Kurfürsten, stimmt die Weissagung vortrefflich mit den wirklichen Geschicken der Mark Brandenburg überein, ohne dass man zu gewagten Deutelkunststücken greifen müsste. Für die Zeit nach dem Großen Kurfürsten ist dagegen beim besten Willen keine auch nur einigermaßen befriedigende Übereinstimmung zwischen der Wahrsagung und den tatsächlichen Ereignissen herauszufinden. Obendrein spricht die Lehninsche Weissagung deutlich aus, dass mit dem elften Herrscher nach Kurfürst Joachim I (es wäre dies König Friedrich Wilhelm III.), dem „Letzten von dem Stamm“, das Geschlecht der Hohenzollern aussterben und dann die Mark in den Schoß der alleinseligmachenden katholischen Kirche zurückkehren und an das Haus Habsburg zurückfallen werde. Lässt dieser Schluss schon den Pferdefuß der Tendenzdichtung hervorblicken, so zeigt die Geschichte der Lehninschen Weissagung klar, dass man es mit einer nachträglichen Fälschung aus tendenziösen Rücksichten zu tun hat. Die hohenzollernfeindliche Weissagung tauchte nämlich zuerst handschriftlich auf zwischen 1685 und 1690, also gerade am Ende der Regierungszeit Kurfürst Friedrich Wilhelms, und es ist eine an Gewissheit grenzende Vermutung, dass das ganze weissagende Gedicht nicht 1306 von einem sagenhaften Mönch Hermann, sondern um 1685 verfasst worden ist, und zwar wahrscheinlich von Andreas Fromm († 1685), einem früheren protestantischen Probst an der Petrikirche in Berlin, der später zum Katholizismus übertrat und als Domherr in Leitmeritz starb.


Somit ist der scheinbare Erfolg und der bedeutende Ruf der Lehninschen Weissagung ausschließlich darauf zurückzuführen, dass der Verfasser Dinge richtig prophezeit hat, die bereits geschehen waren, und dann das Datum der Entstehung des Gedichtes um ein paar Jahrhunderte zurückdatierte!

Auf einer nachträglichen Fälschung post eventum beruht auch die Prophezeiung der berühmtesten aller Kartenschlägerinnen, der Madame Lenormand, vom Sturze Napoleons I. Angeblich ist diese Weissagung von ihr schon am II. Dezember 1809 gegeben worden, die Publikation der Prophezeiung („Souvenirs prophetiques d'une Sibylle sur les causes de son arrestation“) ist jedoch vorsichtigerweise erst 1814 erfolgt, als Napoleon bereits auf Elba saß.

Genau ebenso steht es mit der noch berühmteren sogenannten Weissagung des Heiligen Malachias, welche die Geschicke der Päpste prophezeit. Malachias war ein irischer Prälat, der 1148 starb. In seiner Weissagung sind, mit Cölestin II (1143 — 1144) beginnend, mehrere hundert Päpste ihrer chronologischen Reihenfolge nach durch kurze, bezeichnende Epitheta charakterisiert; diese sind z. T. sehr allgemein gehalten, wie z. B. das für Leo XIII. gültige und auf diesen hochbedeutenden Papst gut passende „lumen de coelo“ z. T. sind sie aber auch nachträglichen Deuteleien ziemlich unzugänglich. Die angeblich um 1140 verfasste Wahrsagung trifft nun für die Päpste von 4½, Jahrhunderten durchweg vortrefflich zu; für die Zeit nach dem Ende des 16. Jahrhunderts weist sie dagegen, neben manchen Treffern, meist völlig falsche Charakterisierungen der regierenden Päpste auf. Der Grund ist derselbe, welcher die Lehninsche Weissagung z. T. durchaus zutreffend, z. T. ganz verkehrt erscheinen lässt: die Weissagung des Malachias ist eine Fälschung, welche im Jahre 1590 entstanden ist, d. h. in demselben Jahre, bis zu welchem die zutreffenden Prophezeiungen reichen. Der Grund für die Anfertigung der sehr geschickten Fälschung war politischer Natur: nach dem Tode des Papstes Urban VII. wollte ein Anhänger des aus Orvieto stammenden Kardinals Simoncelli für diesen zur bevorstehenden Papstwahl, während eines langen, zweimonatlichen Konklaves, Stimmung machen, und er verfasste deshalb die Weissagung des Malachias, in welcher der Nachfolger Urbans VII. das Beiwort „ab urbe vetere“ aufwies (urbe vetus = Orvieto). Der schlaue Schachzug misslang jedoch, denn am 8. Oktober ging ein andrer aus dem Konklave als Papst hervor, der Kardinal Sfondrato, der als Papst den Namen Gregor XIV. führte. Auf diesen passte die Bezeichnung „ab urbe vetere“ zwar nicht im mindesten, aber die Fälschung war nun einmal in die Welt gesetzt und hat mit ihren Prophezeiungen seither bei jeder Papstwahl bis auf unsere Zeit die Gemüter beschäftigt und oft genug wohl auch die Stimmabgabe einzelner Kardinäle in dem Sinne suggestiv beeinflusst, dass der Erfüllung des Wortlauts der Weissagung nach Möglichkeit Vorschub geleistet wurde.

Die Weissagungen des Lehniner Mönchs und des Malachias sind neben denen der Sibyllinischen Bücher und den Messianischen Weissagungen des Alten Testaments diejenigen, welche die größte Rolle in der Weltgeschichte gespielt haben. Jene beiden sind Fälschungen, deren zutreffende Prophezeiungen post eventum verfaßt worden sind, die Sibyllinischen Weissagungen gingen dadurch in Erfüllung, dass man später nach ihren Kundgebungen seine Handlungen einrichtete, und die Messianischen Weissagungen, welche eigentlich nur die Wiederaufrichtung eines irdischen jüdischen Königreichs in alter Herrlichkeit ankündigten, wurden nur durch Drehen und Deuteln mit der Person, dem Leben und den Taten Jesu Christi halbwegs in Einklang gebracht. So repräsentieren denn jene vier historisch wichtigsten Weissagungen gleichzeitig die drei hervorstechendsten Möglichkeiten, wie eine Zukunftsprophezeiung wunderbar „in Erfüllung gehen“ und zu hohem Werte gelangen kann, trotzdem ihre Entstehung nichts weniger als übersinnlich und ihr ideeller Wert gleich Null ist.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zu Wunder und Wissenschaft