3. Die Bedeutung der intellektuellen Fehlerquellen für vermeintliche Wahrträume und Vorahnungen

Die erste dieser Fehlerquellen bezog sich auf die Unbestimmtheit der Vorzeichen. Eine Beziehung zwischen geträumten bzw. geahnten Vorgängen und wirklich eingetretenen Ereignissen herauszufinden, ist natürlich gleichfalls zumeist nicht schwer. Es pflegen dabei auch oft Erinnerungstäuschungen mit unterzulaufen. Jemand hat etwas Unangenehmes geträumt, doch weiß er nicht mehr den Inhalt des Traumes und fühlt sich nur allgemein verstimmt; erhält er nun im Laufe des Tages wirklich irgend eine unangenehme Nachricht, so wird er sich einbilden, wenn er abergläubisch ist, dass der Traum ihn in mystischer Weise auf die unangenehme Nachricht vorbereiten wollte; womöglich bildet er sich gar ein, er habe das, was ihm bei Tage begegnete, nachts zuvor geträumt. Das Beispiel vom Traum von einer Feuersbrunst hat uns bereits gezeigt, auf wie viele verschiedene Weisen wunderbare Ähnlichkeiten zwischen einem unbestimmten Traum und einem auf ihn folgenden wahren Ereignis post eventum (nach Eintritt des Geschehnisses) herausgetiftelt werden können, die bei sachlicher, nüchterner Betrachtung entweder verschwinden oder doch ihren wunderbaren Charakter gänzlich einbüßen.

Ein Herausheben nebensächlicher Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten zwischen Vorahnung und Ereignis, verbunden mit einem sorglosen Hinweggleiten über die keineswegs ähnlichen Hauptpunkte, unterstützt die den Aberglauben fördernde Rolle, welche die Unbestimmtheit der Ahnung oder Prophezeiung oftmals spielt. Ein großer Bruchteil der sogenannten Wahrträume und Vorahnungen der mystischen Schriften ist darauf zurückzuführen. Parish berichtet von einer Dame, die es als höchst bedeutungsvolle, wunderbare Vorahnung empfand, dass sie eines nachts träumte, ihr Gut würde um den Preis von 750.000 Pudeln verkauft, während es bald darnach für 750.000 Mark wirklich verkauft wurde. Die Ähnlichkeit wird dabei in ihrer Bedeutung überschätzt, weil ausschließlich auf die in beiden Fällen gleiche Zahl Wert gelegt wird, wobei zu beachten ist, dass der ungefähre Verkaufswert natürlich von vornherein bekannt war; der charakteristische Unterschied, dass die Pudel, diese hervorstechendste Eigentümlichkeit des Traumbildes, bei dem wirklichen Ereignis keine Rolle spielen, wird übersehen. Ja, der Traum wird um so interessanter dadurch, dass die Dame allmählich die Pudel-Affäre vergaß und sich nach eingetretenem Ereignis einbildete, sie habe die Kaufsumme von 750.000 Mark im Traume richtig vorgeahnt.


Ist aber gar keine Ähnlichkeit zwischen einem Traum und den nachfolgenden Ereignissen zu entdecken, so tritt das zweite psychologische Gesetz in Kraft, von dem oben die Rede war: die unbequemen Fälle werden vergessen! Dann lag eben kein Wahrtraum vor, sondern einer von den gewöhnlichen Träumen, die bekanntlich Schäume sind. Der Wunderdürstige hat es ja in seiner Hand, nach Belieben die Träume, die für seine Ansicht sprechen, als vorahnende Wunder- und Wahrträume, alle andern aber als bedeutungslose Phantasien des schlafenden Gehirns auszugeben. Die zutreffenden Fälle werden behalten, die nichtzutreffenden werden vergessen. Auf diesem psychologischen Gesetz beruht seit den ältesten Zeiten der Menschheit der große Einfluss der Traumdeutung, durch dies Gesetz allein ist auch in unsren Tagen noch die große Verbreitung der Traumbücher beim ungebildeten Volke und der unerschütterliche Glaube an die Zuverlässigkeit der Traumdeutungen, des Kartenlegens und der sonstigen zahllosen Formen der Wahrsagungen zu erklären, ebenso der stets neue Erfolg der törichtesten Prophezeiungen. Der Untergang der Welt, der bevorstehende jüngste Tag sind schon viele Tausende von Malen prophezeit, viele Tausende von Malen geglaubt und gefürchtet worden; dass alle diese Verkündigungen unbestätigt geblieben sind, ist völlig vergessen, und wenn das Gerücht vom nahe bevorstehenden Weltuntergang zum tausendundersten Male aufkommt, findet es doch sicherlich eine nicht minder große begeisterte Gläubigenschar als in den tausend voraufgegangenen Fällen.

Wenn der Mystiker träumt, dass ein schwerkranker Freund gestorben sei, und einige Zeit später wirklich die Todesnachricht empfängt, so zögert er nicht, einen Wahrtraum anzunehmen; ebensowenig, wenn er träumt, dass er ein bevorstehendes Examen glücklich bestanden habe, das er dann am nächsten Tage wirklich besteht, oder wenn er im Januar träumt, dass es schneit, und am nächsten Tage schneit es wirklich. Wenn aber der Freund wieder gesund oder das Examen nicht bestanden wird oder der Traum vom Schneefall im Juli stattfand, so hatte eben der Traum keine tiefere Bedeutung, oder aber — selbst zu solchen logischen Ungeheuerlichkeiten kann sich das Bedürfnis nach Mystizismus versteigen — der Traum wollte den Gläubigen nur „foppen“, indem er prophetisch das Gegenteil von dem ankündigte, was wirklich geschehen würde.

Da greift denn das dritte der oben aufgezählten psychologischen Gesetze ein: das Deuteln an dem Sinn der Vorahnung, um eine Übereinstimmung zwischen dieser und dem wirklichen Ereignis geradezu zu erzwingen. Die Theorie der „foppenden“ Träume, die uns „ironisch“ anzeigen, was nicht eintrifft, gestattet tatsächlich jedem Traum einen mystischen, prophetischen Charakter beizulegen; und wie selbst kritisch veranlagte, gebildete und bedeutende Leute dieser grotesken Theorie huldigen können, beweist am besten der gelehrte Perty, der allen Ernstes schreibt „Träume deuten öfters grade das Gegenteil von dem an, was eintreten soll, wie in einem Traume der Todestag als Geburtstag, in einem andern als feierliche Vermählung sich darstellte; Tränen manchmal ein Vergnügen, Lustigkeit, Schmerz, ein Sarg eine Hochzeit, Tanz und Spiel Händel, Kot Geld, blühende Lilien Verachtung vorbedeuten.“

Nicht immer braucht aber die nachträgliche Deutung zu so verzweifelten Mitteln zu greifen, um den Wundercharakter einer Vorahnung auffällig zu machen. Zuweilen dichtet post eventum die Erinnerung an den Traum, zumal wenn dieser schon weit zurück liegt, Einzelheiten hinein, die, infolge ihrer Übereinstimmung mit dem wirklichen Ereignis, den Wundercharakter des Wahrtraums eigentlich erst bedingen, die aber dem ursprünglichen Traum gänzlich fremd waren. Ein Beispiel dieser Art findet sich bei Perty:

„Als Happach im 17. Jahre einmal höchst ermüdet auf einem Grabhügel einschlief, träumte er, er komme nach Mehringen in eine Stube der Pfarrwohnung, wo er zu seiner Verwunderung neben der Türe drei übereinander gemauerte Sitze traf. ,Nach mehr als 20 Jahren bekam ich den Ruf als Prediger hierher: ich war vormals nie hier gewesen und besuchte jetzt, ehe ich noch anzog, vorher die Witwe. Sie empfing mich in der Haustüre, und ehe sie mich noch in ihre Wohnstube führte, machte sie mir die andere Stubentüre auf; ich sah hinein, und ich war schon darin gewesen; ich fand die drei übereinander gemauerten Sitze, wie ich sie im Traume gesehen; ich wunderte mich darüber und hörte, dass es die Decke eines Kellerhalses war‘.

Dieser Bericht klingt — wie alle ähnlichen — zunächst höchst frappierend. Es ist jedoch dazu zu bemerken, dass erstens einmal das unbestimmte Gefühl, man habe einen unbekannten Ort schon einmal gesehen, eine bestimmte Situation schon einmal bis in alle Einzelheiten durchlebt, ein Allgemeingefühl ist, das die meisten Menschen gelegentlich einmal empfinden, ohne dass ein objektiver oder subjektiver Grund der irrigen Empfindung gefunden werden kann. Zweitens aber versuche man einmal, sich gleichgültige Einzelheiten eines besonders lebhaften und in der Erinnerung haftenden Traumes zu vergegenwärtigen, den man vor zwanzig Jahren einmal gehabt hat — und man wird sogleich den Wundercharakter des Happachschen Traumes mit ganz andren Augen ansehen: die nachträgliche Deutelung an den Einzelheiten des Traumes, die unbewusste Unterschiebung der Einzelheiten des wirklichen Ereignisses an die Stelle der unbestimmten und größtenteils vergessenen Einzelzüge des Traumbildes verleihen diesem erst den wunderbaren Charakter als Vorahnung und Wahrtraum. Wäre der wirkliche Traum sogleich aufgezeichnet worden, so dass er zum Vergleich mit dem Ereignis selbst herangezogen werden könnte, so würden ihm sicherlich grade die wichtigsten Einzelheiten (die drei übereinander gemauerten Sitze, vielleicht auch der Name Mehringen), die ihm den Charakter des Wunderbaren verleihen, fehlen. Alle derartigen nachträglich niedergeschriebenen Berichte beruhen auf Erinnerungstäuschungen, auf suggerierten Erinnerungen!

Unter dieses Kapitel des nachträglichen Deuteins gehört nun sicherlich, wenigstens in seinem wichtigsten Teile, auch derjenige Fall einer Vorahnung, der von allen derartigen Berichten wohl der berühmteste und bekannteste ist: die seltsame Doppelgängererscheinung, die dem von Sesenheim zum letzten Male nach Straßburg zurückkehrenden jungen Goethe auf seinem Wege begegnete. Goethe schreibt darüber (Dichtung und Wahrheit, Buch 11):

„Ich sah nämlich, nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes, mich mir selbst denselben Weg zu Pferde wieder entgegenkommen und zwar in einem Kleide, wie ich es nie getragen; es war hechtgrau mit etwas Gold. Sobald ich mich aus diesem Traume aufschüttelte, war die Gestalt ganz hinweg. Sonderbar ist jedoch, dass ich nach acht Jahren in dem Kleide, das mir geträumt hatte und das ich nicht, aus Wahl, sondern aus Zufall gerade trug, mich auf demselben Wege befand, um Friederiken noch einmal zu besuchen“.

Wunderbar an diesem Bericht ist lediglich der Hinweis auf die Gleichheit der Kleidung, die 1771 der Doppelgänger und 1779 der leibhaftig nach Sesenheim reitende Goethe angeblich getragen haben sollen; denn sonst enthält der Goethesche Bericht nicht allzu Merkwürdiges oder Außergewöhnliches. Dass die heftige Gemütserregung des Scheidenden und seine bange Frage, ob er noch einmal die Geliebte wiedersehen würde, sich zu einer Halluzination steigerten (vielleicht auch nur zu einer Illusion, indem er sich selbst an die Stelle eines zufällig ihm entgegenkommenden Reiters wünschte), hat nichts Überraschendes an sich, denn ganz gesunde Menschen werden weit häufiger von Halluzinationen befallen, als man im allgemeinen glaubt, zumal in einem Zustand hochgradigen Affekts und psychischer Depression, wie sie damals bei Goethe zusammentrafen.

Es handelte sich in diesem berühmten Fall also wahrscheinlich nicht um ein zweites Gesicht, nicht um eine Doppelgängererscheinung, sondern um eine ganz gewöhnliche Halluzination, um einen sehr lebhaften Wachtraum des Dichters. Und das einzig Wunderbare an dem Bericht, die Tatsache, dass er grade in dem Kleide nach Sesenheim zurückkehrte, „das ich geträumt hatte und das ich nicht aus Wahl, sondern aus Zufall gerade trug“, wird genau ebenso zu erklären sein, wie der vorstehende Bericht Happachs: eine autosuggestive Erinnerungstäuschung post eventum dürfte vorgelegen haben und wird um so wahrscheinlicher, als zu der Zeit, da Goethe jenen berühmten Bericht niederschrieb, bereits volle 37 Jahre seit dem Erlebnis vergangen waren! Und ein Goethe war schließlich auch nur ein Mensch, der gegen Erinnerungstäuschungen ebensowenig gefeit war wie gegen Sinnestäuschungen aller Art.

Das nachträgliche Deuteln an den angeblichen Wahrträumen, Vorahnungen und Prophezeiungen spielt also eine sehr bedeutungsvolle Rolle, und zwar auch bei durchaus vorurteilslosen Personen, nicht nur bei wunderlechzenden Mystikern und Spiritisten. Bei diesen freilich steigern sich die nachträglichen Erinnerungstäuschungen nicht selten zu einem Deuteln um jeden Preis, zu wahren Deutelkunststücken:

Bei einigem guten Willen gelingt es ihnen, aus den gleichgültigsten, nichtssagenden Träumen und Gedanken wunderbare Wahrträume und Vorahnungen herauszudestillieren, auf Grund irgend welcher nachträglicher Deutelungen. Der Wundergläubige hat dabei ganz gewiß keine bösen Gedanken und betrügerischen Absichten, sondern er beschwindelt sich selbst in ehrlicher Überzeugung, indem er sich mystische Zusammenhänge vorgaukelt, wo lediglich seine Phantasie eine Beziehung schafft. Wenn er etwa geträumt hat, er kriege grüne Bohnen zu essen, und dann am nächsten Tage zwar dieses Gericht nicht erhält, aber dafür beim abendlichen Billardspiel ein Loch ins Tuch stößt, so wird es ihm sicherlich nicht schwer werden, einen Wahrtraum zu konstruieren, indem etwa die grüne Farbe der Bohnen symbolisch warnend auf das grüne Billardtuch anspielten wollte, das er nunmehr zu bezahlen hat.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zu Wunder und Wissenschaft