2. Das Gedankenlesen

Unbewusste Wahrnehmungen und Bewegungen sind es auch, die dem sogenannten Gedankenlesen in vielen Fällen zugrunde liegen. Es gibt freilich eine ganze Reihe von verschiedenen Methoden, wirklich oder scheinbar die Gedanken eines andern Menschen zu erraten, und nicht alle gehören sie hierher, nicht alle haben sie den Charakter des Geheimnisvollen, Mystischen und Okkulten an sich; vielmehr gibt es auch solche darunter, die lediglich auf Taschenspielerkunststücken beruhen und eine übernatürliche Erklärung in keiner Weise jemals für sich beansprucht haben.

Um auch diese kurz zu erwähnen, so sei bemerkt, dass man in den ziemlich zahlreichen, öffentlichen „Zaubervorstellungen“ drei verschiedene Methoden des Gedankenlesens zu sehen bekommen kann, von denen nur eine direkt zum Thema der unbewussten Bewegungen gehört.


Um Gegenstände, die vom Publikum gezeigt werden, ohne Hilfe des Gesichtssinnes erraten zu können, dient zunächst folgende Methode: Das Taschenspielerpaar — es gehören stets, außer dem Publikum, zwei Personen zu diesem Kunststück — verteilt die Rollen derart, dass die eine mit verbundenen Augen auf der Bühne oder dem Podium sitzt, während die andere unten im Publikum umhergeht und sich allerlei Gebrauchsgegenstände, wie Uhrketten, Manschettenknöpfe, Bleistifte, Münzen, Straßenbahnbillets usw. reichen läßt. Zwischen den beiden Personen findet ein Verkehr nur in der Weise statt, dass die umhergehende an die oben sitzende harmlose Fragen stellt, auf die stets umgehend die richtige Antwort erfolgt, etwa: „Und was ist dies?“, „Nenne nun auch das!“, „Und dieses nunmehr?“, „Aber kennst du auch das?“ Die Form der Fragen enthält dann bereits auch die Antwort, gemäß einem verabredeten Merksystem. Die Zahl der verschiedenen Gegenstände, die dargereicht werden, kann notwendig in einer öffentlichen Versammlung nur sehr eng begrenzt sein; es sind immer wieder dieselben Gebrauchsgegenstände, die das Publikum bei sich hat und erraten läßt. Außerdem liegt es in der Hand des umhergehenden Taschenspielers, unbequeme Gegenstände, die nicht erraten werden könnten, abzulehnen oder die dargebotenen zu „übersehen“. So entspricht denn jedem der dargebotenen Gebrauchsgegenstände eine bestimmte Form der Frage; meinetwegen soll „Nun, sage auch das!“ einen Bleistift bedeuten usw. Auf diese einfache und gewiß nichts weniger als übernatürliche Weise lassen sich bei einiger Übung der Beteiligten geradezu verblüffende Effekte erzielen; selbst vielstellige Zahlen, z. B. auf Straßenbahnbillets, Jahreszahlen von Geldstücken, Eigennamen usw. können durch mehrere rasch aufeinander folgende Fragen der „Gedanken lesenden“ Person unauffällig mitgeteilt und alsbald von ihr erraten werden.

Eine andre Methode, die sich lediglich auf das Erraten von Zahlen durch Taschenspielergewandtheit beschränkt, ist noch einfacher. In Abwesenheit des Gedankenlesers oder der Gedankenleserin wird eine Zahl, z. B. eine vierstellige, von einem Herrn des Publikums aufgeschrieben und allgemein bekannt gegeben. Die Gedanken lesende Person wird dann mit verbundenen Augen in den Saal geführt und vor eine Tafel gestellt, auf welche sie alsbald mit Kreide, nach einigen zauberhaften Manipulationen, die zu ratenden Ziffern der Reihe nach richtig aufschreibt. Gesprochen wird dabei kein Wort. Die Erklärung ist äußerst einfach: in dem die Augen umschließenden Tuch sind an geeigneter Stelle Schlitze angebracht; durch diese sieht der Gedankenleser, wenn er vor der Tafel steht, seinen Helfershelfer, der scheinbar teilnahmslos zur Seite steht und nur die gewählte Zahl vorher dem Publikum bekannt gemacht hatte. Durch irgend welche verabredeten, unauffälligen Stellungen und Bewegungen verrät dieser nun dem Gedankenleser die zu ratenden Ziffern: so bedeutet etwa ein Kreuzen der Arme über der Brust eine 8, ein Vorstellen des rechten Beines eine 3, ein Streichen des Bartes eine 9 usw. So unendlich einfach das System ist, so frappierend sind die stets richtigen Resultate.

Diese beiden Methoden des Gedankenlesens haben mit unbewussten Wahrnehmungen und Bewegungen nichts zu tun; wohl aber ist dies der Fall bei zwei andern Methoden.

Die eine benutzt das von dem berühmten Taschenspieler Cumberland angewandte und bis zum Höhepunkt der Vollendung durchgebildete System, das 1875 von dem Amerikaner Brown zuerst entdeckt und als ,,mindreading“ bezeichnet wurde.

Der Gedankenleser braucht hier keinen Helfershelfer, sondern sucht sich seine Hilfe im Publikum selbst. Er läßt sich die Augen verbinden, diesmal nicht nur scheinbar, sondern wirklich, und faßt eine andere Person, deren Gedanken er angeblich erraten will, an dem Puls einer Hand an. Diese andre Person hat sich nun mit dem übrigen Publikum vorher, in Abwesenheit des Gedankenlesers, über irgend eine Tätigkeit geeinigt und verständigt, die ausgeführt werden soll. Sagen wir z. B., man habe verabredet, dass der Gedankenleser eine Vase vom Tisch herunternehmen und auf einen Stuhl stellen soll. Dann wird der Gedankenleser — nennen wir ihn G. — mit der geführten Person — sie möge A. heißen — im Zimmer herumgehen, indem er dauernd ihren Puls festhält. A. muss nun unaufhörlich, ohne aber ein Wort zu sagen, an die Vase denken. Dann wird G., wenn A. ein geeignetes „ Medium“*) ist, nach längerer Zeit an den Tisch, auf dem die Vase steht, herantreten, darauf herumtasten und schließlich die richtige Vase ergreifen; er wird sie, während A. nunmehr intensiv an den Stuhl denken muss, an sich nehmen und sie weiter mit sich tragen, bis er endlich vor dem bezeichneten Stuhl Halt macht und sie darauf niedersetzt.

*) Ich brauche hier und im Folgenden den Ausdruck „Medium“ der Abkürzung halber für das unschöne und auch nicht immer ganz zutreffende Wort: Versuchsperson.

Die Produktion wirkt in ihrer Exaktheit manchmal geradezu verblüffend; das Gedankenlesen hat jedoch einen durchaus natürlichen, rein mechanischen Hintergrund, den schon der Entdecker Brown richtig erkannte. Wenn A. sich auch bemüht, möglichst passiv zu bleiben und durch keine Bewegung G. etwas zu verraten, so wirkt doch die Befolgung der nicht umsonst gegebenen Vorschrift, dass an den zu ratenden Gegenstand unaufhörlich von dem ,,Medium“ gedacht werden muss, notwendig dahin, dass unbewusste Bewegungen der Muskeln und Variationen in der Stärke des Blutkreislaufes dem G. die Richtung und später auch die Gegenstände verraten, mit denen sich die Lösung der Aufgabe zu befassen hat. Wenn G. z. B. grade auf die Vase losgeht, so wird A. dem Vorwärtsgehen weit weniger Widerstand entgegensetzen, als wenn G. sich einer falschen Richtung zuwendet; der Puls ändert sich ein wenig, und die Nachgiebigkeit bezw. der Widerstand der Muskeln gegen die Richtung der Bewegung werden dem Gedankenleser, falls dieser nur ein wenig geübt ist, deutlich genug fühlbar werden, zumal der Puls die unbewussten Bewegungen am allerdeutlichsten wiederspiegelt. Dass diese Erklärung nicht etwa eine gezwungene, an den Haaren herbeigezogene ist, sondern den Tatsachen vollauf entspricht, wies Preyer durch die Konstruktion seines „Palmographen“ nach, eines Instrumentes, das die Veränderungen der Muskelbewegungen direkt zu messen gestattete. So werden die „Gedanken“ auf ganz mechanische, einfache Art dem Gedankenleser mitgeteilt, ohne dass Gehörs- und Gesichtseindrücke irgendwie mitspielen. Korrekt müsste man also von einem „Muskellesen“ statt von einem „Gedankenlesen“ sprechen, doch würde mit dieser Bezeichnung, die zugleich die Erklärung des Phänomens enthält, das Interesse der meisten Menschen an dem Gegenstand schwinden. Wer darauf achtet, kann sowohl als Führer (Gedankenleser) wie als Geführter (Medium) die zuckenden Bewegungen des Pulses und des Armes, die eigenen wie die fremden, ganz deutlich verspüren. Selbst ganz unerfahrene Personen, die sich nie mit derartigen Versuchen abgegeben haben, pflegen sich aktiv wie passiv von Anfang an oft trefflich zum Gedankenlesen zu eignen, besonders wenn sie die Ursache nicht kennen und zu übersinnlichen Erklärungen neigen. Fehlschläge und Irrtümer kommen selbstverständlich häufig vor; doch je größer die Übung, um so rascher und um so verblüffender die Erfolge. Selbstverständlich ist jeder Erfolg von vornherein ausgeschlossen, wenn das „Medium“ sich fest vorgenommen hat, alle seine Bewegungen scharf zu kontrollieren und zu überwachen, damit es dem Gedankenleser nichts verrät. Grade damit es derartige, etwas kindliche Scherze nicht treibt, existiert ja die strenge Vorschrift, dass vom Medium dauernd intensiv an den zu ratenden Gegenstand bezw. die zu ratende Handlung gedacht werden muss.

Stuart Cumberland hatte seine Fähigkeit des aktiven Gedankenlesens in einer Weise ausgebildet, dass er sich an die kompliziertesten Aufgaben heranwagen konnte. Pflegen sonst die dem Gedankenleser gestellten Aufgaben sich zumeist auf einfachere Verrichtungen innerhalb eines Zimmers oder allenfalls einer Wohnung zu beschränken, während kompliziertere Versuche in der Regel misslingen, so konnte Cumberland mit verbundenen Augen, lediglich durch die Methode der Pulsfühlung in schnellster Weise Aufgaben lösen, wie etwa die, dass er aus einem ferngelegenen Hause einer andern Straße ein bestimmtes Buch aus einem bestimmten, ihm unbekannten, seinem „Medium“ aber natürlich bekannten Zimmer herausholte. Um schnell zu seinem Ziele zu kommen, bestieg Cumberland mit seinem „Medium“ sogar gelegentlich eine Droschke und gab mit verbundenen Augen dem Kutscher an, nach welcher Richtung er fahren solle. Die Versuche gelangen ihm, wenn die Verbindung mit seinem Medium selbst nur eine ganz lockere war.

Durch die gleiche Methode lassen sich natürlich nicht nur gedachte Gegenstände raten und gedachte Handlungen ausführen, sondern auch Zahlen oder Spielkarten oder, mit Hilfe einer Landkarte, Reiserouten raten usw. Die Zahl der möglichen Variationen und Kombinationen ist selbstverständlich Legion.

Man bezeichnet derartige unbewusste Bewegungen, die durch lebhafte Gedanken und Vorstellungen heraus zu Stande kommen, mit Carpenter als „ideomotorische Bewegungen“. Eine besondere Form dieser Bewegungen und des durch sie bedingten Gedankenlesens ist das Niederschreiben der Gedanken einer andren Person, die die schreibende Hand berührt. Hier wird durch die intensive Vorstellung eines Wortbildes nicht eine schreitende, sondern eine unbewusst schreibende Bewegung ausgelöst. Mit den unbewussten Schreibbewegungen werden wir uns im übrigen noch weiter unten eingehender zu beschäftigen haben (vergl. das Kapitel: Tischklopfen); wir können uns daher an dieser Stelle mit einem Hinweis darauf begnügen, dass viele Menschen sich auch im gewöhnlichen Wachzustand beim intensiven Vorstellen eines Wortes, einer Zahl usw. dabei werden ertappen können, dass sie den Begriff mit den Fingern in die Luft schreiben oder auch stenographieren.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zu Wunder und Wissenschaft