1. Die Fehlerquellen der Beobachtung und des Gedächtnisses

Wir kommen nunmehr zu dem umfangreichen Kapitel der Ahnungen im weitesten Sinne des Wortes: der Vorzeichen und Prophezeiungen, des Hellsehens in Zeit und Raum, der Wahrträume, des zweiten Gesichts usw. Ehe wir der Frage näher treten, inwieweit wir bei diesen schwierigen Problemen mit okkulten und mystischen Erscheinungen zu tun haben, wollen wir uns wieder erst Rechenschaft von den sehr mannigfachen Fehlerquellen geben, denen Beobachtung, Erinnerung und Urteil bei der Wertung der unendlich zahlreichen Berichte über okkulte Erlebnisse aus dem Gesamtgebiet der wunderbaren Ahnungen unterliegen müssen.

Im Anschluß an eine große Feuersbrunst kommt etwa ein Mensch daher und behauptet, er habe vor einigen Wochen eben diese Feuersbrunst im Traume vorausgeschaut. Wie soll man sich zu einer solchen Angabe stellen? Für den überzeugten Okkultisten und Spiritisten genügt ein solcher Bericht, um sein umfangreiches Verzeichnis aller Fälle von „sicheren“ und „einwandfreien“ Ahnungen um ein neues, schlagendes Beispiel zu vermehren. Wer aber unvoreingenommen und nur ein wenig psychologisch geschult ist, der muss von vornherein erklären, jenem Zeugnis könne nicht die mindeste Beweiskraft für das Vorkommen mystischer Ahnungen zukommen, denn seine Richtigkeit ließe sich in keiner Weise kontrollieren, beweisen oder widerlegen, und die Annahme, dass in der betreffenden Aussage eine Unrichtigkeit, ein Irrtum oder eine Täuschung vorliege, sei an sich weitaus wahrscheinlicher als die Möglichkeit, dass hier objektiv ein echter Fall der viel umstrittenen und, wenn, überhaupt, so doch sicher nur sehr selten vorkommenden, wunderbaren Vorahnungen vorliege. Und die Fehlerquellen, welche sich in die Auffassung und in die Aussage jenes Menschen eingeschlichen haben können, sind auch dann noch sehr groß, wenn wir jede bewusst falsche Aussage ausschließen, mit der wir es im praktischen Leben oft genug zu tun haben, wenn irgend ein unbedeutender Geist von der Großmannssucht gepackt wird und um jeden Preis renommieren und sich interessant machen muss.


Wenn der betreffende Mensch wirklich von einem Brand eines den Flammen zum Opfer gefallenen Gebäudes geträumt hat — es lässt sich dies unter Umständen beweisen, wenn er etwa vor dem Eintritt des geahnten Ereignisses andern Personen seinen Traum geschildert hat — so wäre festzustellen, ob der Gedanke an ein Niederbrennen jenes Hauses aus irgend welchen besonderen Gründen (z. B. Aufstapeln großer Mengen von feuergefährlichen Stoffen) seit längerer Zeit schon nahe lag, oder auch, ob nicht gar die Erzählung des Feuertraumes suggestiv in einer andern Person den Gedanken an eine Brandstiftung in dem genannten Gebäude erst erweckte. In beiden Fällen würde von einem okkulten Hellsehen natürlich nicht die Rede sein können.

Aber vielleicht hat jener Mensch auch nur ganz allgemein von einem Brand geträumt, und erst nach Eintritt des wirklichen Ereignisses wurde der halbvergessene Traum von ihm mit diesem Geschehnis identifiziert! Auch darin könnte man beim besten Willen schon nichts Mystisches mehr sehen, denn die Tatsache, dass ein Traum von einer Feuersbrunst und ein wirklicher Brand einmal irgendwann und irgendwo zeitlich mehr oder weniger nahe zusammenfallen, hat nicht gerade etwas Rätselhaftes an sich. Oder will man etwa alle die gewiss nicht seltenen Träume von Feuer und Flammen, die z. B. in den letzten Wochen vor dem großen Brand von Aalesund (23. Januar 1904) irgendwo geträumt wurden, als Wahrträume auffassen? Dann würde man allerdings zu einer Art von Statistik kommen, wie sie in den zahlreichen, kritiklosen Sammelbüchern über Fälle von wunderbaren Ahnungen zu Hause ist, und man könnte etwa zu dem verblüffenden Ergebnis gelangen: „Somit sind also nicht weniger als 43 Fälle sicher nachgewiesen, in denen der Brand von Aalesund von begnadeten Medien in prophetischen Träumen vorgeahnt wurde — und angesichts dieses klassischen Resultats von der Wirklichkeit des Hellsehens in die Zukunft wollen materialistische Skeptiker noch einen geheimnisvollen, inneren Zusammenhang zwischen diesen Ereignissen leugnen? Sapienti sati“

Möglichenfalls aber hat auch der von uns angenommene Mensch überhaupt gar nicht von einem Brand geträumt; er erinnert sich nur, in einer jüngst vergangenen Nacht ein Gefühl von lebhafter Unruhe und Erregung empfunden zu haben, wie es der Brand wieder in ihm auslöste: die Ähnlichkeit der Wirkung lässt ihn auf eine Gleichheit der Ursache schließen — und die Geschichte von dem wunderbaren Wahrtraum ist fertig!

Ja, nicht einmal jenes Unruhegefühl braucht wirklich vorhergegangen zu sein, sondern lediglich die Aufregung über den großen Brand hat ein geistig minderwertiges Menschenkind suggestiv so stark beeinflusst und verwirrt, dass es sich und Anderen in ehrlicher Überzeugung einredet, es habe den gleichen Vorgang schon früher einmal im Traume gesehen. —

Es sollte an diesem einfachen Beispiel gezeigt werden, wie mannigfache Fehlerquellen vorkommen können, tun einen einfachen Bericht über ein Vorkommnis zu einer unbewussten oder auch bewussten Fälschung des wahren Tatbestandes werden zu lassen, und wie vorsichtig man allen beweislos gegebenen Behauptungen über wunderbare Erlebnisse gegenüberstehen muss. Ohne Beweis, ohne die Möglichkeit der Nachprüfung kann und darf und soll eine objektive Forschung niemals einen Wunderbericht als Tatsache hinnehmen, mag der Zeuge auch noch so ehrlich und vertrauenerweckend sein. Denn der Zweifel will nicht den Charakter des Gewährsmanns oder seine Intelligenz verdächtigen, sondern fußt nur auf der psychologischen Tatsache, dass jede menschliche Beobachtung und Auffassung durch mancherlei Umstände leicht getäuscht werden kann, dass auch der ehrlichste Wille zu strenger Objektivität das unvollkommene menschliche Wahrnehmungsvermögen nicht vor den Fälschungen der Suggestion und Autosuggestion, der ungenauen Erinnerungen und der fehlerhaften Schlüsse zu schützen vermag.

Wenn jemand zu mir tritt und behauptet, soeben habe sich im Nebenzimmer die Decke vor seinen Augen auseinander getan, durch die Öffnung sei ein Engel herniedergeschwebt, habe zu ihm gesprochen und ihm ein Schriftstück überreicht, das er mir vorweist, so darf ich, wenn ich nur einen Funken von wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit in mir habe, an eine solche übernatürliche Herkunft des Schriftstücks unter keinen Umständen glauben, mag mein Gewährsmann sonst auch noch so ehrlich und zuverlässig sein. Erst, wenn mehrere andere, unabhängig von ihm, das gleiche aussagen, so darf ich die Möglichkeit jenes Wunders annehmen — erwiesen aber ist es dadurch noch nicht, ist es auch dann noch nicht, wenn ich mit eigenen Augen das Wunder deutlich gesehen zu haben glaubte. Denn die Wahrnehmung des Menschen ist unzählig oft nur allzu leicht getäuscht worden, und auch der Gesündeste kann gelegentlich Halluzinationen unterliegen — aber ein Durchbrechen der Naturgesetze durch übermenschliche intellektuelle Kräfte ist noch niemals mit Sicherheit beobachtet worden, und um ihr Vorkommen glaubhaft zu machen, bedarf es stärkerer Beweise als nur einer sinnlichen Wahrnehmung.

Aber der überzeugte Spiritist nimmt jeden Wunderbericht — mag dieser auch greifbar deutlich den Stempel des Erdichteten auf der Stirn tragen — freudigen Herzens als erwiesene Tatsache hin und fragt nicht nach Prüfung und Selbsttäuschung. Wenn ihm im Restaurant ein Oberkellner eine Rechnung überreicht, deren Endresultat ihm verdächtig hoch vorkommt, so prüft er jeden einzelnen Posten nach und sucht festzustellen, ob vielleicht ein Irrtum vorgekommen ist, und wenn er einen Fehler findet, so glaubt er nicht etwa, dass infolge eines übernatürlichen Wunders in diesem einen Fall 2 + 4 = 9 sei, sondern er erklärt trocken, der Kellner habe sich geirrt; aber wenn ihm ein angebliches Naturvorkommnis berichtet wird, das allerdings nicht sein Portemonnaie in Mitleidenschaft zieht, sondern nur unsere ganze physikalische Weltanschauung auf den Kopf zu stellen geeignet ist — so scheint ihm eine Prüfung nicht vonnöten: willig gibt er zu, dass 2 + 4 = 9 sei, und verbürgt sich noch für die Richtigkeit dieses Wunders. Der wirklich wissenschaftlichen Forschungsmethode ist eine solche Leichtgläubigkeit und Oberflächlichkeit fremd; sie nimmt keine Rechnungen an, deren Einzelposten sie nicht auf das strengste nachzuprüfen vermag, und hat dabei bisher noch immer gefunden, dass 2 + 4 gleich 6 und nicht gleich 9 sei.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zu Wunder und Wissenschaft