4. Die Bedeutung des latenten Gedächtnisses

Zu den drei psychologischen Tatsachen gesellen sich nun aber noch weitere Umstände, welche einen wirklichen oder scheinbaren Erfolg der Wahrträume und Vorahnungen gelegentlich gewährleisten können. Das Gegenstück zu den Erinnerungstäuschungen, welche nachträglich deuteln und erdichten, um eine Übereinstimmung zwischen dem Geahnten und dem wirklich Geschehenen zu erzielen, sind die vergessenen Erinnerungen, welche in Momenten eingeengten Bewusstseins plötzlich vor die Seele treten und dann als etwas ganz Neues und Unbekanntes empfunden werden. Eine große Reihe von höchst überraschenden Wahrträumen und Vorahnungen sind darauf zurückzuführen, dass latente Eindrücke des Gedächtnisses im Schlaf oder in einem hypnoiden Zustand ins Oberbewusstsein treten und dann zu Enthüllungen und Wahrprophezeiungen Anlaß geben können, über deren Eintreffen sich nachher das anscheinend wahrträumende und vorahnende Medium selbst vielleicht am meisten wundert.

Schon der früher mitgeteilte Traum Delages zeigte uns, wie derartige Wahrträume entstehen können: in diesem Fall ließ sich ausnahmsweise einmal der sichere Nachweis führen, dass ein unterbewusster Sinneseindruck, eine latente Erinnerung den Traum bedingt hatte. Aber in den weit zahlreicheren Fällen, wo ein solcher Nachweis nicht möglich ist, wird mit Sicherheit der Eindruck erweckt, dass entweder eine Ahnung in die Ferne oder ein Hellsehen in die Vergangenheit stattgefunden habe. Folgende Beispiele, die sicherlich sämtlich auf das Wiederauftauchen vergessener Erinnerungen zurückzuführen sind, werden ein Bild davon geben, in wie rätselhafter und geheimnisvoller Gewandung sich solche Wahrträume und Ahnungen dem Wundergläubigen und auch dem Skeptiker, kurz jedem, der in psycho-pathologischen Dingen Laie ist, zu präsentieren pflegen.


Alfred Lehmann berichtet: „P. war in einer Landapotheke angestellt. Eines Abends, als er zu Bett gehen wollte, vermißte er sein Schlüsselbund und konnte es trotz langen und sorgfältigen Suchens nicht finden. Nachts träumte ihm, dass er auf einer Bank im Garten säße und die Schlüssel auf einen Zweig des Holunderbusches, der an der Bank stand, hängte. Er erinnerte sich am nächsten Morgen dieses Traumes und fand die Schlüssel auch wirklich im Holunderbusche. Hier hatte er sie im Laufe des Tages natürlich unbewusst, ,,in Gedanken“ hingehängt; im Traum tauchten diese unbewussten Vorstellungen wieder auf.“

Unter zahlreichen andren, meist wenig verbürgten und unzuverlässigen Fällen berichtet Perty z.B. den folgenden: „Eine Predigersfrau, die äußerst bekümmert um eine verlegte Quittung für eine Geldsumme ist, die ihr Mann bezahlt hatte, träumt, ihr verstorbener Mann komme zu ihr und sage ihr, die Quittung läge in einem verborgenen Fach seines Schreibtisches in einem rotsamtenen Beutel, was wirklich der Fall war.“ Hier gesellte sich zu der unbewussten Erinnerung vielleicht noch ein unbewusster Schluß. Die Traumerscheinung des verstorbenen Gatten ist natürlich nur eine poetische Einkleidung der zum Oberbewusstsein emporsteigenden Erinnerung. Ähnliche, gut verbürgte und durchaus glaubwürdige, aber auch gar nicht mystische Geschichten sind zahlreich vorhanden.

Dass aber nicht nur im Schlaf, sondern auch in allen schlafähnlichen pathologischen Zuständen, insbesondere im Trancezustand, latente Erinnerungen zu den seltsamsten Gesichten und Wahrsagungen Anlaß geben können, mögen die folgenden Fälle aus den besonders zuverlässigen und gut beglaubigten Beobachtungen bezeugen, welche eine Engländerin, Miß Goodrich, unter dem Namen „Miß X.“, systematisch anstellte, um in streng wissenschaftlicher Weise höchst wertvolle Aufschlüsse über Ahnungen, Halluzinationen, Krystallomantie usw. zu geben.

Das Krystallsehen ist eine der Formen der Wahrsagungen, welche sich bei fast allen Völkern der Erde in überall ziemlich ähnlicher Weise finden: der Wahrsager starrt unverwandt auf irgend eine blanke Fläche, ein Metallstück, eine Wasserfläche, einen Krystall, eine Glaskugel oder auch in eine Rauchmasse (Pythia, Hexe von Endor), in die menschliche Handfläche, in Kaffeegrund, Eiweiß usw. und sieht nach einiger Zeit, wenn er durch das Starren in einen hypnoseähnlichen Zustand verfallen ist, in der betrachteten Fläche Gesichte, welche von ihm durch autosuggestive Einbildung gedeutet und als Wahrsagungen verkündet und beschrieben werden. Die Forschungen der Miß X. haben nun gezeigt, dass bei diesen Gesichten ganz besonders gern latente Erinnerungen des Wahrsagenden Gestalt gewinnen und dass die Produktionen demgemäss wirklich unter Umständen den Eindruck einer höheren, übersinnlichen Weissagung machen können.

Miß X. erzählt z. B.: „Ich sehe im Krystall ein Stück einer dunklen Mauer, von einem weißen Jasminstrauch bedeckt, und frage mich: ,Wo kannst du dies gesehen haben?‘ Ich entsinne mich nicht, an einem solchen Platze, der doch in den Straßen Londons nicht gerade häufig zu finden ist, gewesen zu sein, und nehme mir vor, morgen denselben Weg zu gehen, den ich heute ging, und auf solche Mauer achtzugeben. Der nächste Tag bringt die Lösung des Rätsels. Ich finde wirklich die Stelle und erinnere mich nun auch, dass ich von einem Gespräche mit einem Begleiter ganz in Anspruch genommen war, als ich am vorhergehenden Tage an der Mauer vorüberging.“

Miß X. konnte sich mit solcher Sicherheit darauf verlassen, dass der Krystall ihre latenten Erinnerungen widerspiegeln würde, dass sie sich des Krystallschauens direkt bediente, um Vergessenes sich wieder ins Gedächtnis zu rufen — eine Wahrsagertätigkeit in aller Form, nur ohne mystischen Hintergrund! Einer dieser Fälle ist z. B. der folgende: „Aus Nachlässigkeit hatte ich einen Brief fortgeworfen, ohne mir die Adresse des Absenders zu merken. Ich erinnerte mich, in welcher Gegend des Landes er wohnte, und beim Nachsehen auf der Landkarte fand ich auch den Namen der Stadt, den ich freilich vergessen hatte, der mir aber wieder einfiel, als ich ihn auf der Karte erblickte. Aber für den Namen der Straße oder des Hauses hatte ich absolut keinen Anhaltspunkt. Da bekam ich die Idee, meinen Krystall auf die Probe zu stellen, und richtig, nach kurzer Zeit zeigte sich mir in grauen Buchstaben auf weißem Grunde das Wort ,Hibbs House‘ In Ermangelung einer besseren Auskunft wagte ich, meinen Brief mit dieser Adresse, zu der ich auf etwas ungewöhnliche Weise gelangt war, zu versehen. Wenige Tage nachher bekam ich Antwort; oben auf dem Bogen stand mit grauen Buchstaben auf weißem Papier: ,Hibbs House‘.“

Derartige Beobachtungen werfen ein helles Schlaglicht auf so manche scheinbar wunderbare Leistung der alten Wahrsager und auch — der heutigen spiritistischen Medien. Wir werden im zweiten Band noch weitere, überraschende Beispiele hiervon kennen lernen. Hier sei nur noch darauf hingewiesen, dass die latenten Erinnerungen zuweilen in einer seltsam verschnörkelten, gar nicht wiederzuerkennenden Form wiedergespiegelt werden, zu deren Aufklärung und Deutung ein ordentliches Studium gehört — grade wie bei den allertiefsten, eingekleideten, anfangs unverständlichen und grade darum am höchsten geachteten Weissagungen.

So erzählt Miß X. von einer andren Dame, die im Krystall in leuchtend roter Farbe eine ihr unverständliche, lange Buchstabenreihe wahrnahm und aufnotierte: detnawaenoemosotniojaetavirpelcrictsumebgnilliwotevigsevlesme htpuotehttcejbus. Nach längerem Grübeln über den Sinn dieser Wahrsagung entdeckte sie, dass es die rückwärts geschriebenen Worte einer Zeitungsannonce waren, die sie kurz zuvor offenbar unbewusst, „in Gedanken“ gelesen hatte, ohne sie irgendwie zu beachten: ,,Wanted a someone to join a private circle, must be willing to give themselves up to the subject”

Man denke sich nun die drei vorstehenden Berichte einmal ohne das wissenschaftlich-exakte Beiwerk dargestellt, und man hat, insbesondere bei dem „Hibbs House“-Vorkommnis, einige denkbar charakteristische Fälle von eingetroffenen Wahrsagungen und scheinbarem Hellsehen vor sich, die an Seltsamkeit nichts zu wünschen übrig lassen und jeder spiritistischen Sammlung von mystischen Wunder-Wahrsagungen und hellseherischen Ahnungen Ehre machen würden. Und doch lässt sich alles ohne übersinnliche Kräfte mit Hilfe des Unterbewusstseins und der latenten Erinnerungen ohne Schwierigkeit erklären!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zu Wunder und Wissenschaft