5. Die Bedeutung der unbewussten Schlüsse

Dem unbewussten Gedächtnis gesellen sich die unbewussten Schlüsse hinzu, um gelegentlich Wahrträume und Vorahnungen zustande zu bringen, und zwar insbesondere die warnenden Träume. Auf den Laien, der mit der psychologischen Entstehung der Träume nicht vertraut ist, müssen grade diese Warnungsträume unbedingt den Eindruck machen, als ob eine höhere geistige Macht, ein Schutzengel oder ein Geist eines verstorbenen, teuren Wesens oder gar die göttliche Vorsehung selbst dem Schlafenden warnend eine drohende Gefahr ankündigte und die Zukunft enthüllte. Ein mir befreundeter Oberlehrer träumte einst, dass die kalte Totenhand seines kürzlich verstorbenen Vaters ihn berühre. Vor Schreck erwacht, nahm er ein leises Zischen wahr, und es stellte sich bei einer sofortigen Untersuchung heraus, dass der Gashahn offen stand und dass das Leuchtgas ausströmte. Sein Unterbewusstsein hatte dies wahrgenommen, die drohende Lebensgefahr erkannt und in Form eines symbolischen Traumes den Schläfer gewarnt. Der Psychologe sieht in diesem Traum lediglich einen unterbewussten, logischen Schluß des Träumenden, dass ihm Gefahr droht, während der Spiritist nicht zögert, darin eine Offenbarung des Geistes des toten Vaters zu erblicken, der seinen Sohn schützt und warnt.

Genau ebenso verschieden lautet die Erklärung der beiden Weltanschauungen für gewisse warnende Vorgefühle des Wachzustandes: wenn ein Mensch sich, von einer unbestimmten Unruhe getrieben, meinetwegen von seinem Schreibtisch erhebt und dadurch der Gefahr des Erschlagenwerdens entgeht, weil kurz nach erfolgtem Aufstehen ein großes Stück Stuck auf seinen eben verlassenen Stuhl niederfällt, so sieht der Spiritist in der Rettung das Werk eines geheimnisvollen Schutzgeistes, während der Naturwissenschaftler und Psychologe darin die Wirkung eines unbewussten Schlusses erblickt, indem er behauptet, der Mensch habe — bewußt oder unbewusst — ein verdächtiges Knacken an der Decke gehört und sei deshalb beunruhigt aufgestanden, vielleicht ohne einen bestimmten Grund für diese zweckmäßige Handlung angeben zu können, die ihm das Leben rettete.


Wir wissen, dass verdächtige Geräusche den Schlafenden leicht zu wecken vermögen und den Geistesabwesenden sofort aufmerken lassen; wir wissen auch, dass beim Schlafenden dadurch Schreckträume, die zum Erwachen führen, ausgelöst werden können, deren wirkliche Dauer nur Bruchteile einer Sekunde betragen kann, da das Erwachen fast momentan auf das Geräusch erfolgt, während die scheinbare Dauer eine sehr bedeutende sein kann. Somit liegt wieder die Gefahr eines Trugschlusses vor, indem Schreckträume, die ihrerseits die Folge eines verdächtigen Geräusches sind, leicht als die erste Ursache des rechtzeitigen Erwachens nachträglich aufgefasst werden und somit als übersinnliche Warnungsträume erscheinen können. So hört etwa ein Schlafender nachts im Nebenzimmer oder am Fenster ein verdächtiges Geräusch, das in ihm einen Schrecktraum von Einbrechern usw. auslöst; findet er nun, wenn er durch den Schreck erwacht ist, wirklich einen Einbrecher, so wird er, wenn er mystisch veranlagt ist, ohne weiteres annehmen, dass ein guter Schutzgeist ihm im rechten Moment eine Warnung vor der nahen Gefahr in Form eines Traumes hat zugehen lassen: und die spiritistische Literatur wird um einen neuen, sensationellen Fall bereichert! In ganz ähnlicher Weise würde auch folgender Fall zu erklären sein, der vor einer Reihe von Jahren durch die Tagespresse ging, was freilich die Glaubwürdigkeit dieser Räubergeschichte noch nicht erhärtet: ein Reisender sollte in einem etwas unheimlich anmutenden Wirtshaus übernachtet und mitten in der Nacht, von einem Gefühl der Unruhe getrieben, das Bett gewechselt haben, worauf seine erste Lagerstätte von zwei Gewehrkugeln durchbohrt wurde, die vom Fenster her darauf abgegeben wurden. Auch hier hat vermutlich ein verdächtiges Geräusch, in Verbindung mit dem Misstrauen des Reisenden gegen den Wirt oder die andren Gäste den Wechsel des Lagers veranlaßt, durch den das Verbrechen vereitelt wurde. Der „rettende Wahrtraum“ oder die „unbestimmte Ahnung“ sind tatsächlich vorhanden gewesen; nur verlieren sie bei Kenntnis der näheren Umstände vollkommen jeden mystischen Charakter.

Bekanntlich soll vor der Schlacht bei Philippi dem Brutus der Geist des ermordeten Caesar mit den Worten erschienen sein: „Bei Philippi sehen wir uns wieder“. Vorausgesetzt, dass der Bericht in dieser Form den Tatsachen überhaupt entspricht, berechtigt auch hier nichts an eine zukunftsentschleiernde Vorahnung des Brutus oder gar an eine wirkliche intellektuelle Kundgebung des Ermordeten zu glauben. Vielmehr war die Geistererscheinung eine sowohl den Gesichts- wie den Gehörssinn treffende Halluzination oder auch Illusion, die die erregten Sinne dem verdüsterten Gemüt des Brutus vorgaukelten, vielleicht sogar nur ein besonders lebhafter Traum, und angesichts der kriegerischen Situation war die „Vorahnung“ der unbewusste Schluss, dass es in der Ebene von Philippi zur Entscheidungsschlacht kommen müsse, offenbar nicht grade allzu fernliegend.

Wie in diesem Fall, so ist es auch sonst nicht selten das böse Gewissen, das die nachher als Wahrträume erscheinenden Schreckträume auslöst. Jemand hat unrecht an einem Andern gehandelt, und im Traume malen sich ihm die möglichen Folgen seiner Handlungsweise in den schwärzesten Farben aus. Treten nun diese oder ähnliche Folgen nachher wirklich ein, so meint er, ein Wahrtraum habe ihm zukünftige Ereignisse enthüllt; treten sie nicht ein, so hat er eben „bloß geträumt!“

Unter die Kategorie der unbewussten Schlüsse und Wahrnehmungen gehören auch die Wahrträume, welche dem Schlafenden den nahen Tod oder Krankheiten oder Verletzungen prophezeien. Das Unterbewusstsein nimmt eben im Schlaf organische Veränderungen wahr, die dem wachen Oberbewusstsein noch entgangen sind. Zwei Fälle werden zur Erläuterung des Gesagten dienen.

Perty berichtet (II, 378): „Arnold de Villa Nova träumte, er werde von einer schwarzen Katze in den Fuß gebissen; am nächsten Tage entstand an der gleichen Stelle ein krebsartiges Geschwür. — Conrad Geßner träumte, er werde von einer Schlange gestochen; es entstand in den nächsten Tagen eine Pestbeule an seiner linken Brust, und am fünften Tage nach dem Traume starb er.“

Bei diesen und zahlreichen ähnlichen Fällen sieht der nüchtern urteilende Psychologe und Physiologe in dem Traum nur eine Folge der beginnenden organischen Zustandsänderung, der Mystiker nimmt dagegen ohne weiteres als erwiesen an, dass umgekehrt die Zustandsänderung eine Folge des Traumes ist, was natürlich auf eine Vorahnung der Zukunft, also einen Wahrtraum, hinauslaufen würde. Jeder übersinnliche Charakter verschwindet aus derartigen Geschichten, wenn man sich gegenwärtig hält, dass das Unterbewusstsein irgend eine Sinneswahrnehmung früher als das Oberbewusstsein aufzufassen vermag, was durch zahlreiche Alltagserlebnisse bewiesen wird.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zu Wunder und Wissenschaft