6. Eintreffen von Prophezeiungen durch versuchte Umgehung; die Bedeutung der Legendenbildung und des Zufalls

Weiterhin ist zu beachten, dass manchmal Wahrträume und Prophezeiungen gerade dadurch in Erfüllung gehen, dass man bemüht ist, sie zu umgehen. Es sei hier erinnert an die Ödipussage und den Stoff der Braut von Messina, oder an die Weissagung, die in Halms „Fechter von Ravenna“ dem Kaiser Caligula wird, dass ihm von Cassius Unheil droht, und die sich erfüllt, weil der Kaiser jeden Träger des Namens Cassius hinrichten lassen will, wodurch der Präfekt, der Prätorianer Cassius, aus Notwehr zur Ermordung Caligulas veranlaßt wird. Diese Fälle behandeln freilich nur: Möglichkeiten und nicht Tatsachen, in poetischer Form; immerhin können, bei geeigneter Kombination von zufälligen Umständen, ähnliche Ereignisse auch in Wirklichkeit vorkommen und somit eine Prophezeiung gerade dadurch und nur dadurch erfüllt werden, dass man Mittel aufwendet, um ihr Eintreffen zu verhindern.

So träumte z. B. eine Dame, von der Alfr. Lehmann berichtet, eines nachts, dass das Haus brennt, ohne dass jedoch ein Schaden entsteht; eine Stimme ruft ihr zu, sie solle sich vor einem bestimmten Datum einige Monate später hüten. Sie erzählt den Traum ihren Angehörigen, verliert ihn aber bald aus dem Gedächtnis. Tatsächlich erkrankt dann die Familie an dem im Traum vorgeahnten Tage infolge einer Rauchvergiftung. — So weit erscheint jener Traum, trotz der Verwechslung der Rauchvergiftung mit einer Feuersbrunst, als ein überaus seltsamer, glänzend bestätigter Wahrtraum, der auf jeden Leser großen Eindruck machen muss. Das übersinnliche, mystische Element verschwindet aber vollständig, wenn man hört, dass eine sehr abergläubische Dame, die dieselben Räume bewohnte, um den Traum wusste und, weil sie sich vor dem Eintreffen fürchtete, am Abend vor dem verhängnisvollen Tage, um die prophezeite Feuersbrunst zu verhindern, die Ofenklappe schließen ließ, wodurch die Rauchvergiftung erst herbeigeführt wurde. Dieser interessante Teil der Geschichte, der den geheimnisvollen Wahrtraum ins Banale und Tragikomische verkehrt, würde natürlich in spiritistischen Sammlungen übersinnlicher Ereignisse niemals zu finden sein. Man sieht daher, wie außerordentlich vorsichtig man in der Beurteilung unverbürgter und nicht genau zu prüfender Erzählungen von mystischen Vorkommnissen sein muss, wenn man sich vor völlig verkehrten Schlussfolgerungen hüten will. Das skeptische „Non liquet“, das die Wissenschaft ausspricht, wenn ihr unkontrollierbare Wunder entgegengehalten und zur Erklärung vorgelegt werden, ist entschieden außerordentlich berechtigt.


Noch ein Fall eines Wahrtraumes sei hier mitgeteilt, der eine vom Träumenden ohne seinen Willen selbst herbeigeführte Erfüllung gefunden hat. Die Geschichte ist allerdings nichts weniger als gut verbürgt, denn sie ist Stillings „Jenseits“ entnommen, dessen Berichte durchweg unwissenschaftlich sind und gar keinen Glauben verdienen, aber sie sei trotzdem hier aufgeführt, weil sie ein Paradebeispiel für solche Ereignisse bilden könnte, die niemals stattgefunden hätten, wenn nicht der „Wahrtraum“ sich eingestellt hätte:

„In Padua träumte einer, er werde von dem großen marmornen Löwen an der Justinakirche gebissen. Den andern Tag mit Freunden vorübergehend, steckte er die Hand in den Rachen des Löwen und sprach spöttisch: ,Seht doch den grimmigen Löwen, der mich im Traume gebissen hat.‘ Von durchdringendem Schmerz gepeinigt, zog er sie aber schnell zurück, und es fand sich, dass ihn ein Skorpion gestochen, der im Rachen verborgen war. Es heißt, er sei, nachdem alle Mittel angewendet worden, an der Vergiftung gestorben.“

Diese Erzählung ist zwar, wie gesagt, völlig unzuverlässig, klingt aber sonst durchaus nicht unwahrscheinlich. Hat sie sich jedoch wirklich so zugetragen, so muss sie jeden mystischen Charakter durch die einfache Frage verlieren: Warum hat denn der Wahrtraum überhaupt stattgefunden? Wenn er den Träumenden, was doch sein einziger Zweck sein konnte, vor einer drohenden Gefahr warnen wollte, so hätte er sein Ziel besser und sicherer erreicht, wenn er überhaupt nicht stattgefunden hätte, denn ohne ihn wäre der junge Mensch sicherlich nie auf den Gedanken gekommen, den steinernen Löwen ins Maul zu fassen. Warum also warnte er vor Gefahren, die tatsächlich gar nicht bestanden, die er selbst erst schuf? Das wäre ja ebenso, als wenn ich Jemandem prophezeien wollte, dass ihm heut Abend ein Dachziegel auf den Kopf fallen wird, und dann selbst den Ziegel werfe, um die Wahrsagung als richtig zu erweisen.

Es sind auch einige historische Beispiele bekannt, die beweisen (so weit sie nicht Legende sind), dass eine Prophezeiung gerade dadurch in Erfüllung gehen kann, dass man sie mit allen Mitteln zu umgehen sucht und sie fürchtet.

So berichtet Herodot (III, 64) von einer dem Kambyses gewordenen Weissagung, er werde in Ekbatana sterben, die ihn veranlasste, niemals seine Hauptstadt dieses Namens zu betreten; als er nun auf seinem Zuge gegen Ägypten sich bei einem Sturz mit dem eigenen Schwert verletzt hatte und in das nächstgelegene Dorf geschafft worden war, erschrak er heftig, als er auf seine Frage nach dem Namen des Ortes hörte, es hieße Ekbatana, und erklärte sofort, hier würde er sterben, was denn auch bald danach geschah, sicherlich unter Mitwirkung einer starken Suggestivwirkung.

Ebenso soll Ferdinand dem Katholischen geweissagt worden sein, er werde in Madrigal sterben, welche Stadt er deshalb sorgfältig mied; er starb in Madrigaolis oder Klein-Madrigal, einem kleinen, ihm unbekannten Dorfe.

Angeblich soll auch dem Fürsten Poniatowski, der am 19. Oktober 1813 nach der Leipziger Schlacht in der Elster ertrank, geweissagt worden sein, er werde durch eine Elster sterben. Diese Erzählung dürfte höchst wahrscheinlich eine Legende sein: ihren Gewährsmann vermochte ich nicht zu ermitteln. Angenommen aber, sie entspräche den Tatsachen — wäre es nicht denkbar, dass dem schwimmenden Fürsten beim Gedanken an den Namen des Flusses die alte Weissagung einfiel und dass ihm nun erst der Schreck die Glieder lähmte und ihm dem Tode verfallen ließ, dem er sonst vielleicht entgangen wäre? — Ganz ähnlich lautet die Geschichte vom König Alexander von Epirus, den ein Orakel vor dem Acherusischen Wasser, einem griechischen Flusse, gewarnt hatte und der im Flusse Acheros in Italien ertrank.

Doch sind diese alten historischen Berichte größtenteils nicht sehr glaubwürdig, und ihre Verbürgtheit ist nicht zu kontrollieren. Man muss bei derartigen historischen Erzählungen stets mit der sehr großen Gefahr der Legendenbildung rechnen, welche an hervorragende Ereignisse und bedeutende Menschen mit ganz besonderer Vorliebe anknüpft. Zumal das hellenische Altertum hat Erhebliches geleistet in der Erdichtung von Legenden mit mystischem Hintergrund. Große Ereignisse, die zeitlich nahe zusammenfielen, lässt die altgriechische Überlieferung sehr häufig genau gleichzeitig, am gleichen Tage, vor sich gehen: so sollen die Schlachten von Platää und Mykale bekanntlich an einem Tage stattgefunden haben, Alexander der Große in derselben Nacht geboren sein, in der der Frevel Herostrats den berühmten Tempel der Diana zu Ephesus in Asche legte usw.

Auch an den Tod großer Männer hat von jeher die Legendenbildung besonders gern angeknüpft, weil viele Menschen das Gefühl haben, als müsse die Erde und das ganze Weltall sich umwälzen, wenn ein Gewaltiger die Augen zum letzten Schlaf schließt. Zeichen und Wunder müssen in der Natur geschehen, und mystisch veranlagte Gemüter sehen ohne weiteres einen inneren Zusammenhang darin, dass St. Helena in der Todesstunde Napoleons von einem schweren verheerenden Sturm heimgesucht wurde oder dass während Beethovens Tod über Wien ein furchtbares Gewitter niederging, oder auch, dass in der Scheidestunde Christi die Sonne sich verfinsterte. Wo aber nicht, wie in diesen Ausnahmefällen, etwas Außerordentliches in den Naturvorgängen den Tod eines großen Genius begleitet, der die Geister von vielen Tausenden lenkte und in seinem mächtigen Bann hielt, da schafft sich gern die beklommene Spannung der Menschen einen Ausweg, indem sie sich eine rätselhafte Wirkung des Vorgangs erdichtet, um die eigene Erschütterung in der Außenwelt scheinbar widerzuspiegeln: so kommen alle die zahlreichen Legenden zustande, dass fern vom Sterbebette aus unbekannten Gründen ein Trinkglas zerspringt, ein Bild oder eine Statue hernieder stürzt, eine Uhr stehen bleibt, ein Licht von selbst erlischt usw. So sollen die Glocken von Speyer von selbst geläutet haben, als der vierte Heinrich im fernen Lüttich elend und verlassen starb, andererseits soll in der Geburtsstunde Alexanders des Großen der Tempel von Ephesus gebrannt haben und in der des Nazareners der „Stern von Bethlehem“ im Morgenlande aufgeleuchtet sein.

Aber die Legende berichtet keineswegs immer nur von rätselhaften Vorgängen an leblosen Dingen, welche gleichzeitig mit welterschütternden Begebenheiten vor sich gingen, sondern sie dichtet auch menschlichen und selbst tierischen Wesen Ahnungen des fernen Ereignisses an und schafft so, ohne es zu wollen, der mystischen Literatur willkommenes Material, dessen Prüfung und sichere Widerlegung der kritischen Wissenschaft nur in seltenen Fällen möglich ist.

So ist z. B. sicherlich der Wahrtraum des Kurfürsten Friedrich des Weisen von Sachsen Legende, der in der Nacht vor Luthers Thesenanschlag geträumt haben soll, er sehe dreimal einen Mönch herankommen, dessen gewaltige Schreibfeder bis nach Rom reiche und die dreifache Krone auf des Papstes Haupt wanken mache. Ebenso ist ganz zweifellos der angebliche Traum Friedrichs des Großen legendarisch, der in der Nacht vor Napoleons Geburt geträumt haben soll, ein überaus glänzender Stern falle vom Himmel herab. Dass dieser Traum apokryph sein muss, ergibt die einfache Überlegung, dass Friedrich selbst ja Bonaparte nie gekannt hat und schwerlich genaue Aufzeichnungen über seine Träume und deren Datum hinterlassen haben wird, ganz abgesehen davon, dass nach den neuesten Forschungen höchst wahrscheinlich gar nicht der eigentliche ,,Napoleonstag“ der 15. August 1769, sondern der 7. Januar 1768 der Geburtstag des großen Korsen ist.

Alle die unendlich zahlreichen Geschichten von wunderbaren Vorgängen in der leblosen Welt und Ahnungen und Wahrträumen der Menschenwelt, welche außerordentliche Ereignisse begleitet haben sollen, lösen sich, wenn sie einer näheren Betrachtung überhaupt zugänglich sind, in Legenden auf, in Erdichtungen, die unter Umständen hohen poetischen, aber nie den geringsten wissenschaftlichen Wert haben. Wo wirklich einmal ein außerordentliches Naturereignis mit einem bedeutsamen Vorgang in der Menschenwelt zusammenfällt, wie die Unwetter während Napoleons und Beethovens Tod oder das Erdbeben von Lissabon am Vortage von Marie Antoinettes Geburt, da berechtigt uns nichts, einen inneren Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen anzunehmen und in dem Vorfall mehr zu sehen als einen ganz gewöhnlichen Zufall. Wäre der brandenburgische Kurfürst Johann Sigismund ein Genie gewesen wie etwa sein Enkel, Kurfürst Friedrich Wilhelm — wie würden die Mystiker immer und immer wieder darauf hinweisen, dass unmittelbar nach seinem Geburtstage (8. November 1572) plötzlich der Tychosche Stern aufflammte, der größte und berühmteste aller je erschienen „neuen Sterne“! Was für Hoffnungen knüpften sich an den unter solchen Wahrzeichen geborenen Thronerben! Aber Johann Sigismund wurde kein Genie, sondern ein ganz gewöhnlicher Durchschnittsmensch, und das himmlische Wahrzeichen strafte diejenigen Lügen, die ihm eine prophetische, mystische Bedeutung beimessen wollten. Doch davon spricht man nicht, gemäß dem psychologischen Gesetz, dass nicht eingetroffene Prophezeiungen vergessen werden und nur die zu treffenden im Gedächtnis haften, mögen sie auch legendarisch sein!

Da Johann Sigismund ein unbedeutender Mann wurde, werden nun wohl auch die Mystiker nicht anstehen, die Gleichzeitigkeit seiner Geburt und der Erscheinung des neuen Sternes als zusammenhanglos anzusehen. Das Zusammentreffen war ein Zufall.

Ein „Zufall!“ Schon oben war es als ein Zufall bezeichnet, dass gerade am Todestage Napoleons St. Helena von einem Orkan verwüstet wurde. Der Mystiker wird diese Bezeichnung nicht akzeptieren und mit überlegenem Philosophenstolz sagen: „Es gibt keinen Zufall!“ Es ist hier nicht der Ort, sich über die Bedeutung und Berechtigung dieses Wortes auseinander zusetzen, der Ausdruck soll hier nur in seiner landläufigen Bedeutung angewendet werden, wie sie vom Leben des Alltags geprägt worden ist. Wenn eine kostbare Glasvase umfällt, ohne zu zerbrechen, oder wenn ich beim Kartenspiel im Skat grade die beiden Karten finde, die mein Spiel sichern, so ist das ein glücklicher Zufall, und wenn ich einen Menschen, den ich in einer wichtigen Angelegenheit eilig sprechen muss, ausnahmsweise zu gewohnter Stunde nicht an gewohnter Stelle treffe, oder wenn mir ein Stäubchen auf der Straße ins Auge fliegt, so ist dies ein unglücklicher Zufall. „Zufällig“ nennen wir die Verknüpfung zweier Ereignisse, für die irgend ein erkennbarer Grund, warum die Sachlage sich gerade so und nicht anders gestaltet hat, nicht vorliegt. Ob noch eine tiefere, mystische, unsren Sinnen und unsrem Verstände nicht erkennbare hypothetische Beziehung zwischen beiden Ereignissen vorliegt, die den Ausdruck „Zufall“ nicht berechtigt erscheinen lassen könnte, ist dabei vollkommen gleichgültig. Denn eine mystische Beziehung, die nur möglicherweise vorhanden sein kann, die aber durch keine bekannten Mittel zu beweisen ist, darf die Forschung mit Fug und Recht ignorieren. ,,Warum soll ich mir über Möglichkeiten den Kopf zerbrechen?“ sagt Dessoir einmal sehr treffend; die Wissenschaft hat sich mit Tatsachen und nicht mit Möglichkeiten zu befassen, und ein dickes Buch voll geistreicher philosophischer Spekulationen vermag nicht den kleinsten, streng logischen Nachweis zu ersetzen.

Wir dürfen mit dem Begriff des Zufalls rechnen. Wo nicht der geringste innere Zusammenhang zwischen zwei Ereignissen besteht, wo in keiner Weise das eine als die Ursache des andern erkannt werden kann, da liegt eben ein zufälliges Zusammentreffen vor. In diesem Sinne sind die Begleiterscheinungen bei Christi, bei Napoleons und Beethovens Tod, bei Christi und Johann Sigismunds Geburt als zufällig zu betrachten; in diesem Sinne aber darf man gelegentlich selbst die tatsächliche Erfüllung von Ahnungen in die Ferne und in die Zukunft als Zufall betrachten.

Warum soll es nicht einmal vorkommen, dass ein Kind überfahren wird, dessen nervöse Mutter alltäglich bei jeder kurzen Abwesenheit des Kindes die Gefahren des Überfahrenwerdens fürchtet? Warum soll nicht einmal eine Kartenlegerin oder irgend eine andere Person, die sich mit Wahrsagungen, in betrügerischer oder nicht betrügerischer Absicht, abzugeben pflegt, das Glück haben, jemandem etwas richtig zu prophezeien, z. B. dass er in 24 Stunden einen sehr erfreulichen Brief erhält oder in eine schwere Lebensgefahr gerät? Wird die Ahnung, die in hundert anderen Fällen gegenstandslos war, die Wahrsagung, die sich bei denselben Menschen in hundert anderen Fällen als Humbug erwies, dadurch zu einem regelrechten, mystischen Vorherfühlen? Der Spiritist ist ohne weiteres geneigt, diese Frage zu bejahen; der kritische Forscher aber muss sich sagen: es liegt höchst wahrscheinlich ein „zufälliges“ Zusammentreffen vor; erst wenn die Zahl der zutreffenden Fälle das Maß der mathematischen Wahrscheinlichkeit erheblich übersteigt, darf man eine innere Beziehung, einen mystischen Zusammenhang zwischen Prophezeiung und Ereignis annehmen. Wenn unter zehn Dreizehnergesellschaften eine ist, bei der ein Teilnehmer im Laufe des nächsten Jahres stirbt, so ist das ein Zufall, der dem Maße der mathematischen Wahrscheinlichkeit ungefähr entsprechen wird; stirbt jedoch von den zehn Gesellschaften in neun Fällen je ein Teilnehmer im Laufe des nächsten Jahres, so verdient die Sache Beachtung, eine wissenschaftliche Untersuchung und dann — eine Prüfung an einer erheblich größeren Menge von Material.

Römischer Überlieferung zufolge soll die Nachricht vom Siege bei Pydna (168 v. Chr.) schon am Schlachttage selbst in Rom bekannt gewesen sein. Man sah darin in jener wundergläubigen Zeit ein großes Wunder; man behauptete, das Dioskurenpaar, Castor und Pollux, hätte die Nachricht so schnell nach Rom gebracht, und viele gab es natürlich auch, die die Dioskuren mit eigenem Auge gesehen haben wollten. An die Vermittlung von Castor und Pollux glaubt man heut nicht mehr; wie aber hat man sich jenen seltsamen Vorfall — vorausgesetzt, die Überlieferung entspräche den Tatsachen — zu erklären ? Man könnte darin eine echte Ahnung in die Ferne sehen — aber darf man das wirklich?

Man möge bedenken, wie während jedes Krieges, in neuester ebenso wie in ältester Zeit, unkontrollierbare Gerüchte an allen Ecken und Enden wie Pilze aus der Erde aufschießen. Unzählig oft schwirren Gerüchte von ungeheuren Siegen oder furchtbaren Niederlagen umher — Niemand weiß, woher sie kommen: sie sind da und erhitzen die Köpfe, und wenn sie nach einiger Zeit als Phantasiegeburten erkannt werden, so sind sie auch schon wieder vergessen. Sicherlich ging es in dieser Beziehung im alten Rom ebenso her, wie gegenwärtig im modernen Petersburg und Mukden und Tokyo; ja, es wird damals, wo keine raschen telepathischen Erkundigungen und Aufklärungen möglich waren, wohl noch ärger hergegangen sein als heutzutage. Ist es unter solchen Umständen wirklich so sehr wunderbar, wenn ein Gerücht von einem großen Sieg sich dereinst einmal an einem Tage in Rom verbreitete, an dem wirklich grade die Entscheidungsschlacht geschlagen und gewonnen wurde? Muss man deswegen das schwere Geschütz einer echten Ahnung in Bewegung setzen, oder ist die Annahme einleuchtender, dass ein zufälliges Zusammentreffen stattgefunden hat, dass auf hundert falsche Gerüchte endlich einmal ein zufällig mit den Tatsachen übereinstimmendes, wahres entfiel?


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zu Wunder und Wissenschaft