Der Wunderglaube im Menschenleben und in der Menschheitsentwicklung

Wenn unsere alten, lieben, deutschen Märchen das Kinderherz erfreuen, wenn sie wieder und wieder ihren jahrtausendalten Zauber in ewiger Frische ausüben, so legt sich wohl ein nachdenklicher Erwachsener manchmal die Frage vor: wie ist es möglich, dass das Kind dies alles mit gläubigem Herzen hinnimmt, dass es nicht stutzig wird bei den hundert und aberhundert Unwahrscheinlichkeiten und Unmöglichkeiten der Märchen, die der alltäglichen Erfahrung und dem Verstande der Verständigen so oft ins Gesicht schlagen? Was ist es, das dem Kinde diese Wundergeschichten so lieb und wert und viel vertrauter macht, als die interessantesten Berichte über wirklich geschehene Dinge? Es ist die Obereinstimmung der wunderbaren Märchenwelt mit dem Weltbilde und dem Vorstellungskreise des Kindes. Das Kind kennt nur Wahrnehmungen, aber es kritisiert sie noch nicht; es vermag nicht zu unterscheiden zwischen wahrer und falscher Wahrnehmung, zwischen Natürlichem und Unnatürlichem, zwischen Möglichem und Unmöglichem, Vernunftgemäßem und Wunderbarem. Da ihm noch jede Erfahrung fehlt, mangelt ihm auch jedes Urteil: die Tatsache, dass der Wind in den Blättern des Baumes raschelt, ist ihm nicht wunderbarer und nicht weniger wunderbar, als wenn ihm das Märchen erzählt, dass die Bäume und Pflanzen reden können und singen; dass der Schnee in weißen Flocken vom Himmel niederfällt und sich in Wasser verwandelt, ist ihm ebenso natürlich oder unnatürlich wie das Niederfallen der Sterne auf die Erde und ihre Verwandlung in Taler (im Märchen von den „Sterntalern“); und der wallende Nebel über dem Wiesengrund erscheint ihm ebenso unheimlich und beängstigend, als wenn der Erlkönig mir Krön' und Schweif leibhaftig daherzöge und ihm seine Lockungen und Drohungen ins Ohr raunte. Das Kind kennt nichts Wunderbares, nichts Unglaubwürdiges, nichts Unmögliches. Verhalten wir Erwachsene uns doch in psychischen Zuständen, wo die mühsam gewonnene Erfahrung und ihr Produkt, die Vernunft, schweigen, ebenso wie jene Kinder. Oder gibt es jemals einen Traum, der uns allzu wunderbar, allzu unwahrscheinlich vorkommt, so dass ihn unser kritisches Urteil noch während des Schlafes für eine Lüge, unsere Vernunft für ein Phantasiegebilde hält? Wie der Schlafende sich nicht wundert, dass er fliegen kann, daß er sich selbst erblickt, daß die unsinnigsten Geschehnisse und Verwandlungen sich tun ihn herum begeben, so wenig wundert sich das Kind über die Traumwelt des Märchens, so wenig würde es sich aber auch wundem, wenn die Geschehnisse der Märchen ihm in den Erlebnissen des Alltags wiederkehrten.

Der Nichtübereinstimmung zwischen Wirklichkeit und Märchenreich wird das Kind sich noch nicht einmal bewusst. Die Allbeseelung der Natur, von der das Märchen zu berichten weiß, sie deckt sich mit dem Vorstellungskreise des Kindes, das auch alle Geschehnisse der Wirklichkeitswelt stets nur als seinetwegen vorhanden ansieht: ihm zur Freude spielt der Mond ein Versteckspiel mit den Wolken, ihm zur Unterhaltung heult der Wind, wiehert das Pferd, ihm zum Schabernack brachte die Türschwelle es zum Fall und stieß ihm das Spind eine Beule. Und dafür lohnt es den Mond mit Wort und Kusshand, dafür straft es die Schwelle und das Spind durch Schläge. Alles ist ihm und in der Menschheitsentwicklung beseelt. Seine Spielsachen sind nicht totes Holz und Metall, sondern seine Bähschafe, Pferde und Hunde, seine Puppen und Zinnsoldaten sind fühlende und handelnde Wesen wie es selbst, Wesen, die, gleich ihm, fähig sind zu leben, zu lieben, zu genießen und zu freuen sich. Wie soll ihm da die Allbeseelung des Unbeseelten im Märchen wunderbar erscheinen? Gläubig nimmt es alles hin, was ihm erzählt wird; es zweifelt nicht daran, dass die Engel nachts an seinem Bett sitzen und es schützen, auch wenn es sie nie gesehen hat, und es braucht sich nicht erst durch den Augenschein zu überführen, tun zu wissen, dass das Osterhäschen die bunten Eier und der Storch das kleine Brüderchen gebracht hat. Es gibt keine Wunder für das Kindergemüt. Später erwacht die Kritik; Erfahrung und Belehrung wirken zusammen dahin, daß im Kinde die Oberzeugung wach wird, es sei nicht alles wirklich, was sich als Wirklichkeit ausgibt. Schwer genug wird ihm der Abschied von den goldnen Träumen der Kindheit, und nur sehr ungern lässt es alle die lieben Illusionen vom Weihnachtsmann und den Englein, vom Osterhäschen und vom Klapperstorch fahren, und mit einem Gefühl des Unbehagens und der Enttäuschung beginnt es, in die raue, unpoetische, nüchterne Wirklichkeit hineinzuwachsen, den zweifelnden Verstand großzuziehen und Dichtung und Wahrheit zu unterscheiden. Noch sucht die Freude am Märchen und der bedingungslose Glaube daran sich auf andrem Wege zu behaupten, noch lügt sich das Mädchen, auch gegen die Regung des Verstandes, fast gewaltsam in die Illusion hinein, daß seine Puppe lebe, noch erhitzt der Knabe seine Phantasie und spornt seinen Tatendrang an der Lektüre von ungeheuerlichen Abenteuern und Heldentaten und unmöglichsten Indianergeschichten. Aber immer schärfer wird der Blick des reifenden Geistes für die Grenzen des Wirklichen und des Möglichen, und schließlich schafft sich der Mensch in vollem Bewusstsein eine Welt der Dichtung und der Wunder im Gegensatz zur Wirklichkeit, und er freut sich ihrer, aber er — glaubt nicht mehr an ihre Realität. Die Kunst ist es, die ihn aus dem Bereich des täglichen Erlebens hinaufhebt ins Reich des Scheins, ins Reich der Dichtung und der Phantasie, wo Wünsche und Ideale so leicht luftige Gestalt gewinnen und wo die Fessel der Vernunft und des kritischen Erwägens abgestreift ist. So gern folgt der Mensch dem Bildhauer und Maler in ein Reich der Nichtwirklichkeit und lauscht mit Andacht der Sprache des Musikers, die sich von den gewohnten Sprachklängen so völlig unterscheidet. So gern lässt er sich vom Dichter in Epen, Romanen und Dramen Helden aller Art vorgaukeln, Schemen, die nichts fühlen und die nichts sind, und glaubt dem Lyriker, der ihm vorlügt, dass die Bäume und Vögel des Waldes zu ihm gesprochen hätten, wie einst zu Jung-Siegfried, und dass die Blumen und die Berge, die Sonne und das weite Meer beseelt seien und empfinden könnten und denken wie er selbst. So gern flieht der Erwachsene aus der nüchternen Wirklichkeit in die Welt der Geister und Elfen, der Riesen und Zwerge, der Ritter und Helden, und träumt sich zurück in Märchen und Sagen, auch wenn er längst weiß, dass dies alles nur ein schönes Gedicht ist, ein leerer Nachhall aus schönen, gläubigen Kindertagen. „Was sich nie und nirgend hat begeben, das allein veraltet nie!“ — So werden wir alle beherrscht von der Freude am Märchen, am Wunderbaren, Nichtwirklichen; alles poetische, alles künstlerische Gefühl ist darauf gegründet, und niemals möge auch diese Freude der Menschheit verloren gehen, der sie viele ihrer herrlichsten, schönsten und erhebendsten Genüsse verdankt!


Eines aber kann und darf und soll der erwachsene Mensch nicht vergessen, wenn er in dichterischen Märchenträumen schwelgt und auf den leichten Flügeln der Phantasie dahingleitet ins Reich der Utopien und Nichtwirklichkeiten: er muss sich der Grenze zwischen Wahrheit und Dichtung bewusst bleiben und darf den Blick für das Reich der Wirklichkeit nicht verlieren, soll man ihm nicht mit Recht einen Träumer und Phantast schelten. Selber muss er seine Pflicht tim und in harter Arbeit sein Brot verdienen, und nicht darf er müßig in den Tag hineinleben und hoffen, dass gute Heinzelmännchen ihm seine Mühe abnehmen werden und dass ein „Tischlein decke dich“ ihm jederzeit Trank und Speise darbieten wird. Er ergehe sich im Reich der Dichtung und freue sich der Märchenwelt, soviel er mag, aber an die Realität dieser Phantasiegebilde darf er nicht glauben — sonst wird aus dem erfahrenen, verständigen Menschen wieder das kindlichnaive, lächerliche Wesen, das im praktischen Leben, im ernsten Daseinskampfe eine Rolle nicht zu spielen vermag.

Ein gut Teil des Kindheitsglückes, des verklärenden Erinnerungsschimmers, der die Menschen singen und preisen lässt „O selig, o selig, ein Kind noch zu sein!“ beruht auf dem Glauben an die Märchenwelt, wo die Tugend belohnt und das Laster bestraft wird. Aber im wirklichen Leben ist es anders: nicht die aufopferungsfreudige, weichherzige Goldmarie, sondern die selbstsüchtige, kalt-berechnende, hartherzige Pechmarie zieht durch das goldene Tor ein ins Land ihrer Wünsche. Und auf das mitleidige, kleine Mädchen, das sein Alles dahergibt, um das Elend der Welt zu lindern, fallen nicht die Sterne herab und werden zu blanken Talern, sondern die raue Wirklichkeit lässt es erfrieren und verhungern und fragt nicht nach seinen guten Taten. —

Dem Entwicklungsgang des menschlichen Einzelwesens gleicht aufs genaueste der Entwicklungsgang der ganzen Menschheit, wie in allen andern Einzelheiten, so auch in der Stellung zur umgebenden Erscheinungswelt und ihrer Deutung.

Auch die Menschheit kannte, wie das Kind, in ihren Anfängen keinen Unterschied zwischen Natürlichem und Wunderbarem, Erklärlichem und Unerklärlichem; nur Gewohntes und Ungewohntes vermochte sie zu unterscheiden. Aber das Gewohnte nahm der Mensch als Tatsache hin und fragte nicht nach Woher und Warum; er sah die Sonne auf- und niedersteigen, die Wolken dahinziehen und den Regen fallen, er sah aus dürren Zweigen die Knospen hervorbrechen, sich zu Blättern und Blüten und Früchten entfalten, sah die Bäume sich färben und sterben im Wechsel der Jahreszeiten — aber er fragte nicht nach der Ursache aller dieser Erscheinungen, er hatte sie von Kindheit auf so gekannt: es konnte ja gar nicht anders zugehen in der Welt! Nur bei ungewohnten Wahrnehmungen regte sich des Menschen Kausalitätsbedürfnis und zwang ihn zum Nachdenken über die Gründe der Erscheinung; dann aber griff er auch immer zur einfachsten und nächstliegenden Erklärung: die Ursache war ihm stets und unter allen Umständen ein Wirken unsichtbarer, lebender Wesen, mächtiger Geister, die bald freundlich und segnend, bald feindlich und vernichtend in das menschliche Leben eingriffen. Wie das Kind seine ganze Umgebung beseelt und nicht nur in Tieren und Pflanzen, sondern auch in totem Material lebende und denkende Geschöpfe erblickt, so personifizierte auch der Mensch der Urzeit alle seine sinnlichen Begriffe:

„Es lebte ihm der Baum, die Rose,
Ihm sang der Quellen Silberfall,
Es fühlte selbst das Seelenlose
Von seines Lebens Widerhall.“
(Schüler, Die Ideale.)

So bevölkerte die Menschheit die Erde mit unzähligen Scharen von Göttern und Geistern, von Nymphen und Kobolden, weil sie sich keine andre Erklärung wusste für all die ungeheure Fülle von sichtbaren Kraftäußerungen, die fort und fort in ihrer Umgebung vor sich gingen, ohne daß ein sichtbares, intelligentes Wesen die Wirkungen hervorbrachte. Der Mensch hörte die Stimme des Echos im Walde und fand den Rufer nicht, der ihn nachahmte und verspottete, er sah, wie im Sturm die stärksten Bäume, die er selbst nicht zu erschüttern vermochte, hin und her bewegt wurden und krachend zusammenbrachen, er hörte furchtbare Donner die Lüfte erschüttern und sah feurige Schlangen vom Himmel herniederfahren, die seine Stammesbrüder töteten, die Bäume des Waldes zerfraßen und seine kleine Hütte in Flammen setzten; er sah eine herrliche, farbenschillernde Riesenbrücke, die unsichtbare Hände am Himmel plötzlich aufgebaut hatten und ebenso plötzlich wieder zerstörten und die seinem wandernden Fuß und seiner Sehnsucht unerreichbar blieb. Kein Wunder war zu wunderbar, daß es nicht glaubhaft schien, wenn solche Dinge möglich waren. Wie sollte ein kindliches Gemüt, das sich nach dem Grunde aller dieser Erscheinungen fragte, nicht mit Notwendigkeit zum Glauben an mächtige, unsichtbare Wesen kommen, die jene rätselhaften, dem Menschenselbst unmöglichen Dinge vollbrachten! — So schuf sich der Mensch seine Götter, Bilder, die ihm gleich waren an Aussehen, Wünschen und Gefühlen, die ihn aber übertrafen an Macht und an Kraft und deren Stärke er sich deshalb willig unterwarf, die er als seine Herren fürchtete, verehrte, anbetete und deren Gunst er durch Opfer zu erringen bemüht war. Die Furcht ist die Ursache alles Geisterglaubens, die Wurzel aller Religion. Zunächst schuf sich der Mensch die bösen Gottheiten, die Dämonen — die guten erdichtete er erst später. Die wunderbaren Erscheinungen des Todes, des Schlafes und Traumes führten ihn weiter zu der Vorstellung, dass das, was das wirkende Prinzip im Leben sei, unabhängig werden könne von dem sichtbaren Körper und dass es sich nach dem Tode in andrer Weise müsse weiter betätigen können: er glaubte an die ,,Geister“ der Verstorbenen, und er verehrte und fürchtete sie und suchte ihnen wohlgefällig zu sein.

Auf dem Glauben an die Geister und Götter oder besser auf die Furcht vor ihrem Übelwollen baute sich alle Religion der Naturvölker auf. Die Beseelung der Natur war das einfachste, bequemste Mittel, die unerklärlichen Vorgänge der Erscheinungswelt auf verstandesgemäße Ursachen zurückzuführen, wie sie dem Kinde noch heut die nächstliegende Erklärung scheinen. Das Kind schafft sich eine phantastische Märchenwelt und glaubt an sie; die kindliche Menschheit machte es nicht anders. —

Langsam kamen die Menschen in viele Jahrtausende langer Entwicklung dazu, die Naturvorgänge besser kennen zu lernen, sie mühsam zu erforschen und für alles Geschehen unabänderliche Naturgesetze aufzustellen, die unabhängig sind vom Wunsch und Willen intellektueller Wesen. Die Menschheit trat in ihr Knabenalter ein und begann an den alten, naiven Märchen zu zweifeln. Staunend erkannte sie die unbedingte, ewige Gültigkeit und Unabänderlichkeit der Naturgesetze, die den Launen mächtiger Gottheiten nicht unterworfen sind und die Möglichkeit von „Wundern“ ausschließen. Sie lernte den Unterschied begreifen zwischen Wahrheit und Dichtung, zwischen der wissenschaftlichen Erfahrung und den luftigen Seifenblasen der Spekulation, religiöser wie philosophischer Natur.

Noch hat die rein empirische Methode nicht ganz die Oberhand gewonnen, noch ist die Menschheit dem Knabenalter nicht völlig entwachsen, in dem Skeptizismus und Märchengläubigkeit miteinander abwechseln und einander befehden, wo die Welt der Wirklichkeit sich scheidet von den phantastischen Traumnebeln. In unsern Tagen erst beginnt die Philosophie endgültig von ihrem alten Wahn zu lassen, daß sie durch Denken und Grübeln allein das innerste Wesen der Welt zu erkennen vermöchte, in unsern Tagen erst beginnt die größte und erhabenste unter den Religionen, die christliche, langsam die Möglichkeit aller Wunder preiszugeben — die Möglichkeit also einer willkürlichen Durchbrechung der ewigen Naturgesetze seitens irgendwelcher göttlichen oder übermenschlichen Mächte. Auf Wunder gründeten sich alle Religionen, die Möglichkeit der Wunder bedingte und nährte alles religiöse Gefühl und schuf erst den Priesterlehren und Kirchendogmen beim unwissenden Volke Glauben und Autorität. Die Furcht vor den Herren über die Naturkräfte klingt noch bis in unsre Tage nach und beginnt erst langsam einem neuen, geläuterten und abgeklärten, religiösen oder wissenschaftlichen Gefühl den Platz zu räumen, das die alten Begriffe in ganz neue Formen gießt, die Möglichkeit von Wundem im landläufigen, altkirchlichen Sinne für Zeit und Ewigkeit als unmöglich erklärt und bei aller Empfänglichkeit für Dichtungen und Märchen jeder Art den klaren Blick für die Wirklichkeit nicht verliert, die einzig und allein durch Erfahrung und stete Prüfung erkannt werden kann, nicht aber durch Dichten und Träumen. Der Wunderglaube muss, wie der Märchenglaube des Kindes, verschwinden vor der fortschreitenden Erkenntnis und weichen dem Glauben an die unbeschränkte Gültigkeit ewiger, eherner, großer Naturgesetze.

Aber sind wir denn nicht umgeben von Wundern aller Art? Sind es nicht unvergleichliche Wunder, die alle Vorgänge in Natur und Menschenwelt unausgesetzt uns darbieten, Wunder für uns, wie sie es für die ersten Menschen waren, über deren Erkenntnis wir, so weit die letzten Ursachen der Erscheinungen in Frage kommen, auch noch nicht wesentlich hinausgekommen sind? Was nützt es, daß wir wissen, welche meteorologischen Bedingungen dazu gehören, um dem winterlichen Walde neues Grün zu entlocken, daß wir die physikalischen Gesetze der Lichtbrechung und der Spektralwissenschaft kennen und in mathematische Formeln zu fassen vermögen, daß wir den Geheimnissen des Blutkreislaufs und des Stoffwechsels und vielen andern versteckten Weisheiten der Natur auf die Spur gekommen sind — sind darum das Ausschlagen der Bäume, der Aufbau des bunten Regenbogens, das Rätsel der Lebenserscheinungen und des Menschen weniger Wunder, große, gewaltige, unerklärliche Wunder?

Wir müssen den Begriff des Wunders daher genau bestimmen. Gewiss nennen wir gelegentlich alles, dessen letzte Ursache wir nicht zu ergründen vermögen, ein Wunder. Nun, dann würde es überhaupt kein Nicht-Wunder geben, denn die letzte Ursache aller Erscheinungen — wir mögen in Betracht ziehen, welche wir wollen — ist uns verschlossen und wird dem menschlichen Erkenntnisdrang auch für immer verschlossen bleiben, wie die Erkenntnis vom Zweck der Welt und vom Urgrund alles Lebens. Aber abgesehen von dieser theoretischphilosophischen Bestimmung des Wunderbegriffs gibt es noch eine rein praktische. Diese lautet dahin, daß als ein Wunder jede Erscheinung zu gelten hat, die mit anerkannten, allgemein gültigen und überall bestätigten Naturgesetzen in Widerspruch steht, ohne daß es gelingt, die Erscheinung durch andre Naturgesetze zu erklären oder einen Irrtum, eine Unvollkommenheit in der alten Formulierung bekannter Naturgesetze zu entdecken. Und als ein Wunder im besonderen würde anzusehen sein die Aufhebung bewährter Naturgesetze ohne bekannte, mechanische Hilfsmittel lediglich durch den Willen irgend einer Intelligenz, sie sei göttlicher oder menschlicher oder spukhafter Natur. Und solche Wunder, sagt die Wissenschaft, gibt es nicht und kann es niemals geben, wenngleich alle Religionen ohne Ausnahme und aller Aberglauben mit ihrer Möglichkeit und ihrem häufigen Vorkommen rechnen.

Eine neue unbekannte Tatsache der Erscheinungswelt gilt als hinreichend erklärt, als nicht-wunderbar, wenn es gelingt, sie mit bekannten und gewohnten Naturerscheinungen in Beziehung und Einklang zu bringen: gleichviel ob wir diese ihrerseits „erklären“ können oder nicht; das erste Fahrzeug, das ohne menschliche oder tierische oder bekannte mechanische Kräfte, wie Wind und Wasser, bewegt wurde, mußte zunächst als ein Wunder erscheinen; aber nachdem man als Ursache die Spannkraft des Dampfes und die elektrische Energie zu erkennen gelernt hatte, konnte von einem Wunder keine Rede mehr sein, denn es handelte sich nunmehr lediglich um neue Verwertungsformen bekannter Naturkräfte, die man mit streng mathematischer Gesetzmäßigkeit zu beherrschen, zu leiten und unter gleichen Umständen in gleicher Weise auszunutzen lernte. Die Zurückführung des Ungewohnten auf das Gewohnte war ohne Rest möglich: das „Wunder“ war „erklärt“! — Das Wunder der Halluzinationen war „erklärt“, als man sie zum ersten Male als Gegenstück zu den wohlbekannten Traumbildern auffasste, deren Ursache und Regeln man zwar auch heute noch nicht kennt, die aber dennoch nicht als wunderbar empfunden werden, weil sie eine gewohnte, alltägliche Erscheinung sind.

Zu ungezählten Malen ist im Laufe der Entwickelung die Wissenschaft oder auch der einzelne Mensch auf „Wunder“ gestoßen, die zunächst allen gewohnten Vorstellungskreisen widersprachen und aus dem vorhandenen Weltbild völlig auszufallen schienen, die aber bei genauerem Zusehen doch immer nur eine Erweiterung der bisher vorhandenen Erkenntnis bedeuteten, nicht einen Widerspruch zu oft bestätigten und erprobten positiven Erfahrungen und Naturgesetzen.

Wunderbar dünkt nur das Ungewohnte. Dinge, die uns modernen Kulturmenschen ganz natürlich und selbstverständlich erscheinen, müssen dem, der ihnen zum ersten Male entgegentritt oder von ihnen vernimmt, wunderbarer und unerklärlicher erscheinen als die tollsten, erdichteten Münchhausiaden und Märchenphantasien. Welchen tiefen Sinn birgt doch jene Anekdote von dem Häuptling eines wilden Volksstammes der Tropen, der, ein naives Naturkind, dem Europäer alle Ungeheuerlichkeiten und faustdicken Lügen blindlings glaubt, die dieser ihm über seine Heimat aufbindet, der aber unter keinen Umständen zu bewegen ist, dem Fremden zu glauben, daß in seiner Heimat das Wasser der Flüsse und Seen manchmal hart wird wie Stein, so daß schwere Wagen darüber hinweg fahren können, ohne unterzusinken! Ebenso muss dem Eskimo der Blitz, den er zum ersten Male wahrnimmt, als ein unbegreifliches, schreckliches Wunder erscheinen, das allen ihm bekannten Naturgesetzen ins Gesicht schlägt, und den Menschen des klassischen Altertumes die Meteorfälle, die neuen Sterne und die Missgeburten, dem Neger oder dem mittelalterlichen Bauer Europas das am Himmel aufflammende Nordlicht oder die Erdbeben, Vulkane, Geisire und Schneefälle dem, der niemals von solchen Naturereignissen etwas gehört und gesehen hat. Auch wir Kinder des 20. Jahrhunderts kennen ja noch immer nicht genau die physikalischen Bedingungen und Ursachen, die alle diese gewaltigen Erscheinungen erzeugen, und müssen uns mit Hypothesen über ihre Entstehung begnügen — aber wem würde es deshalb einfallen, sie als „Wunder“ zu bezeichnen? Sie sind unserer Vorstellung von der Welt gewohnt und vertraut, wir kennen eine Reihe von Möglichkeiten, sie auf „natürlichem“ Wege, d. h. durch bekannte Naturtatsachen, ohne Zuhilfenahme intellektueller Machtfaktoren zu erklären, und damit schwindet für uns alles Wunderbare; unser Kausalitätsbedürfnis ist befriedigt, wir nehmen sie als gegebene, „bekannte“ Tatsachen hin.

In welche Welt von staunenswerten Wundern würden sich die Menschen früherer Zeitalter, würden sich selbst Riesengeister wie ein Leonardo, ein Newton oder der große Friedrich versetzt fühlen, wenn sie heut plötzlich auf die Erde wiederkehrten und alle die Wunder der Elektrizität und des Dampfes, der Technik und Ingenieurkunst erschauten, die wir uns in nur 100 Jahren selber geschaffen haben? Als gewaltige Zauberer müßten ihnen die heutigen Menschen erscheinen, deren Macht die Naturkräfte in nie geahnter Weise zu Sklavendiensten zwingt und Wunder vollbringt, die die kühnste Phantasie der Vorzeit niemals hätte ersinnen können. Wir fliegen dahin mit dem Dampf, wir zeichnen mit dem Licht, wir schreiben mit dem Blitz — so hat mit prachtvollem Pathos Dubois-Reymond die wunderbarsten technischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts treffend bezeichnet. Und was ist in den wenigen Jahrzehnten, seitdem jener Ausspruch getan wurde, nicht schon wieder an neuen Errungenschaften hinzugekommen! Der Blitz, der elektrische Strom muss uns jetzt auch die menschliche Stimme auf Hunderte von Meilen verständlich übermitteln, er muss uns schwere Arbeiten aller Art abnehmen, uns selbst dahintragen mit einer Geschwindigkeit, die alle bekannten Geschwindigkeiten irdischer Kräfte weit übersteigt, und uns Licht und Wärme spenden, sobald wir es befehlen. Dem lebenden Menschen schauen wir ins Innerste des Körpers, und wir ergründen die Substanzen, die die fernsten Sonnen zusammensetzen; wir winden den Donnerkeil aus Jupiters Hand und weisen ihm seinen Weg und fühlen uns unabhängig von den zwei Lichtem, die ein Gott uns setzte, uns Tag und Nacht zu erhellen; der tiefste Meeresboden muss uns dienen, unsre Gedanken blitzschnell in die fernsten Länder zu tragen, und selbst schon durch die freie Luft jagen unsichtbar, geräuschlos und unfühlbar die Boten der Intelligenz dahin von Kontinent zu Kontinent; höher denn alle Vögel trägt uns der Dädalusflug in die Lüfte empor, und die Berge öffnen sich vor dem Sesam unserer Ingenieure. — Die Wunder der Märchen gewinnen Gestalt, und das unmöglich Erscheinende wird staunenswerte Wahrheit.

— Und doch, wem von uns fällt es ein, alle diese ungeheuren Leistungen als „Wunder“ zu bezeichnen, als wirkliche, unerklärbare Wunder? Wir wissen, es handelt sich in allen Fällen stets nur um neue Ausnutzungsformen bekannter Naturkräfte. Der Einzelne vermag, außer dem Fachmann, sich vielleicht nur selten Rechenschaft zu geben von den Ursachen, die alle jene Erscheinungen bedingen, aber es genügt ihm zu wissen, daß manche Menschen die natürlichen Ursachen aufs genaueste kennen und beherrschen, um ihm das Erreichte gewohnt und vertraut und nichts weniger als wunderbar erscheinen zu lassen.

So wandelt sich der Begriff des Wunders im Lauf der Zeiten unausgesetzt. Technische Effekte, die man vor 100 und vor 50 und selbst noch vor 25 Jahren für unerhörte Wunder gehalten hätte, die auf keine Weise durch „natürliche Ursachen“ hätten erklärt werden können, dünken uns heut so selbstverständlich und so gut bekannt, daß wir es gar nicht mehr zu begreifen vermögen, wie ein Mensch darüber staunen kann oder wie gar eine Zeit ohne diese „unentbehrlichen“ Hilfsmittel ausgekommen ist. Und steht es denn anders mit den Forschungsergebnissen der Naturwissenschaft? — Einst gab es eine Zeit, wo die angesehensten Gelehrten einstimmig erklärten, ein Herabfallen von Steinen vom Himmel sei eine zweifellose Unmöglichkeit und würde allen anerkannten Naturgesetzen Hohn sprechen, als ein völlig unerklärliches, spukhaftes Wunder. Jeder, der das Herabfallen von Aërolithen auch nur für möglich hielt, galt als ein abergläubischer Ignorant und Dummkopf, und so sicher war man von der völligen Unmöglichkeit einer derartigen Erscheinung überzeugt, dass der Genfer Gelehrte Deluc erklärte: Und wenn hier vor meinen Äugen ein Stein vom Himmel hernieder fiele, so würde ich sagen, ich habe es gesehen, aber ich glaube es nicht! Da kam der 26. April 1803 und mit ihm, direkt vor den Toren von Paris, wo die französische Akademie das Hauptquartier der Aërolithenleugner darstellte, der große Meteorsteinregen von l'Aigle, der alle Zweifel verstummen machte und das unmögliche Wunder, den indiskutablen Aberglauben plötzlich zu einer anerkannten Tatsache werden ließ, die sich auch bald wunderschön dem alten Weltbilde und den bekannten Naturgesetzen einpasste. Und hätte nicht noch vor 50 Jahren jeder Naturforscher seinen Kopf zum Pfande dafür gesetzt, daß es niemals möglich sein würde, zu ergründen, welche chemischen Elemente auf der Sonne und den Sternen vorkämen, wenn nicht ein Wunder, eine übernatürliche Offenbarung erfolgte — und heute wissen wir auch ohne Wunder mit absoluter Gewissheit, daß nicht nur auf der Sonne, sondern überall im weiten, unendlichen Himmelsraum ausnahmslos nur dieselben Elemente vorkommen, die sich bei uns auf Erden vorfinden! So zeigt die Geschichte der Natur- und Geisteswissenschaften uns an zahlreichen Beispielen, wie das für unmöglich Gehaltene, das Unwahrscheinlichste und Wunderbarste schließlich wirklich und natürlich wird und der „indiskutable Aberglaube“ zuweilen allgemeine Anerkennung erlangt, — Was ist nun wunderbar? Das, was wir mit unsern wohlbekannten physikalischen und chemischen Naturgesetzen nicht in Einklang zu bringen vermögen? Aber wem fällt es ein, die unzählig mannigfachen psychischen Vorgänge, wie Bewusstsein, Überlegung, Gedächtnis, Affekt, Schlaf, Traum usw. als Wunder, als mystische Erscheinungen zu bezeichnen? Und doch wissen wir über ihre Entstehung, über die ihnen entsprechenden physikalischen und chemischen Vorgänge, über die ihnen zugrunde liegenden Gesetze so gut wie nichts Sicheres, aber sie erscheinen uns nicht als wunderbar, weil die Gewohnheit sie als etwas Alltägliches und Selbstverständliches betrachten lehrte.

Wir sehen aus dem Gesagten, daß der Begriff des Wunderbaren in der allermannigfachsten Weise bestimmt werden kann, daß er ein fließender Begriff ist. Wir können als wunderbar im Sinne der naturwissenschaftlichen Forschung alle diejenigen Vorgänge bezeichnen, die keine Hypothese auf ein „bekanntes“ Naturgesetz zurückzuführen vermag und die außerdem keine Analogie finden in bekannten und alltäglichen, wenn auch in ihren physikalischen Ursachen noch unerforschten Erscheinungen der Wissenschaft.

Wie groß und sicher neuerdings durch die überwältigend großartigen Ergebnisse der modernen exakten Forschung das Vertrauen geworden ist, daß es der Naturwissenschaft gelingen wird, alle Erscheinungen der nicht psychischen Welt auf bekannte Faktoren zurückzuführen, geht am besten daraus hervor, dass man seit langer Zeit völlig verlernt hat, den Ausdruck „Wunder“ auf rein physikalische Erscheinungen anzuwenden, auch wenn sie unerklärlich und eigenartig im höchsten Maße sind. Früher galt jedes Nordlicht, jeder „Blutregen“, jeder Komet und neue Stern als ein „erschröckliches Wunderzeichen“ — heut fällt es Niemandem ein, im Nordlicht, im Zodiakallicht, in der Radiumstrahlung ein übernatürliches Wunder zu erblicken, auch wenn man über die physikalischen Naturgesetze und Erklärungen, die diesen und vielen anderen rätselhaften Erscheinungen zugrunde liegen, bestenfalls nur Vermutungen hegen kann.

Für die physikalische Welt hat man die theoretische Möglichkeit des Wunders ein für alle Male fallen lassen; da gibt es wohl noch viel Unerklärtes und Geheimnisvolles, aber nichts Mystisches mehr, nichts Übernatürliches — nur noch Naturgesetze, nicht mehr launenhafte Kundgebungen unsichtbarer Wesen. Lediglich psychische Phänomene sind es, für die man heut die Bezeichnungen wunderbar, mystisch, okkult, übernatürlich überhaupt noch anzuwenden pflegt.

Aus der bisherigen Geschichte der Naturwissenschaft müssen wir aber die Lehre entnehmen, daß uns auch alle rätselhaften, psychischen Erscheinungen, für die wir noch keine Erklärung und keinen Vergleich mit gewohnten psychischen Vorgängen zu geben vermögen, wohl nur deshalb als Wunder erscheinen, weil uns vorläufig noch Einsicht und Erfahrung mangeln — nicht weil sie in Wahrheit irgendwie wunderbarer und mystischer sind als irgendwelche physikalischen und chemischen Vorgänge.

So gewiss es ist, daß unter den sogenannten okkulten Erscheinungen neben vielem Aberglauben, Unfug und Irrtum noch viele, vorläufig geheimnisvolle Tatsachen zu finden sein werden, so gewiss ist es auch, daß keine von diesen Tatsachen nach ihrer Anerkennung durch die Wissenschaft imstande sein wird, das heutige Gesamt-Weltbild, das durch die Forschung in mühevoller Arbeit festgelegt ist und durch die „naturwissenschaftliche Weltanschauung“ zusammengehalten wird, irgend nennenswert zu verschieben.

Wenn die Wissenschaft sich daher in die okkulten und mystischen Probleme vertiefen will, um zu prüfen, was an ihnen ist, so mag sie stets der Gedanke an die Geschichte des Meteoritenglaubens vor einem Verfallen in beide Extreme bewahren: vor der allzu großen Leichtgläubigkeit sowohl wie vor dem allzu starken Skeptizismus. Der Märchen- und Wunderglaube, der für die Aërolithen sogleich mit der Erklärung des Wunders zur Hand war, der in ihnen Kundgebungen einer Gottheit, wunderbare Vorzeichen künftiger Ereignisse oder Spukerscheinungen sah, irrte in diesem Falle ebenso weit von der Wahrheit ab, wie die strengen Gelehrten, die ihren sonst durchaus berechtigten und wertvollen wissenschaftlichen Skeptizismus in der maßlosesten Weise übertrieben und schließlich durch die Naturtatsachen selbst die empfindlichste Niederlage erlitten, die sie jemals zu verzeichnen gehabt haben. Auch in der Beurteilung psychischer Phänomene hat die exakte Wissenschaft den Mystikern schon manche Konzession machen müssen, die sie zuerst für unmöglich gehalten hätte, und sie ist trotzdem nicht auf den Kopf gestellt worden und brauchte von ihren älteren positiven Überzeugungen nicht ein Tüpfelchen preiszugeben! Die Halluzinationen, die Erscheinungen der Hysterie und Besessenheit oder gar Erscheinungen wie den sogenannten tierischen Magnetismus, den wir heut richtiger Hypnotismus nennen, und das Tischrücken, also Erscheinungen, die zuerst dem Okkultismus angehörten, deren Vorhandensein die Naturwissenschaftler z. T. aufs entschiedenste ableugneten, die sie als Unsinn und Aberglauben, ja als Schwindel und groben Unfug bezeichneten, haben sie, nachdem sie sich besser unterrichtet hatten, ohne weiteres akzeptiert und als wissenschaftliche Tatsache anerkannt; nur ihre Erklärung der Erscheinungen ist natürlich eine wesentlich andre, wie die der spekulierenden Phantastereien eines wunderlechzenden Mystizismus.

So mag es gewisslich in der uns noch nahezu gänzlich unerschlossenen psychischen Welt viele Dinge zwischen Himmel und Erde geben, welche die heutige Schulweisheit sich nicht träumen lässt. Man soll daher nicht von vornherein alle Tatsachen leugnen, die zufällig mit den bisherigen Forschungsergebnissen der Wissenschaft nicht in Einklang zu bringen sind. Unser Wissen ist Stückwerk und wird es immer bleiben — dessen mag man stets eingedenk sein und mag daher auch für rätselhafte psychische Phänomene statt der unbedingten Verurteilung stets nur ein „non liquet“ zur Hand haben, wie man es in der nichtpsychischen Welt leidenschaftslos so oft gelten lässt — gegenwärtig z. B. in den Fragen nach dem Wert des Wetterschießens, nach der Existenz oder Nichtexistenz der Irrlichter oder der großen Seeschlange. Die Grundlagen der Wissenschaft, das von der Naturforschung entworfene Weltbild werden durch die Anerkennung irgendwelcher heut als okkult geltenden Erscheinungen ganz sicherlich nicht bedroht — dazu sind sie doch allzu fest und sicher begründet! Wie die Anerkennung des Hypnotismus nicht einem Umsturz, sondern nur eine dankenswerte Vertiefung der vorherigen Kenntnisse bedeutete, so dürfte die Einreihung gar mancher heut noch als okkult und geheimnisvoll geltenden Erscheinung unter die wissenschaftlichen Tatsachen nur als ein Gewinn zu betrachten sein, der lediglich dem Forschen nach der Wahrheit zugute kommt.

Grundsätzlich also darf die Wissenschaft die Behauptungen des Okkultismus, des Mystizismus und Spiritismus niemals ablehnen; aber wohl ist es ihr gutes Recht, jene Behauptungen so lange als unbewiesen anzusehen — als phantastische Verirrungen, wie es deren bei allem Philosophieren so unendlich viele gibt — solange ihr nicht Tatsachen von unbedingt zwingender Beweiskraft entgegengehalten werden. Das Gewicht der Beweise muss der Unwahrscheinlichkeit der Behauptungen entsprechen; andernfalls hat die exakte Forschung nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, den Beweis als unzulänglich abzulehnen. Erst wenn durchaus keine Möglichkeit mehr gegeben ist, einer neuen, beglaubigten Tatsache mit altbekannten Erklärungen beizukommen, darf man daran denken, sich nach einer neuen Erklärung umzusehen.

Wollte die Wissenschaft ihren Standpunkt des strengen Skeptizismus verlassen, der zwar alle Tatsachen leidenschaftslos prüft, aber nur durch absolut einwandfreie Beweise zur Anerkennung genötigt werden kann, so würde sie in die Fehler ihrer märchengläubigen Kindheit zurückverfallen, in die Fehler der spekulierenden Philosophie, der Religionssysteme und der sämtlichen Formen des Aberglaubens. Die Naturwissenschaft hat seit einigen Jahrzehnten mit den letzten Kinderschuhen den letzten Wunderglauben abgelegt und ist mannbar geworden: sie unterscheidet jetzt zwischen Tatsachen, Hypothesen, Vermutungen und Irrtümern, und sie kennt und respektiert die Grenze zwischen Dichtung und Wahrheit aufs genaueste.

Der modern naturwissenschaftliche Standpunkt, der von der Forschung nach zahllosen Irrtümern gefunden worden ist und nunmehr wohl auch für alle Zeit beibehalten werden wird, ist der der allerstrengsten, ausschließlichen Empirie: jeder Dogma- und Autoritätsglaube ist verpönt, Theorien und Hypothesen sind statthaft, können aber stets nur bedingten Glauben beanspruchen; wirklich geglaubt wird nur, was unzweifelhafte, verbürgte Tatsachen und peinlich genaue, scharf kontrollierte Beobachtungen und Experimente als sichere Wahrheit haben erkennen lassen.

Aber dieser Standpunkt, welcher der ausgereiften Menschheit einzig und allein würdig ist, wird bisher nur von einem kleinem Teil der Gebildeten, insbesondere von den meisten Jüngern der Naturwissenschaft, geteilt. Die große Mehrzahl der Menschen hat sich noch nicht ganz freigemacht vom Wunderglauben, von der Wunderfreudigkeit, ja man kann sagen, vom Wunderbedürfnis, das seinerseits wieder ein Ausfluss religiöser Anschauungen und Wünsche ist. Mag auch aus der rein physikalischen Welt das Wunder ein für alle Male verbannt sein, das Kind „Menschheit“ lässt sich doch noch oft genug von geheimnisvollen Märchendichtungen gefangen nehmen und von psychischen Indianergeschichten täuschen.

Dass es auch diesen Übergangszustand überwinden, dies letzte Überbleibsel der Kindertage abschütteln wird, kann nicht zweifelhaft sein; die Menschheit hat ihre Entwicklung zur empirischen Weltanschauung, zur geistigen Mannbarkeit schon nahezu vollendet, und bald wird sie auch den letzten Schritt tun, den Wunderglauben auch aus der psychischen Welt verbannen und damit die Tage der Kindheit, die Tage der Märchen endgültig überwinden.

Aber welches Interesse kann die strenge Forschung daran haben, den Wunderglauben der Menge zu zerstören, der ihr nicht schadet und ihr nicht lästig fällt? Würde sie nicht besser tun, denen, die sich im Glauben an die Wunder glücklich fühlen, die Überzeugung zu lassen, die ihrem inneren Herzensbedürfnis entspricht? Auf diese Frage sei mit einer Gegenfrage geantwortet: Soll man dem herangewachsenen Kinde seinen Glauben an die Märchen und Fabeln aller Art lassen oder nicht? Auch ihm bietet die Aufklärung und der Einblick in die nüchterne Wirklichkeit eine schwere, schmerzliche Enttäuschung — warum also bereitet man ihm Kummer durch Zerstörung seiner idealen Wunderwelt? warum lässt man es nicht weiter zufrieden sein im Glauben an die Realität seiner Märchen und Fabeln? warum lässt man es kosten vom Baum der Erkenntnis und vertreibt es aus seinem Paradiesesglück? — Nun, ebenso wie wir wissen, daß das Kind nicht eher zum Vollmenschen ausreifen und zum Lebenskampfe brauchbar sein kann, als bis es alle idealisierenden Vorstellungen von der Welt und den Menschen abgestreift und die nackte Wirklichkeit erkannt hat, so darf auch die Menschheit nicht zögern, vom Saisbilde der Wahrheit den hüllenden Schleier zu heben und ihr kühn ins ernste Angesicht zu schauen, mag auch die alte Idealwelt darüber in Scherben zerschlagen werden. Nur dann wird sie ihren Höhenflug zur Erkenntnis fortsetzen können, zielbewusster und rascher als bisher und frei von allen Fesseln veralteten Wunderglaubens. Die streng-exakte Naturforschung geht voraus und weist uns den rechten Pfad; ihrer Führung können wir getrost vertrauen, und wir werden weiter steigen und weiter, hinauf zu den Sternen, ins selige Reich des Wissens!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zu Wunder und Wissenschaft