Echte Ahnungen in die Ferne?

Überblicken wir nun noch einmal die Zahl und die Bedeutung der Fehlerquellen, die den Eindruck hervorrufen können, als ob echte und wirklich eingetroffene Ahnungen und Prophezeiungen und Vorzeichen vorliegen, während die Übereinstimmung oder Ähnlichkeit zwischen Ahnung und Ereignis in Wirklichkeit auf durchaus „natürliche“ und alltägliche, nichts weniger als mystische Ursachen zurückzuführen ist, so wird es klar, dass aus der Überfülle von wunderbaren, übersinnlichen Ereignissen, die in der mystischen Literatur aufgestapelt sind, der weitaus größte Bruchteil als unglaubwürdig, falsch beobachtet oder falsch beurteilt oder auch als unkontrollierbar und deshalb wertlos auszuscheiden hat und seines mystischen Charakters zu entkleiden ist. Nur eine winzige Anzahl bleibt aus der großen Fülle von Berichten übrig, welche einer näheren, kritischen Prüfung wert und zugänglich sind und bei denen unabsichtliche Fehlerquellen der Beobachtung, Beurteilung und Erinnerung ausgeschlossen sind. Nach Dessoirs Schätzung beträgt die Zahl der Wunderberichte, welche aus der ursprünglichen, großen Menge, nach Sonderung der Spreu vom Weizen, übrig zu bleiben pflegt, nur etwa 1 Prozent! Es muss ja vielleicht gar mancher wertvolle und glaubwürdige, rätselhafte Bericht, der ein besseres Schicksal verdiente, von der Naturforschung verworfen werden, weil jede Möglichkeit einer kritischen Nachprüfung ausgeschlossen ist, aber auf unkontrollierbare Beobachtungen lässt sich nun einmal eine psychologische und philosophische Wissenschaft ebensowenig stützen, als etwa eine physikalische Theorie auf ein einmaliges Experiment, von dem keine weiteren Einzelheiten vorliegen, als das höchst verblüffende Endresultat. Somit bleibt denn tatsächlich aus der Überfülle des in mystischen Schriften der verschiedensten Art zusammengetragenen Materials über erfüllte Vorzeichen, Ahnungen, Gesichte und Prophezeiungen nur eine sehr geringe Anzahl übrig, welche einer ernsten, wissenschaftlichen Untersuchung und Beachtung überhaupt würdig sind.

Unter den zahlreichen Fällen, die, wenn sie richtig überliefert sind, das Vorkommen von Ahnungen voraussichtlich erweisen würden, die aber leider jeder Nachprüfung unzugänglich sind, sind zwei der bekanntesten diejenigen, welche schon Cicero in seiner Schrift „De divinatione“ anführt. Hier heißt es an einer Stelle (lib. I, 27): „Wer kann jene beiden Träume, die von den Stoikern immer wieder erzählt werden, ignorieren? Der eine berichtet ein Erlebnis des Simonides: Dieser fand einst einen unbekannten Leichnam und bestattete ihn. Als er nun in See gehen wollte, schien es ihm, als ob jener Mann, dem er ein Grab bereitet hatte, ihm davon abriet; denn wenn er in See gehe, würde er Schiffbruch erleiden und untergehen. Simonides blieb infolgedessen zurück, die andern aber, die absegelten, kamen tatsächlich um. Der andre berühmte Traum ist folgendermaßen überliefert: Als zwei verwandte Arkadier, die zusammenreisten, nach Megara kamen, nahm der eine in einem Wirtshaus Quartier, der andere bei einem Gastfreund. Als sie nun nach der Abendmahlzeit zur Ruhe gegangen waren, soll dem, der bei seinem Gastfreund schlief, der andere im Traum erschienen sein und ihn gebeten haben, ihm zu Hilfe zu kommen, weil sein Wirt ihn umbringen wolle. Jener fuhr vor Schreck aus dem Schlaf empor, schlief jedoch, nachdem er munter geworden war und erkannt hatte, dass es sich nur um einen Traum handle, wieder ein. Da erschien ihm jener Andere nochmals und bat ihn, wenn er ihm lebend nicht mehr habe zu Hilfe kommen können, wenigstens seinen Tod zu rächen. Sein Leichnam sei von dem Wirt auf einen Wagen geworfen und mit Mist bedeckt worden. Er bat ihn, früh am Tor zu sein, bevor der Wagen die Stadt verlasse. Hierdurch im Schlaf gestört, war er früh am Tor und fragte den Gastwirt, was er im Wagen habe. Der Gastwirt erschrak und floh, der Tote wurde herausgeholt, und der Mörder büßte seine Schuld, nachdem er entdeckt worden war.“


Diese beiden Fälle wären vielleicht geeignet, das Vorkommen von übersinnlichen Ahnungen in die Ferne und in die Zukunft zu erweisen, doch kennt sie Cicero nicht aus eigener Erfahrung, sondern nur vom Hörensagen, aus uralter Überlieferung der Stoiker. Sie sind daher für die wissenschaftliche Forschung wertlos. Etwas anders steht es mit einigen neueren Berichten über erfüllte Ahnungen und Fälle von Hellsehen, welche besser beglaubigt und daher mehr zuverlässig sind.

Der berühmteste aller bisher vorgekommenen Fälle von echten Ahnungen in die Ferne ist die Weissagung des bekannten schwedischen Sehers Emanuel Swedenborg vom Brande Stockholms. Kant, welcher sich mit dem merkwürdigen Schweden in verschiedenen Schriften beschäftigte („Träume eines Geistersehers erläutert durch die Metaphysik und „An Fräulein Charlotte von Knobloch über Swedenborg“) erzählt den genannten Vorfall folgendermaßen:

„Am 1. September 1759 kam Swedenborg nach Schweden zurück und ging nachmittags vier Uhr in Gothenburg ans Land. Er wurde gleich von einem Freunde in eine Gesellschaft eingeladen. Um sechs Uhr verließ er die Gesellschaft, kam aber nach einem Augenblick bleich und entsetzt zurück. Er erzählte, dass ein großes Feuer in Stockholm wüte; er war sehr unruhig und ging häufig hinaus in die frische Luft. Gegen acht Uhr erzählte er, dass das Feuer gelöscht sei, gerade drei Häuser vor seiner eigenen Wohnung in Stockholm. Diese Angaben Swedenborgs verbreiteten sich natürlich sofort in der Stadt und kamen auch dem Gouverneur zu Ohren. Am nächsten Morgen sandte er einen Boten nach Swedenborg, welcher ihm alle Einzelheiten des Brandes beschrieb. Erst Montag abend kam eine Stafette von Stockholm nach Gothenburg und Dienstag morgen ein königlicher Kurier. Die Berichte dieser Boten stimmten genau mit Swedenborgs Beschreibungen überein.

Bei diesem Fall ist zwar zu berücksichtigen, dass Kants Bericht nach den Aufzeichnungen eines Freundes verfasst ist, die ihrerseits wieder die Erzählungen von anderen Leuten, von Augenzeugen des Vorfalls, wiedergaben, so dass die Legendenbildung Zeit genug hatte, sich des Falles zu bemächtigen und ihn zurechtzustutzen; immerhin scheint so viel doch erwiesen zu sein, dass sich in diesem berühmtesten Fall einer Ahnung in die Ferne außergewöhnliche Vorkommnisse tatsächlich abgespielt haben. Ob es sich dabei nur um ein ahnendes Gefühl oder um ein halluzinatorisches Hellsehen, ein zweites Gesicht gehandelt hat, ist nicht überliefert.

Ein weiterer, ähnlicher Fall, der Schiller die Anregung zu seinem merkwürdigen „Geisterseher“-Fragment gab, spielte sich nur wenige Monate später ab als jene bekannteste und immerhin noch glaubwürdigste Leistung Swedenborgs. Schiller erzählt den Vorfall, welcher den Kernpunkt der „Geisterseher“-Geschichte bildet, folgendermaßen:

„Eines Abends, als wir nach Gewohnheit in tiefer Maske und abgesondert auf dem St. Markusplatz spazieren gingen — es fing an, spät zu werden, und das Gedränge hatte sich verloren — bemerkte der Prinz, dass eine Maske uns überall folgte. Die Maske war ein Armenier und ging allein. Wir beschleunigten unsere Schritte und suchten sie durch öftere Veränderung unseres Weges irre zu machen — umsonst, die Maske blieb immer direkt hinter uns. — ,,Sie haben doch keine Intrige hier gehabt?“ sagte endlich der Prinz zu mir. ,Die Ehemänner in Venedig sind gefährlich.‘ — ,Ich stehe mit keiner einzigen Dame in Verbindung,‘ gab ich zur Antwort. — ,Wir wollen uns hier niedersetzen und deutsch sprechen, fuhr er fort. ,Ich bilde mir ein, man verkennt uns.‘ Wir setzten uns auf die steinerne Bank und erwarteten, dass die Maske vorübergehen sollte. Sie kam gerade auf uns zu und nahm ihren Platz dicht an der Seite des Prinzen. Er zog die Uhr heraus und sagte mir laut auf französisch, indem er aufstand: ,Neun Uhr vorbei. Kommen Sie. Wir vergessen, dass man uns im Louvre erwartet.‘ Dies sagte er nur, um die Maske von unserer Spur zu entfernen. ,Neun Uhr‘, wiederholte sie in eben der Sprache nachdrücklich und langsam. ,Wünschen Sie sich Glück, Prinz (indem sie ihn bei seinem wahren Namen nannte). Um neun Uhr ist er gestorben.‘ — Damit stand sie auf und ging.“

In Wirklichkeit trug sich das Ereignis, das Schiller die Anregung zu seiner sehr freien und phantastischen Umdichtung gab, wesentlich anders zu: In der Nacht vom 31. Januar zum 1. Februar 1760 veranstaltete der preußische Hof in Magdeburg einen Maskenball, an dem in einer Dominomaske auch der damalige Erbprinz Friedrich von Hessen-Kassel, der spätere Landgraf Friedrich II., teilnahm, der damals Gouverneur der Festung Magdeburg und preußischer. General der Infanterie war. Schlag 12 Uhr näherte sich ihm eine unbekannte, als Armenier verkleidete Maske, deutete auf die im Saal befindliche Uhr und sprach: „Hochfürstliche Durchlaucht, soeben ist der Landgraf gestorben.“ Die Prophezeiung erwies sich als richtig: Landgraf Wilhelm VIII. war zur nämlichen Stunde in Rinteln gestorben.

Auch dieser Fall ist jedoch noch nicht völlig einwandfrei. Es bleibt dahingestellt, inwieweit der nahe Tod des Landgrafen Wilhelm VIII. erwartet werden konnte, und ob die Prophezeiung des Armeniers, wie Schiller vermutet, nichts weiter als ein kecker Versuch, eine Art Zufall war. Auch dürfte die Geschichte nicht frei von legendarischen Zutaten sein. Jedenfalls wird so viel berichtet, dass der Armenier ein früher in hessischen Diensten stehender ungarischer Husarenoffizier war, der die Gabe des zweiten Gesichts zu haben behauptete.

Ein dritter Fall jedoch scheint beinahe auf das Vorhandensein einer echten Ahnung hinzuweisen. Die in Kalkutta erscheinende „India Gazette“ brachte am 3. März 1830 folgende höchst merkwürdige Notiz:

„Sehr bedeutende Gerüchte sind in der Stadt im Umlauf, die von einem Seher des zweiten Gesichts herrühren sollen. Es heißt nämlich, der König von England sei tot gesehen worden, und in Frankreich finde eine Revolution statt.“

Die hier prophezeiten Ereignisse traten tatsächlich einige Monate später ein: König Georg IV. starb am 26. Juni, und die Pariser Revolution brach am 27. Juli aus. Allzu viel Wert darf man freilich auf diesen seherischen Erfolg nicht legen. Das Gerücht vom Tode Georgs IV. würde überhaupt nichts Sonderbares an sich haben, denn der König war lange krank und sein Tod zu erwarten. Nur die Prophezeiung der kaum voraus zu berechnenden Pariser Revolution gibt doch vielleicht zu denken!

Nur wenige der sonst vorliegenden Berichte über Ahnungen in die Ferne verdienen überhaupt erwähnt zu werden. Unter denen, die einer näheren Beachtung würdig sind, müssen die Mitteilungen eines früheren Hofpredigers und Konsistorialrats in Königsberg i.Pr., des Prof. Dr. Heinrich Lysius († 1731), mit in erster Linie erwähnt werden. In der Familie des Dr. Lysius war die Gabe des zweiten Gesichts erblich, und Lysius selbst besaß sie in hohem Maße. Seine Aufzeichnungen finden sich als Manuskript auf der Königsberger Bibliothek. Sie enthalten neben manchem offenbar Unglaubwürdigen und Unkritischen einige Beobachtungen und Schilderungen, welche für die damalige Zeit von einer selten scharfen Beobachtung, ruhigen Auffassung und vor allem von unantastbarer Ehrlichkeit zeugen. Unter den mannigfachen Gesichten, die er an sich selbst erlebt hat, dürfte das folgende am meisten charakteristisch und verhältnismäßig am besten verbürgt sein:

„Als ich da einstmals des Nachts unter einem Pavillon in meinem Bette lag, mit dem Gesicht gegen die Wand zugekehrt, ward es plötzlich und unvermutet ganz helle in dem Zimmer, und an der dichten Seite des Pavillons ging es, wie eines Menschen Schatten, vom Haupte des Bettes bis zu den Füßen; wobei mir auf das nachdrücklichste, gleichsam, als ob es laut und vernehmlich geredet worden, innerlich imprimiert wurde: Umbra matri stuae! Mit den letzten Briefen aber hatte ich doch vernommen, dass Mutter und Geschwister annoch gesund und vergnügt lebten. Ich stand also sogleich vom Bette auf und untersuchte, woher doch solches Licht und ein solcher Schatten gekommen sein möchte, da denn die Stube ganz finster war, und ich sowenig desselbigen Abends, als des nächstfolgenden Morgens Gelegenheit dazu finden oder es sonst erraten konnte. Als ich aber sofort den Vormittag darauf meinen Onkel besuchte, kam er mir mit einer traurigen Miene entgegen und sagte, er habe eben Briefe, dass meine Mutter gefährlich krank danieder läge. Worauf ich alsobald antwortete: Wäre sie krank, so wäre sie auch unfehlbar tot, wobei ich er zählte, was mir den vorhergehenden Abend begegnet war. Er verwunderte sich darüber, versicherte aber doch, dass er nur so viel wüsste, dass sie krank wäre, und dass man mich nach Hause verlangte.

Aber schon mit der nächsten Post schrieb mir meine Schwester, dass die Mutter verstorben, und ich ersah aus deren Schreiben, dass dieselbe eben desselben Abends, wo ich das Gesicht oder die Erscheinung gehabt hatte, in die Ewigkeit hinübergegangen war.

Es ist eine bekannte Tatsache, dass in manchen Volksstämmen die Gabe des zweiten Gesichts ganz besonders stark verbreitet sein soll; doch ist dabei zu berücksichtigen, dass diese Erscheinung unter Umständen nicht durch eine gesteigerte Disposition dieser Volksstämme erklärt werden muss, sondern durch Suggestivwirkung der Umgebung, wie sie bei allen geistigen Epidemien vorkommt. Insbesondere bei den Hochschotten soll das zweite Gesicht (second sight) sehr häufig vorkommen, doch soll es z. B. auch unter den Schweden stark verbreitet sein (vgl. Fontanes Ballade von dem schwedischen Bauer, der am Tage der Schlacht von Lützen den Tod Gustav Adolfs halluzinatorisch wahrnimmt). Auch soll die Gabe des zweiten Gesichts in manchen Familien erblich sein. Inwieweit alle diese Behauptungen zutreffend sind, lässt sich kaum kontrollieren; es handelt sich in derartigen Fällen fast stets um Gerüchte, die in keiner Hinsicht einer Prüfung zugänglich sind. Sie sind daher nicht brauchbarer oder glaubwürdiger, als etwa die zahlreichen Behauptungen alter Alchymisten, dass sie bestimmt Blei oder sonst ein wertloses Metall in Gold verwandelt hätten. Solchen alchymistischen Überlieferungen gegenüber verhalten wir uns skeptisch und erklären sie für zweifellosen Irrtum, für täuschende Autosuggestion oder gar Betrug; es liegt kein Grund vor, die zahlreichen Gerüchte, die im Volksmunde umgehen, mit weniger Skeptizismus zu behandeln. Bei diesen ist sogar die Möglichkeit des Irrtums größer und die Machprüfung weit schwerer als bei jenen. Auch muss man sich erinnern, wie ungemein groß grade im Volksmunde die Zahl der überall umlaufenden und meist geglaubten Erzählungen von Begegnungen mit Gespenstern, geisterhaften Reitern, Hexenzügen und zahllosen Spukerscheinungen ist, tun einen richtigen Maßstab dafür zu gewinnen, dass ehrliche Überzeugung des Erzählenden, Berufung auf Augenzeugen und Namhaftmachung von Gewährsmännern keine Sicherheit für die objektive Richtigkeit der im Volke umlaufenden Erzählungen zu sein vermögen. — Grade die Masse der „Fälle“ von denen jeder Gläubige zu berichten weiß und mit denen er jeden Widerspruch niederzuschlagen hofft, muss bei dem kritischen Forscher den aller stärksten Verdacht erregen. Ein einzelner „Fall“ verdient Beachtung, die Berufung auf „zahllose derartige Vorkommnisse“ muss mit Recht Verdacht und Skeptizismus wecken.

Immerhin lassen die oben mitgeteilten Einzelfälle und manche andre darauf schließen, dass vielleicht in gewissen Ausnahmezuständen echte Ahnungen in die Ferne, Wahrträume, Hellsehen und zweite Gesichte tatsächlich möglich sind. Wenn auch unter den vielen Berichten von übersinnlichen Vorgängen dieser Art nur verschwindend wenige sind, die nicht durch Irrtum, Betrug und Selbstbetrug „natürlich“ zu erklären sind, so darf man doch nach dem heutigen Stande der Wissenschaft die Möglichkeit echter Vorkommnisse nicht ohne weiteres von der Hand weisen, wenngleich ihre Realität bisher auch noch nicht sicher erwiesen ist. Wir kennen die psychischen Vorgänge und auch die physikalischen Naturkräfte, unter denen uns grade das letzte Jahrzehnt so manche seltsamen, ungeahnten Überraschungen beschert hat, bisher viel zu wenig, um mit Zuversicht erklären zu können: Beziehungen zwischen den geistigen Vorgängen zweier Menschen, welche weit voneinander getrennt sind, sind „unmöglich“. Wenn wir aber die Möglichkeit solcher Beziehungen nicht leugnen können, so geben wir damit auch die theoretische Mög1ichkeit eines Fühlens in die Ferne, die Möglichkeit der Telepathie, der Ahnung in die Ferne, also auch des halluzinatorischen Hellsehens, des zweiten Gesichts, zu. Nur muss man sich hüten, aus der Tatsache, dass eine Möglichkeit solcher Vorkommnisse nicht bestritten werden kann, ohne weiteres zu folgern, dass nun jeder beliebige Bericht über Ahnungen zuverlässig und beweiskräftig ist. Vielmehr muss ausdrücklich festgestellt werden, dass ein in jeder Beziehung völlig einwandfreier Beweis für das Vorkommen echter Ahnungen bisher noch nicht vorliegt! Bisher darf man nur allenfalls von einer Wahrscheinlichkeit der gelegentlichen Realität solcher Ahnungen sprechen, und zwar gilt diese Wahrscheinlichkeit auch nur von den Ahnungen in die Ferne, nicht von den Ahnungen in die Zukunft, die nach wie vor durchaus unwahrscheinlich sind.

Die Ahnungen in die Ferne dürfen wir als möglich und sogar, auf Grund vorliegender Beobachtungen, als wahrscheinlich bezeichnen, weil wir hinreichend viele physikalische Kräfte der Natur kennen, welche, ohne selbst irgendwie von Sinnen wahrgenommen zu werden, Wirkungen in der Ferne hervorbringen können, so die Schwerkraft, die elektrischen Wellen, die chemischen Strahlen und die Wärmestrahlen des Spektrums, die Röntgenstrahlen, die Kräfte des Radiums usw. Man kann demnach wenigstens die Möglichkeit nicht von der Hand weisen, dass auch auf das menschliche Gehirn, das heißt auf die menschliche Psyche, unter geeigneten Umständen aus der Ferne eingewirkt werden kann. Die Möglichkeit, wie gesagt, lässt sich nicht leugnen; von einer Gewissheit kann jedoch einstweilen nicht die Rede sein, denn keine von den bisher vorliegenden Beobachtungen genügt zum einwandfreien Nachweis.

Erwähnt sei jedoch an dieser Stelle, dass einer unsrer ersten lebenden Psychologen, der eine gründliche Kenntnis der okkulten und spiritistischen Phänomene mit einer wundervollen Nüchternheit der Beobachtung und einer vortrefflichen Klarheit und Sicherheit des Urteils verbindet, Prof. Flournoy in Genf, mir persönlich folgende selbst beobachtete Tatsache erzählte: Er hat einen Freund, der irgendwo in Südfrankreich lebt, und mit dem er von Zeit zu Zeit, durchschnittlich alle zwei bis drei Monate einmal, zu korrespondieren pflegt, ohne dass jedoch ein regelmäßiger Turnus im Briefwechsel stattfindet. Er hat nun seit Jahren mit Erstaunen festgestellt, dass diese Briefe von hüben und drüben sich fast regelmäßig kreuzten, also ziemlich genau gleichzeitig abgesandt wurden, als ob beide Teile stets zu gleicher Zeit auf den Einfall kämen, einander zu schreiben. Die Übereinstimmung war so auffallend, dass Flournoy schließlich experimentell vorging, indem er einige Male außer der Reihe, etwa 8 Tage nach Absendung eines Briefes, einen zweiten folgen ließ. Diese Versuche misslangen stets; die Briefe kreuzten sich nur, wenn man keine Experimente mit der Absendung beabsichtigte.

Diese Mitteilung ist sehr bemerkenswert, denn sie stammt von denkbar kompetentester und zuverlässigster Seite, die gegen jeden Verdacht der Voreingenommenheit unbedingt gesichert ist. An eine zufällige Übereinstimmung wird man, angesichts der großen Zahl von Fällen, schwerlich glauben können; es bleibt also nur die Vermutung bestehen, dass unbekannte physikalische Kräfte zwischen den beiden Freunden tatsächlich eine Art von geistigem Konnex in die Ferne, ein Fernfühlen (Telepathie), eine Gedankenübertragung bedingten. Gibt man diese Möglichkeit aber erst zu, so ist nur noch ein Schritt bis zu den noch lebhafteren Formen der Ahnungen in die Ferne (im Wachzustand und im Traum) und den halluzinatorisch auftretenden Ahnungen, dem Hellsehen, dem zweiten Gesicht u.s.w. Wir würden alsdann eine stufenweise Steigerung von wesensgleichen Erscheinungen haben, die von der einfachen Gedankenübertragung auf nichtsinnlichem Wege zu der oben erwähnten echten Telepathie und noch weiter zu den echten Ahnungen und schließlich zum Hellsehen entfernter Vorgänge führen würde. Wird in der Stufenleiter dieser Erscheinungen ein Phänomen sicher erwiesen, so sind auch die übrigen wahrscheinlich gemacht, da für sie alle die bisher zwar unbekannte, sicherlich aber „natürliche“ Erklärung die gleiche sein dürfte.

Zur hypothetischen Erklärung solcher Phänomene lässt sich mit den bereits bekannten physikalischen Kräften jedenfalls auskommen; es bedarf dazu nicht der Zuhilfenahme mediumistischer und spiritistischer Willkür-Hypothesen. Wir bedürfen keiner neuen, unbekannten Naturkräfte oder gar „geistiger“ Kräfte, tun alle jene bisher noch problematischen Vorgänge zu „erklären“ die man vielleicht unter dem einen Ausdruck „Telephonie der Seelen“ zusammenfassen kann. Wenn wir bisher nicht wissen, wie wir uns solche Erscheinungen durch bekannte Naturkräfte zu deuten haben, so folgt daraus ganz gewiss noch nicht, dass bekannte Naturkräfte dabei nicht im Spiel sein können. Wir wissen auch noch nicht sicher, wie die Gewitter und der Hagel, die Nordlichter, das Zodialkallicht, die sogenannten Nebelpuffer und viele, viele andre Naturtatsachen durch die bekannten physikalischen Kräfte zu erklären sind. Aber niemandem fällt es deswegen ein, neue, unbekannte Naturkräfte zur Erklärung hypothetisch in die Weltordnung einführen zu wollen oder gar eine eigne Philosophie, um nicht zu sagen eigne religiöse Dogmen zu erfinden, wie es Mystizismus und Spiritismus zur Erklärung der Ahnungen und andrer zunächst nicht erklärlicher Erscheinungen tun.

Kurz und gut: das Vorkommen von gelegentlichen, wenn auch seltenen, echten Ahnungen in die Ferne ist durch die vorliegenden Beobachtungstatsachen wahrscheinlich gemacht, wenn auch noch nicht sicher erwiesen. Eine Erklärung für die Erscheinung zu suchen, ist verfrüht, solange nicht die Tatsache selbst unzweifelhaft feststeht; immerhin lässt sich schon jetzt sagen, dass die uns wohlbekannten Naturkräfte voraussichtlich zur Erklärung vollkommen ausreichen würden.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zu Wunder und Wissenschaft