Zu Goethes Leben

Aus: Deutsches Museum. Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben. Herausgegeben von Robert Prutz. 1ter Jahrgang 1851. Januar-Juni.
Autor: Schöll, Gustav Adolf (1805-1882) deutscher Archäologe, Bibliothekar, Philologe und Literaturhistoriker, Erscheinungsjahr: 1851
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Goethe, Charlotte von Stein, Liebe, Leidenschaft, Biographisches,
Wenn im Prytaneum kein Feuer ist, weil die Hausherren das Holz wegnehmen, um es in ihren Küchen zu verbrennen, so lasst uns die Altäre pflegen, die oben über den Verkehrswegen und Heerstraßen gelegen sind. Den Kultus des Genius haben vor einiger Zeit lebhafte Geister verschrien, die sich ein Näheres und Handfesteres verlangten und hofften, als den freien Eintritt in den Olymp. Aber irgendwo muss der Mensch sich aufrichten, irgendwo in etwas Großem einen gerechten Stolz finden; Stolz darum, weil er dies Große seinem Stamme eigner als jedem andern erkennt; gerechten, weil es ihn allen seines Stammes mit reinen Banden verbindet. Unschätzbar sind die Erwählten, welchen es gelang, aus dem Stoff unserer Heimat, aus dem Gemeinsamen unsrer Denkweise, aus dem Labyrinth unsrer Sprache Großes zu bilden. Es ist unser Vorteil und soll unsre Freude sein, immer neu zu bewähren, dass wir sie genauer kennen und besser verstehen als die, welche einem andern Boden angehören und eine andere Sprache reden. So hat es etwas Tröstliches, zu sehen, dass die Hochhaltung unseres Goethe nicht abnimmt, dass die Beschäftigung mit ihm und seinen Werken mehr und mehr an die lebendige Form herantritt.

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Frühere Verehrer und Erklärer sahen ihn zu sehr aus Gesichtspunkten beliebter Theorien oder vorgreifender Ansprüche. Romantiker wollten ihn für ihr neues Reich zum König haben, und da er ihren Absichten nicht genug entsprach, hatten sie ziemlich Lust, ihn abzusetzen, als ihr Reich in die Winde ging. Philosophen, die seine Poesie zum Zeugnis für ihre Systeme nahmen, überdeckten die Darlegung mit den Konstruktionslinien der letzteren. Verständlicher wohl, aber noch anspruchsvoller und um vieles leichtfertiger behandelten ihn Die, welche, mit dem Vorwurf aristokratischer Herzlosigkeit und bloßer Gewandtheit ohne Begeisterung, eine Gestalt ihres Hirns befehdeten und an ihr das heimliche Bewusstsein der eigenen Gemeinheit rächten, deren Unfähigkeit, Etwas zu schaffen, ihnen als einzigen Weg zu scheinbarer Größe den Angriff auf eine wahre übrig ließ. Goethes wirkliche Entfaltung, sein Leben, die urkundliche Folge seiner Werke kamen teils gar nicht, teils nach der Farbe dieser verschiedenen Ansprüche oder Vorwürfe zur Ansicht. In dieser Wahrheit der Entwicklung ließ auch Gervinus gar Manches vermissen, obwohl er, als ein ernster und umfassender Historiker, standfester als die Romantischen, menschlicher als die Philosophen, würdiger als jene Angreifer, ein Maß anlegte, das, wo es passte, Gehalt aufnahm, wo es nicht passte, zum Denken reizte.

Seit nun aber zum Abschluss der gesammelten Werke Goethes, und dem beigegebenen Anfang ihrer chronologischen Übersicht, die Einblicke in sein Tagebuch, die Riemer öffnete, und die fast jährlich vermehrten Sammlungen von Briefen, die Goethe oder seine Freunde geschrieben, hinzugekommen sind, hat sich auch eine Reihe von Bestrebungen gebildet, die dahin zielt, sich die Werke des Dichters in ihrer Bedeutung und Folge durch möglichst begründete und ausgeführte Vergegenwärtigung seines Lebensganges recht menschlich verständlich zu machen.

Die Gegenseitigkeit der beiden Hälften dieser Aufgabe leuchtet von selbst ein. Man darf nur in Hirzels anspruchslosem ,,Verzeichnis einer Goethebibliothek“ die Titel und Jahreszahlen durchgehen, um Behauptungen über Entwicklungsmomente Goethes von Schlegel, von Menzel, von Gervinus aufs einfachste widerlegt zu sehen. Und umgekehrt, wer in der Betrachtung von Goethes Leben nicht ganz am Oberflächlichen bleibt, wird die noch bestehenden Unklarheiten über die allmähliche Gestaltung und Umgestaltung seiner langjährigsten Werke, des Meister und des Faust, ebensowohl als Lücken der Biographie empfinden. Gerade in dieser Beziehung eröffnet sich uns eine sehr willkommene Aussicht in der bevorstehenden Herausgabe des gesammelten Briefwechsels von Goethe und Knebel, welche von den Erben dem um die Goetheliteratur verdienten, besonders durch Untersuchungen über Goethes Novellen rühmlichst bekannten Guhrauer anvertraut ist. So gewiss nun überhaupt mancher wichtige Beitrag zur Aufhellung des Lebens und Bildens unseres großen Dichters von den kommenden Jahren noch zu erwarten ist, so sind darum Diejenigen keineswegs zu tadeln, die schon jetzt das reichlich und zerstreut Vorliegende zu einem Ganzen zu verknüpfen suchen; und Arbeiten, wie Viehoffs „Leben Goethes“ und dessen „Gedichte Goethes auf ihre Veranlassungen und Quellen zurückgeführt“, verdienen um so mehr Dank, je leichter es ist, sie mit ihrer eignen Hilfe zu übertreffen.

Wenn daher Düntzer in seinen sehr fleißigen Monographien über Lebensverhältnisse und Dichtungen Goethes sich weniger beflissen zeigte, Versehen, mitunter bloß vermeintliche, besonders Viehoffs zu rügen, würden wir seine eigenen erheblichen Verdienste im Aufbringen und Verbinden des Urkundlichen mit desto reinerer Befriedigung empfinden.

Wer weiß nicht, dass solche Verzeichnungen und Vergleichungen ins Einzelne, wie sie mit unter den Ersten auch Boas löblich unternommen, jedem Nachfolger die Freude, zu erweitern und zu berichtigen, übrig lassen?

Indem ich an diese Richtung auf den wirklichen Zusammenhang der Hervorbringungen Goethes erinnere, sind die Vorlesungen von Rosenkranz hervorzuheben, welche die Charakteristik des Dichtergeistes und seiner besonderen Werke nach der Reihe der letzteren in einer angenehmen Klarheit und beredten Fülle verfolgen. Und als jüngste Gabe ist Goethes Leben von W. Schäfer (der 1. Band bis zur ital. Reise) zu nennen, worin die Ergebnisse neuerer Aufhellungen zu einem anmutigen Gemälde verknüpft sind und „das in Goethes Werken so bedeutsame biographische Moment“ nicht verkannt ist.

Für mich ist der Punkt des Interesses, dass man das Schöne und Bedeutende natürlich entstehen, das Auszeichnende, Widersprechende, Bewunderungswerte aus dem hervorgehen sehe, was allen Menschen gemein ist. Denn Genie ist kein blindes Postulat, welches für eine Reihe von Besonderheiten anstatt der Erklärung aus wirklichem Zusammenhang immer wieder als Wundergrund einzusetzen wäre. Vielmehr stellt sich am Genie das Natürliche reiner dar als an den gewöhnlichen Menschen von kollektiver und verworrener Bestimmung. Und wegen dieser stärkeren Zusammenfassung seines Wesens ist auch das Alltägliche und Weitläufige bei ihm schärfer und fruchtbarer. In diesem Sinne der Natur, nicht in dem Voltaires, ist es wahr, dass das Große überall im Kleinen seine Ursachen findet. Und in diesem, gestehe ich, schienen mir die übersichtlichen Schilderungen von Goethes Dichtergeschichte, die mir vorgekommen, insgemein durch die von Anfang mitgehende Voraussetzung seiner Genialität, im Ganzen mit einem zu heiterepischen Schimmer überzogen, der die Lokaltöne verdeckt, den Wechsel und das Werthverhältnis der besonderen Motive nicht genug bemerken lässt. Es ist ähnlich der Wirkung, nicht aber dem inneren Verhalte nach mit dem Teil seiner Lebensgeschichte, den Goethe selbst beschrieben. Die epische Schönheit, die poetische Helle, die er damit erreicht hat, überwiegt ebenfalls im Eindruck über die Wahrnehmung von Abgrenzungen und Abständen im Besondern. Aber wenn Goethe, einzelner Gedächtnisirrungen zu geschweigen, um der schönen Harmonie willen etliche Töne gemischt oder verschmolzen und kleine Hilfsmotive erfunden hat: den Unterschied überall der Bodenstoffe und der Blüten, und die sondernden Kennzüge der Epochen hat er für den Achtsamen bestimmter gezeichnet als die Nacherzähler. Dies weiter zu belegen, ist hier nicht die Absicht, sondern Ähnlichdenkenden die aufgestellte Forderung zu verdeutlichen. Ich gehe gleich zu der Bemerkung fort, dass von den andern Selbstzeugnissen Goethes für seinen Bildungsgang, den Dichtungen, diejenigen, die an Gehaltfülle und Energie der Form zurückstehen, den Vorzug haben, dass sie deutlicher als die tieferen uns die verschiedenen Stoffe seiner Währung und die Allmählichkeit der Abklärung erkennen lassen. Im Allgemeinen ist dies leicht nachzuweisen.

Hat man im Götz das Durchbrechen des engen Zeitgeschmacks und die Verwerfung des schwächlichen Zeitgeistes als entschiedene Richtung aus das Männliche und Große gefasst, so muss man sich wundern, zwei Jahre darauf in Erwin und in Claudine so weich ausgebildete schäferliebe Abenteuer, besonders aber im Dialog diese kleinbürgerliche Familiarität und stellenweise recht nach dem engen Zeitgeschmack das sächsische Wohlbehagen an einer platten, hausbackenen Verständigkeit anzutreffen. Noch mehr sollten alle Die, welche mit einseitiger Ausbeutung eigner Äußerungen Goethes die Dichtung des Wert er als eine absichtliche Selbstheilung, eine vorsätzliche Abfertigung der krankhaften Gefühlsschwärmerei darstellen, billig über die nachfolgende Stella in Verlegenheit kommen, die nicht nur dem Stil nach der Gefühlsschwärmerei offene Bahn gibt, sondern auch die zu Grund gelegte entschiedene Pflichtvergessenheit des Helden durch das liebeseligste Ende rechtfertigt. Ferner kann man mit Recht vom „neueröffneten moralisch-politischen Puppenspiel“ und den gleichzeitigen Schwänken sagen, dass hier ein urkräftiger Humor den Zopf der Zeitgenossen aufdröselte, ohne dass man glauben dürfte, es habe sich von da ab an Goethe selbst keine Spur eines Zopfes mehr gefunden. Oder muss es nicht ein etwas gedrehter und gezwungener Sinn für das Natürliche sein, der in den Geschwistern die Naivität anmutig finden kann, in welcher Marianne zutraulich dem Hausfreund von der Umständlichkeit vorschwatzt, mit der sie am geliebten Bruder beim Strumpfanmessen sich so viel zu tun macht?

Also lehren uns die schwächeren Werke, dass die Entwicklung des Genius nicht ein einfach sich fortschwingender Siegeszug sei. Sie erinnern uns, dass aus Ansichten und Redeweisen, Gelüsten und Lässlichkeiten, womit Erziehung, Beispiel, Gewöhnung, hundertfach wiederholte Eindrücke unser Wesen verquickt haben, sich auch die herrlichste Natur nicht mit einmal, nicht leicht herausmacht, ja, gerade sie darum wieder schwerer, weil ihre Anschmiegsamkeit, ihr lebensmunteres Eingehen ins Gegebene, Gesellige, beziehungsweis Wahre sich die kleinen Reize und Gewichte der zeitgültigen Halbheiten verstärkt hat. Davon wird sie zu diesen, nach schon empfundenem Überdruss, schon gelungenem Abschwung um so leichter zurückgezogen, als der neue Boden, auf dem sie Stand sucht, erst von ihr geschaffen werden soll, während der alte sich von selbst gemütlich und zudringlich immer wieder unter die Füße schiebt. Hierdurch werden wir ferner aufmerksam gemacht, dass auch die kräftigen Darstellungen, die wir als Freiheitstaten des Genius fassen, die Anerkennung der entäußerten Bande mitenthalten. In Goethes Puppenspiel und den gleichartigen Humorstücken sind es die bunten und schillernden Figuren, die Convenienzen und Idealismen der gegebenen Welt und Sitte, an welchen unmittelbar die Geltendmachung der Urnatur gezeigt wird, sodass sie selber ins Behagen an dieser aufgenommen sind. Im Götz ist freilich die Polemik gegen die Neuzeit schärfer und ernstlicher; um so ernstlicher aber auch, im Mitfühlen des Dichters mit Weißlingen und Franz, die Selbstbehaftung mit der bekämpften Schwäche und Entartung. Und den Glauben des Dichters an die Berechtigung der Leidenschaft in sich, wenn er auch nicht in Stella, wegen des Fallenlassens der Sittlichkeit, nackt hervorträte, sollte im Werther an der durchhingehenden Wahrhaftigkeit ein Jeder deutlich genug empfinden, um ihm keine andere Beseitigung dieser Schwärmerei unterzuschieben, als die in ihrer Erschöpfung liegt. Endlich sollte man aber auch merken, wie das Übersehen oder zu leicht Wägen der hemmenden und widersprechenden Momente (durch welche überall eine wirkliche Kraft allein gemessen wird) ebensowohl wie die Wahrheit der Biographie, auch die Schönheit der Poesie verkürzt. Denn hätte im Götz der Selbstanteil an der Neuzeit nicht so weit mitgedichtet, um ihr Überhandnehmen natürlich, unwiderstehlich, notwendig erscheinen zu lassen: wie könnte die Wirkung tragisch sein? Und wäre nicht der Dichter mit ganzem Glauben und voller Lebendigkeit eingegangen auf die Stimmung und Verstimmung Werthers: er hätte nicht vermocht, ihr diese ausdauernde Wahrheit, diese höchst fühlbare, gewaltig ergreifende Seeleneinheit zu geben, die nur als solche Schönheit ist. — Nicht weil der Jüngling Motive, denen ähnlich, von welchen er selbst befangen war, auch in Erwin, Claudine, Stella aufnahm, wurden diese schwächer, sondern darum, weil er in dieser unruhigsten Zeit die Motive nicht aushielt, in den Singspielen Liebe und Schmerz vertändeln, in der Stella das Hin-und Herteilen der Neigung, worin er taumelte, willkürlich als vereinbar mit wahrer Seelenfülle durchführen wollte. Deswegen wuchs ihm hier die Form nicht von selbst an der inneren Wahrheit, wurde überfeurig in der gezwungenen Stella, und in den Singspielen atomisch-lyrisch mit nur trivialen Ausfüllungen. Diese letzteren, in welchen er am Leipziger Kleingeschmack sich noch behagt, zeigen uns, was auch in jenen großen Werken die Vorliebe für Konversationsmäßige Phrasen und Lizenzen verriet, dass der Jüngling noch nicht Meister seiner Kunst, dass er, nicht bloß im Sinne des Reichtums und der Macht, wie Götz und Werther dartun, sondern nebenbei auch in einem Sinn der Schwäche — Naturdichter war.

Nur eine Maxime leitete den jungen Goethe, die der Natürlichkeit. Brachte sie ihn mit der Convenienz, wo er sie als unnatürlich empfand, in Konflikt, so hinderte das nicht, dass er sich ein andermal selbst des Konventionellen bediente, weil es ihm natürlich geworden war, ihm als das Gegebene und Geläufige am meisten den Schein ungesuchter Wirklichkeit hatte. Auch die sehr Konventionellen Dichter umher meinten im Grund alle mit Natürlichkeit Natur zu singen. Was ist Natur? Was ist das natürlich Poetische? Das war die große Frage. Goethe beantwortete sie aus der Erfahrung, die ihm ungesucht zugleich mit seiner aufklingenden Lyrik geworden war: Was mich selbst ergreift, mir gegenwärtig sich aufdringt, das ist Natur; und so, wie mich’s erfüllt, es aussprechen, das ist Poesie. —Seit ihm die so weit getriebene Anwendung dieser Maxime im Wert er zu einer so gewaltigen und großen Wirkung ausgeschlagen war, fühlte er sich doppelt darin bestärkt. Weil aber im gewöhnlichen Leben wenig das Gemüt ergreift und mit Nachdruck ihm sich aufdringt, so musste diese Dichtermaxime auf ein buntes, wechselvolles Treiben, Ausfliegen, Abenteuern, Anknüpfen mit allerlei Menschen und Zirkeln hindrängen; und dieser bekannte Sturm und Drang war wenig politisch, wenig sozial; er war eigentlich, abgesehen vom natürlichen Trieb und Schwung der Jugend, ganz formal; es galt Bewegung, Aufregung, Gemütsergriffenheit als solche, weil nur so die Natur lebendig und Poesie werden mochte. Da nun ein Kind guter Eltern, wenn es auch mit einigem Neid auf Stegreifritter und Zigeuner, Wanderpropheten und Buschklepper blickt, sich nicht viele Abenteuer und Aufregungen machen kann, die sich nicht in Zerstreuung verzettelten und bald Leere statt Erfüllung zurückließen, so musste der Mädchenreiz, der den Jüngling am leichtesten fasst, und die Leidenschaft der Liebe, die ihn am natürlichsten ganz erfüllt, immer wieder das punctum saliens dieses Naturerlebens und Poesieentfaltens werden; und die wahrlich nicht geringen Verwicklungen des 25jährigen Goethe in ganze und halbe, abklingende, neueinklingende, zwischenanklingende Neigungen waren in der Tat ebensowohl Berufsproben und Berufsleiden, denen sich der Dichter nicht entziehen konnte, als sie natürliche Rührungen waren, welchen der Jüngling sich nicht entziehen wollte. Dem Jüngling konnte es wohl manchmal, dem Dichter nicht, ums Heiraten sein; ihm war es um die Leidenschaft. Diese Muse gab wirklich seiner Lyrik die schönsten Blüten. Wenn er dann aber flüchtig dramatisierend wie im Erwin Züge des äußerlichen Kreises seiner Leidenschaft, eben so unmittelbar aufgegriffen, anfügte und anderweitig gegenwärtiges Interesse, wie etwa an Basedows Mahnungen zu gesunder Erziehung, hineinskizzierte, so schützte ihn jene Maxime der Natürlichkeit und Lebenswahrheit nicht vor dem Seichten und Unharmonischen. Als biographische Momente hingegen können solche der Handlung trocken verknüpfte Bestandteile, wie auch die in Claudine aufgenommenen Gedanken Herders vom Volkslied, um so deutlicher in die Augen fallen. Und überhaupt wird diese biographische Bedeutung, wie hier des Crugantino-Wolf, der den Sternkreis Lili-Claudinens als Komet durchschneidet, wohl das Hauptinteresse dieser kleinen Spiele bleiben. Am meisten gilt dies, wie ich glaube, von den Geschwistern, und die bestimmte Darlegung hiervon ist es, worin die gegenwärtigen Bemerkungen zum Ende kommen wollten.

Dass die Geschwister mehr oder weniger aus Goethes Leben heraus geschrieben seien, erwarten wir zum voraus nach seiner erwähnten Maxime. Sie folgten ja bald aus jene Dramen, die aus seinem Frankfurter Leben geschöpft waren, und er hatte als junger Weimarischer Legationsrat noch dieselbe Methode. Denn auch von dem Drama der Falke, womit er im Sommer 1776, wenige Monate vor der Niederschrift der Geschwister, umging, sagt er der neuen Freundin: „Meine Giovanna wird viel von Lili haben, Du erlaubst mir aber doch, dass ich einige Tropfen Deines Wesens drein gieße . Vielleicht macht mir’s einige Augenblicke wohl, meine verklungenen Leiden wieder als Drama zu verkehren.“ Desgleichen ist von den Lehrjahren, deren erstes Buch im Sommer daraus sichtbar wurde, die vielfache Bezüglichkeit auf des Dichters eigne Erfahrungen, und dass Einzelnes getreu solche wiedergibt, längst anerkannt. Da die Hauptpersonen in den Geschwistern eben so wie jene des Romananfanges, Wilhelm und Marianne heißen, vermutlich, dass der Vorsatz zum Roman schon in Bewegung war, als das kleine Drama entstand. Wir werden auch für den Wilhelm des Schauspiels eine ähnliche beziehungsweise Identität mit dem Dichter voraussetzen dürfen, wie sie jener des Romans hat. Dass Goethen damals Wilhelm gewissermaßen zu seinem eigenen poetischen Namen wurde, hängt ohne Zweifel mit der gleichzeitig in ihm lebendigen Verehrung Shakespeares zusammen. Sein bekannter Ausruf: „Lida, Glück der nächsten Nähe! William, Stern der höchsten Höhe! Euch verdank’ ich, was ich bin!“ verknüpft mit dem Bezug auf eben jene Freundin, von der die Giovanna einen Zug erhalten sollte, das Bekenntnis dieser Verehrung des großen Dichtervorbildes. Zwar ein Dichter, wenn er schon Lieder und Geheimnisse liebt, ist der Wilhelm des Schauspiels nicht; immerhin aber gehört er zur empfindsamen Familie Werthers, Erwins, und nach so manchem, was er durchgemacht hat, selbst Crugantinos und Fernandos, also dieser verschiedenen Luftspiegelungen des Dichters selber. Beiläufig erinnert er in einem kleinen Zuge auch an Goethes damaligen Standpunkt in der Kunstbetrachtung. In diesem herrschte ebenfalls zur Zeit noch jener Zug zum Natürlichen. Nicht das Ideale, Historische hatte seine Vorliebe, sondern das Heimische, Lebenswahre, Niederländische. Und so scheint es sich mit dem Vergnügen an Niederländischen Nachtstücken zu berühren, wenn Wilhelm sagt: „Mir ist's eine wunderbare Empfindung, Nachts durch die Stadt zu gehen. Wie von der Arbeit des Tages alles teils zur Ruh ist, teils darnach eilt, und man nur noch die Emsigkeit des kleinen Gewerbes in Bewegung sieht. Ich hatte meine Freude an einer alten Käsefrau, die, mit der Brille auf der Nase, beim Stümpfchen Licht, ein Stück nach dem andern ab- und zuschnitt, bis die Käuferin ihr Gewicht hatte.“ Dies Genrebild hat zwar für Wilhelm das sittliche Interesse, dass ihm „der Erwerb im Kleinen ehrwürdig ist.“ Gerade Das aber, dass dem gemeinen Leben selbst Bedeutung abgesehen sei, war in der Kunstauffassung des jungen Goethe einbegriffen. Viel mehr jedoch, als bei dem Blick auf solche Einzelheiten, geht uns der junge Kaufmann Wilhelm mit seinem Urheber zusammen, wenn wir auf den inneren Sinn des Gedichtes uns einlassen.

Von der einen Seite liegen die Geschwister noch ganz in der Linie der Leidenschaftspoesie. Diese hatte, da es bei ihr auf das unterscheidende und gewaltige Herausstellen der Natur ankam, in sich eine Versuchung, gegen das Gewöhnliche und Gültige, das Schickliche und Sittliche anzugehen; daher sie nach verschiedenen Graden und Schichten sich titanisch-wild oder magisch-verwegen wider die Götterordnung, moralisch-stolz oder bürgerlich-ehrlich gegen Weltformen und Etikette, frivol oder zynisch gegen die Schranken und Schleier der Wohlanständigkeit richten mochte. Alle diese Motive sind in Goethes Jugendpoesie zu finden. Da er aber den ungesuchtesten und seelenvollsten Spielkreis des naturdurstigen Geistes in der Liebe gefunden hatte, so ward auch hier die spannungsbegierige Imagination auf den Konflikt mit Gesetz und Sitte, auf das Gefährliche und Verfängliche hingetrieben. In der Adelheid die dämonische Schönheit, gegen deren Zauber Gelöbnis, Treupflicht und Ehre nicht aushalten. Im Werther die unschuldig-schuldige Leidenschaft, die von eines Andern Braut und Weib nur im Selbstmord lassen kann. In der Stella das mit argloser Feuerseele hingegebene Mädchen, das den Ehegatten einer Andern, die nicht minder liebt, nicht minder geliebt wird, doch unlöslich sich angeeignet hat. Und nun in den Geschwistern die verfängliche Situation eines Liebhabers, der die Geliebte als angeblicher Bruder bei sich hat, und dieses den vermeintlichen Bruder mehr als schwesterlich liebenden Mädchens. Wie sehr nun auch der Liebhaber sich gegen sie in den Schranken des Pflegers und Bruders halte: er wünscht und hofft doch, dass ihr Gefühl diese Schranken überwalle. Sie aber, die sich Schwester glaubt, müsste vor solchem Verlangen in dem Grade als sie es fühlt, erschrecken und jede bewusste Nachgiebigkeit als Sünde empfinden. Die Einsicht in diesen Zwiespalt, den er ihrem Innersten erregt, müsste auch seiner Liebeshoffnung die Unschuld nehmen. Ist aber der Zwiespalt nicht da, so hat sie sich ganz in die Schwesterlichkeit hineingelebt, wird nicht vor sich, wohl aber vor ihm, wenn er Liebhaber sein will, erschrecken; und so ist für diesen Fall seine Liebe hoffnungslos. Ob es überall eine Möglichkeit gebe, dass eine treuherzige Schwesterliebe sich in einem reinen Gleise zur Brautliebe wandle, möchte schwer zu bejahen sein. Man helfe hier mit der Voraussetzung nach, Marianne fühle von Natur nicht eigentlich wie eine Schwester, eben weil sie's nicht ist: etwas Unheimliches behalten ihre, wie sehr auch vom Dichter in Gutmütigkeit, Munterkeit und Naivität versenkten Geständnisse, sowohl jene gegen den Dritten, wie sie immer am Bruder sich zu tun mache, als nachher, wo die Furcht, dieses Dritten Frau werden zu sollen, sie bewusster gemacht hat, die Geständnisse gegen den Bruder selbst, wie sie in allen Romanhelden ihn, in ihren Geliebten sich gesehen, und wie sie bei Erzählungen, die am Ende enthüllten, dass die Liebenden Geschwister seien, so viel geweint über das gar erbärmliche Schicksal. — Es ist ein Widerspruch zwischen diesen Tränen und der Unbefangenheit, jenen Imaginationen und der Schwesterunschuld. Die Konzeption selbst in dieser Kasuistik zeugt von der vorwitzigen Experimentiersucht dieser Natürlichkeitspoesie. Sie hatte sich in Stella zu einer unsittlichen, hier, glaub' ich, zu einer unnatürlichen Voraussetzung verstiegen. Aber das ist nur die eine Seite.
In dieser Konzeption ist der Wert doch keineswegs, wie in früheren Gedichten oft so fühlbar, auf das Herauslassen der Natürlichkeit und Leidenschaft, sondern im Gegenteil auf ihre Behütung und sittliche Fassung gelegt. Als Mariannens Neigung im Überwallen ihr als leidenschaftlich erst bewusst wird, folgt auch alsbald die Eröffnung, die den Widerspruch gegen das Sittengefühl hebt. Und diese mit ihrem Eintreten ins Licht gerechtfertigte Liebe erscheint als der Lohn der lang geübten Selbstbeherrschung ihres Pflegers. Denn, was das Vorhergehende betrifft, Wilhelm hat nach stürmischen verschwenderischen Jugendtagen in der Liebe zu einer edlen, verlassenen Frau sein besseres Selbst wiedergefunden und, zur Besonnenheit und Tatkraft zurückgekehrt, um ihretwillen sich angestrengt, sein raschverschleudertes Vermögen allmählich aufzurichten. Im Anfang seiner Bemühungen starb sie, und scheidend vertraute sie ihm ihre Tochter an, die er, um sie ganz in Obhut nehmen zu können, für seine Schwester ausgab. Nur im Andenken an die Hingeschiedene und der Sorge für ihr Pfand lebend, stillglücklich, da sein Fleiß gesegnet ward, tief bewegt, als an ihm das Mädchen zur Ähnlichkeit der Mutter heraufwuchs, und durch Zurückhaltung seiner Liebe die ihrige steigernd, hat er aus Aufopferung und Hingebung über Hoffen sich sein eignes Glück gezeitigt. Eine Leidenschaft also ist die Grundlage, eine Leidenschaft die Spitze des Gedichts, aber diese erscheint bewacht im Entwickeln und gereinigt im Durchbrechen von Besinnung und Güte, und jene erste als Anfang und Quelle dieser Güte, Besonnenheit, Reinheit. Wie diese vorausgesetzte wohltätige Leidenschaft nicht die entlassene, sondern eine in sich gehende und die Seele in sich führende ist, so erscheint mit diesem Vorwurf die Leidenschaftspoesie selbst in sich gehend und übergehend zur Versöhnung, zur Versöhnung sowohl mit der Welt, die den demütigen kleinen Dienst um die Existenz, den Fleiß um’s Geringe fordert, als mit der Sittlichkeit, welche die Natur beschränkt, veredelt, sichert. Dies ist fürs Erste das allgemeine biographische Moment des Gedichts.
Wenn man bedenkt, dass die Sturm- und Dranggenossen den Schöpfer des Götz und Werther als eine Art welttrotzenden Titan, als den Prometheus einer neukräftigen Menschheit ansahen, und dass diese Erwartung sogar mitenthalten war unter den Beweggründen, die den jungen Herzog von Weimar bestimmt hatten, den genialen Dichter in seinen Dienst und seine Freundschaft zu ziehen, so wird es um so bedeutender, von ihm als erstes dramatisches Erzeugnis in Weimar ein so kleines Stück zu sehen, das auf Einen Akt und drei Personen beschränkt, in engbürgerlicher Welt, mit wohlüberlegter Ökonomie der Entwicklung, in einfacher Sprache sich abspielt. In Sinn und Form dient es zur Bestätigung dafür, wofür auch andere Spuren vorhanden sind, dass Goethes Eintritt in Weimar unter so manchen Aufforderungen und Anreizen zu Zerstreuungen, kleinen Wildheiten und inneren Wagnissen doch zugleich in ihm eine Richtung entwickelte, die auf Sammlung und Reinheit auf Schulen seiner selbst und Wirtschaften mit seinen Mitteln und Aufgaben mittendurch hinging und planmäßig stieg. Den Ansatz dazu hatte er allerdings nach Weimar mitgebracht.

Von Anfang war Goethes Naturbekennen so demütig als stolz, indem es auf das Beschiedene sich beschränken, am Gegebenen sich ganz betätigen und froh begnügen wollte. Aufs kräftigste sprachen ebendies in den letztvergangenen Jahren seine Künstler-Lieder und Sendschreiben aus. Von diesem gläubigen Zugreifen früh und wiederholt in Leidenschaft, aus Lust in Verdruss, aus Seligkeit in Reue, durch alles in gesteigerte Selbsterfahrung geworfen, hatte sich sein Naturbekennen zur Anerkennung der Leidenschaft gehöht, welche in ihrer Zweideutigkeit, Gefahr, Gewalt eben das Ganze des Lebens und der Seele sei. Sagte dies Bekenntnis von einer Seite dem leichtsinnigen Jugendmute zu, so enthielt es auf der andern eine reine Wahrheitsliebe, die Herz und Welt, wie sie sind, nicht wie sie der Wunsch träumt, verfolgen wollte, und eine entschlossene Entsagung, die, um mit wahrem Selbstgefühl zu leben, den Schmerz mit der Lust, die Gefahr mit dem Reiz, Arbeit und Selbstkampf mit dem Genuss auf sich nehmen wollte. Darum musste es in dieser Epoche den Jüngling tief ergreifen, bei Spinoza eine Ethik, die sich durch Einsicht in die Notwendigkeit der Leidenschaften ausführt, mit der Lehre zu finden, dass man zum Schauen Gottes durch das Schauen in die Notwendigkeit der unvollkommenen Dinge, zur Seligkeit durch Entsagung aller Einzelansprüche gelange.*) Gleichzeitig sah der Jüngling sich selbst gar oft als einen Landläufer, „Musensohn“, „Crugantino“ an, der überall und nirgends zu Haus, ungebunden teilnehmend, alle Herzen rührend und der Welt Schönheit singend, Nichts für sich behalte. Zwar sein junger Busen war voll Ansprüche; dennoch aber, wenn auch mit Gegenringen, mit heißen Schmerzen, sah er aus den innigsten Lebensverhältnissen, aus den weichsten, lebhaft hin und her gewandten Neigungen sich überall ohne Festknüpfung immer wieder nur auf das allspiegelnde Meer seiner Gefühle zurückgetrieben. Und diese entsagende Aneignung des Lebens, diese seine Poesie, war doch so sehr sein Liebstes und Höchstes, dass er durch Landen in einem Hafen des Besitzes und der Befriedung sie nicht engen, einwiegen und stillen wollte. Seine Selbstgeständnisse aus dieser Zeit wiederholen, dass er mit sich und dem Süßesten im Kampfe, im fröhlichen glänzenden Getümmel einsam, in der Einsamkeit voll Leben, in lauter Glück gequält, und dass es so gut sei. Aber seine Erfahrung und Klugheit sagten ihm doch, dass er unter diesen Reizen der Liebe entweder durch Entscheidung und bürgerlichen Abschluss zur gefürchteten Ruhe kommen oder in diesem Wirbel ohne Ende sich aufreiben und stumpf enden müsse. Von dieser Seite war ihm die Einladung nach Weimar erwünscht, die ihn aus dem gegenwärtigen Zauberkreis plötzlich heraushob und durch Anteil an Hof und Regiment einen erweiterten Horizont, frische Erfahrungen, neue Leidenschaften, andere Entsagungen und eine freiere Kräftigung versprach.

*) Danzel (der für deutsche Literatur zu früh Geschiedene!) über Goethes Spinozismus.

Er stürzte sich in alles Dies. Er hatte gleich wieder auf dem neuen Boden einen Kreis der beliebten Abenteuer, Geheimnisse, Plagen im Schwung, und sah zugleich sich zu wohltätigem persönlichen Einfluss, zu nützlichem Wirken, zu schönen Plänen aufgefordert. Er gewahrte aber auch bald, dass er zwischen den sehr vorzüglichen fürstlichen Personen und ihren Charakterverschiedenheiten ungleiche Rücksichten zu nehmen und zu vermitteln, für das Regiment noch gar mancherlei im Stillen zu lernen, für den Herzog neben dem Hofdichter und Jagdgenossen Vertrauter in praktischem Sinne, wieder auch Mentor zu sein, und auf seine eigene Haltung in so verschiedenen, ja widerstreitenden Anliegen mehr Bedacht als bisher zu nehmen habe. Oft war er mit sich oder den Zuständen wenig zufrieden, oft zweifelte er, ob er die nötige Gewandtheit für Dies und Das erwerben, ob es der Mühe lohnen, und ob mit alledem es möglich sein werde, seinen angeborenen Beruf zu behaupten und zu verfolgen. Aber schon indem, von diesen Zweifeln ausgehend, während seiner äußerlich lebhaften Fortbewegung in den angeknüpften Verhältnissen, in ihm Bedenken und Beobachten, Vorsehen und Nachwägen den eignen stillen Weg gingen, gewann er das Vorgefühl jener inneren Freiheit bei notwendigem Tun und gemütlichem Teilnehmen und jener Aufsammlung des Durchgemachten in ruhige Betrachtung, die als Fortsetzung seiner Spinozischen Stimmung sich zur Ausbreitung in reines Naturbehagen, zur Poesie der harmonisch erfüllten Seele erhöhen sollte. Er war in diesem Vorgefühl bei allen äußern und inneren Reizen zu zerstreuendem Umtummeln von Anfang auf jene Selbstbeschränkung bedacht, von der aus allein für den Menschen Leben und Natur, Erkenntnis und Tätigkeit Gestalt und Folge gewinnen können. In diesem Sinne schrieb er schon im März 1776, als er mitten aus Hoffesten heraus nach Leipzig ausflog, die Erklärung eines alten Holzschnittes, vorstellend Hans Sachsens poetische Sendung, die so begeistert das freie Behagen des in tüchtiger Beschränkung heitersinnigen, gedankenfleißigen Handwerksmannes preist. Im Monat darauf nahm er den Garten mit Bauerhaus am untern Park in Besitz, den ihm der Herzog, seinen Wunsch erlauschend, geschenkt. Da richtete er sich in der engen, schlichten Wohnung für den Winter wie Sommer ein, bepflanzte und pflegte den bescheidenen Eigengrund, wog Hof- und Geschäftsbewegung mit Sammlung in Einsamkeit auf, und lebte beständig in einfachländlichem Verkehr mit der Natur. Mit gleichem Bedacht hatte er von Anfang die Heranziehung bedeutender Männer und anmutiger Talente teils durch Berufung teils durch geschäftliche und gastliche Verknüpfung veranlasst, und verschiedenen Plänen des Herzogs eine Richtung gegeben, die sie und seinen Anteil daran mit seinen eigenen Berufsneigungen und Bildungsvorsätzen zusammenführte.
Nächst diesen Einrichtungen und Aussichten, und dem schönen Vertrauen des Herzogs und der Herzogin, war, was ihn in Weimar hielt, das eigentümliche Verhältnis zu jener Freundin, von der schon oben erwähnt ist, dass sie in seine werdenden Gedichte einstrahlte, dass er sie als nächsten Segen seines Lebens mit dem höchsten Vorbild seines Berufs, dem Stern William zusammen genannt hat. In diesem Verhältnis zu Frau von Stein mischte sich für den 26jährigen Dichter und angehenden Welt- und Staatsmann auf eine ganz eigene Weise das gewohnte Leidenschaftsbedürfnis mit dem Streben nach Selbstbeschränkung, Wahrheit, Reinheit zu einer schwärmerischen Hebung des Gemüts.
Das Einnehmende ihrer Erscheinung und Haltung, ihr Sinn für Poesie und Verwandtes mochte wohl diese Frau in ihrem Kreise auszeichnen; was aber für Goethe die Anziehung am meisten verstärkte, war der ruhige Überblick ihrer gefassten Seele. Da ihr Gemahl, als Oberstallmeister und Kammerherr, bei Hofe und fast gar nicht zu Hause lebte, so war die Ordnung des Hauses und Erziehung der Kinder ganz, die Überwachung der Gutswirtschaft und Erhaltung des Vermögens größtenteils ihre Sorge; eine Aufgabe, die manche äußern Umstände noch erschwerten. Die besonnene wohlgeregelte Weise, in der sie dieselbe löste, und die schon äußerlich aus der steten Nettigkeit ihrer Umgebung und ihres Anzugs wiederschien, dieser Geist der Ordnung, wie er sich im Hause ohne Beengung des geselligen Zutritts nur in den angenehmen Folgen sichtbar machte, fand um so mehr Anerkennung bei Goethe, als er in sich selbst und für sich das Bedürfnis einer praktischen und sittlichen Ökonomie mit ernstlichem Vorsatz empfand. Eine gleich wohltätige Klarheit konnte ferner Frau von Stein gegenüber der Gesellschaft bewähren. Aufgewachsen am Hofe, und nun durch keinen dienstlichen, aber durch freundschaftlichen Umgang der ganzen fürstlichen Familie verbunden, war sie bei natürlich erworbener Welterfahrung und Richtigkeit des Benehmens durch ihren ruhigen Verstand zur einsichtigen und billigen Beurteilung der Personen und Verhältnisse vorzüglich befähigt. Für den jungen, in diesen Verhältnissen neuen, in seiner Gehabung darin noch nicht sichern, ja wegen der Außerordentlichkeit, in der er aufgefasst und aufgenommen wurde, um so leichter beirrten Dichter und Günstling erhielten diese Vorzüge der Dame sogleich einen besonderen Wert. Denn da er, von außen und vom Fürsten selbst ihr empfohlen, sich ihr alsbald genähert und in einstimmigen Bemerkungen und Interessen einen Grund des Vertrauens gewonnen hatte, wurde ihm über jene neuen persönlichen Bezüge und sein eigenes Verhalten und Fühlen in der Gesellschaft ihre Kenntnis), ihr Rath, ihr Zuspruch nützlich und lieb; zumal in bestimmten Rücksichten seine wohlwollendste und zarteste Teilnehmung der ihrigen begegnete. Goethes Briefe an Frau von Stein zeigen, dass gleich im Anfang öfter ein Wort von ihr ihm die Beziehung zu Andern ebnete oder ihn besänftigte, dass er seine Sorgen für Andere, wie die eigensten Freuden und Leiden, ihr am liebsten vertrauen mochte, und die gemessenen Augenblicke, die sie ihm schenkte, über alle Unterhaltungen schätzte, und zu mehren suchte. Aber seine Empfindung für alles Dies, für ihre schöne Ökonomie, ihren klaren Blick ins Wirkliche, und den ruhigen Anteil, den sie an dem unruhigen Leben um sie her nahm, wurde überaus dadurch gesteigert, dass diese Helle und Milde bei ihr auf dem dunkeln Grunde einer persönlichen Resignation und stillen Schwermut ruhte. Von Betrübnis in der Familie, auch von Gesundheitsleiden genährt, gab diese ernste, verzichtende Stimmung ihrem Teilnehmen an den Vergnügungen und Anliegen, den Hoffnungen und Leidenschaften des Kreises, dem sie angehörte, um so mehr den Sinn eines freien Zusehens und uneigennützigen Wohlwollens. Diese Entfremdung ohne Erkältung, dies Gleichgewicht in der Offenheit trat dem Dichter als Seelenbild eines so reinen Lebensverstandes und so freien Mitgefühls entgegen, wie er selbst sie zur Bemeisterung seiner Aufgaben und Entfaltung seiner Poesie mehr und mehr sich zu erwerben in der Richtung war. Dass aber bei ihm diese innere Ablösung von Dem, was er mitmachte, und Erhebung über Das, was er mit betrieb, auf genialem Mut, auf der Hoffnung, sein Leben und seine Seele durch das Unvollkommene und mit demselben ins Vollkommene zu steigern, bei ihr im Gegenteil aus einer Schwermut ruhte, die den Anspruch auf Lebenslust und die Hoffnung auf Glück aufgegeben, das mischte der tiefen Anziehung, die er zu ihr empfand, eine eben so tiefe Rührung und Zartheit bei.
Es war dieser Gegensatz in der Einstimmung, diese Brechung seines Glückverlangens für die klarerkannte Seele an ihrer Hoffnungslosigkeit, was die inwendig sittliche Bewegung des jungen Mannes um die edle Frau noch leidenschaftlicher machte als seine damalige Gewohnheit, Aufregung zu suchen und sein Gefühl entschieden auszusprechen, sie ohnehin gemacht hätte. Anfangs glaubte er durch seine Teilnahme, Munterkeit, Schwunghaftigkeit sie mit fortheben zu können. Sie war dafür nicht unempfindlich; als aber sein hierdurch verdoppelter Schwung ihren ernsten Widerstand erfuhr, nahm er’s für Mangel an Vertrauen und Zuneigung. „Liebe Frau“, schreibt er im Januar 1776, „leide, dass ich Dich so lieb habe. Wenn ich jemand lieber haben kann, will ich Dir’s sagen. Will Dich ungeplagt lassen. Adieu Gold. Du begreifst nicht, wie ich Dich lieb habe.“ Und während er durch Scherze, Mitteilungen, Zusendungen sie in heitere Bewegung zu locken sucht, wiederholt sich die Bitte um Geduld, um ein bisschen Wärme, die Versicherung seines Vertrauens, seines Glaubens, seiner Liebe. Aber er nimmt wahr, dass auch das Gefühl, welches sie ihm widmet, ein anspruchsloses, verzichtendes sei. Als er sie Anfangs März von Erfurt aus bittet, inzwischen auf Ettersburg mit einem Ring ins Fenster oder Bleistift an die Wand irgend ein Zeichen, dass sie dagewesen, ihn auf seinem Rückweg finden zu lassen, nennt er sie „das einzige Weibliche, das er noch in der Gegend liebe, und das einzige, das ihm Glück wünschen würde, wenn er was lieber haben könnte als sie.“ Bald wird durch ihre Zurückhaltung seine eigne Stimmung gedämpft, und dann sagt er wieder: „Lassen Sie’s gut sein, weil ich doch nun einmal die Schwachheit für die Weiber haben muss, will ich sie lieber für Sie haben als für eine Andere.“ In der Erkenntnis von der Tiefe ihrer Resignation entscheidet sich seine Liebe und sein Vorsatz, mit ihrer Schwermut um den Glauben an den hellen Grund des Lebens zu ringen. „Ich sehe wohl, liebe Frau“ — schreibt er als Abschiedswort vor dem Ausflug nach Leipzig — „wenn man Sie liebt, ist’s als wenn gesä't würde, es keimt unbemerkt, schlägt aus und steht da — und Gott gebe seinen Segen dazu — Amen.“ Dann unterwegs: „Hinter Naumburg ging mir die Sonne entgegen auf! Liebe Frau! ein Blick voll Hoffnung, Erfüllung und Verheißung — die Morgenluft so erquickend, der Duft zwischen den Felsen so schauerlich, die Sonne so golden blickend als je — Nicht diesen Augen nur, auch diesem Herzen Nein! es ist der Born, der nie versiegt. Das Feuer, das nie verlischt, keine Ewigkeit nicht! Beste Frau, auch in Dir nicht, die Du manchmal wähnst, der heilige Geist des Lebens habe Dich verlassen.“ — Von Leipzig schreibt er dann: „Liebe Frau, Ihr Brief hat mich doch ein wenig gedrückt. Wenn ich nur den tiefen Unglauben Ihrer Seele an sich selbst begreifen könnte, Ihrer Seele, an die Tausende glauben sollten, um selig zu werden Ihr Traum, Liebste! Und Ihre Tränen! Es ist nun so! Das Wirkliche kann ich so ziemlich meist tragen; Träume können mich weich machen, wenn’s ihnen beliebt —.“ Aus dem Gedicht, das er acht Tage nach der Rückkehr an die Freundin richtete, lässt sich vermuten, dass dieser Traum, den sie ihm mitteilte, ihr Verhältnis zu ihm als ein nahes, aber unglückliches vorstellte. Dies Gedicht beklagt ihrer Beider Gabe, ahnungsvoll ihre Zukunft zu schauen, und nicht in seligem Wahne ihrer Liebe und ihrem Glück zu vertrauen. Ihnen sei das Traumglück so Vieler, die in Täuschungen hinleben, versagt, einander zu lieben ohne einander zu verstehen, in dem Andern zu sehen, was er nie war. „Glücklich, den ein leerer Traum beschäftigt; glücklich, dem die Ahndung eitel wär! Jede Gegenwart und jeder Blick bekräftigt Traum und Ahndung leider uns noch mehr.“ Es wird dies dahin ausgeführt, dass ihre Verbindung im innersten Wesen keine Täuschung und um so mehr der Mangel wirklicher Verbindung ihre Qual sei — wie er ein andermal sagte: „Wir können einander Nichts sein, und sind einander zu viel!“ — Aber er konnte sich nicht, wie sie wollte, und er hier nachzugeben schien, losmachen von der Hoffnung eines heitern Vertrauens und dauernd innigen Umgangs, die er nachmals in der langjährigen Freundschaft zartester Art mit der innerlich Wiederauflebenden sich und ihr bewährt hat.
Goethes Verhalten zur Geliebten den ganzen Sommer 1776 hindurch war ein stets wieder erneutes zutrauendes Annähern, stets wieder durch ihr Zurückziehen, Einschränken, Verreisen scheinbar auf den Anfangspunkt zurückgeführt. Gleichwohl wuchs innerlich das Band, das sie zu einander zog; nur dass die Freundin immer den Glauben an innere Angehörigkeit bei äußerer Zurückhaltung ihm eben so vergeblich einzuflößen suchte als er ihr seine Überzeugung, dass „die Gegenwart im Augenblick des Bedürfnisses alles entscheide, alles lindere, alles kräftige“ — die „Gegenwart allein es sei, die wirkt, tröstet und erbaut.“ — Er versuchte wohl, sich ihr zu fügen, „seinem Herzen nicht zu folgen und brav zu sein“, seltener zu kommen, seltener zu schreiben“, das „Gelübde“ der Entfernung zu halten, weil „doch seine Liebe eine anhaltende Resignation sei.“ Allein stets fasste „sein Herz unter dem Druck neuen Mut, zu leben, und eine neue Art von Hoffnung.“ Auch Sie neigte sich zu ihm herüber, „war so lieb als sie sein durfte ohne ihn zu plagen“, überraschte ihn wohl einmal durch eine unverhoffte sinnige Annäherung; aber dann „hatte sie alles was er getan, von ihr loszukommen, zu Grund gerichtet“; und so kam sie wieder in die Lage, „ihn zum Heiligen zu machen, das heißt, von ihrem Herzen zu entfernen“, und er, weil sie gegen seine Vorwürfe „sich immer gleich, immer die unendliche Lieb’ und Güte“ war, wieder in den Fall, sie „durch seine unhimmlische Gegenwart zu plagen.“
Nach diesem Sommer ging im September die Freundin auf ihr Gut, nahm Lenz mit zur Pflege seiner kranken Seele, dem Freund aber gab sie durch Blick und Wort zu verstehen, dass er sie nicht dort besuchen möge. Er klagte heftig darüber, sie sollte nun nichts weiter von ihm hören, auch verbat er sich alle Nachricht von ihr; aber als sie am andern Tag ihm freundliche Zeilen sandte, bat er ab, dankte, versicherte: „Mein Herz ist doch bei Ihnen, Liebe, Einzige, die mich glücklich macht ohne mir weh zu tun. Doch — freilich auch nicht immer ohne Schmerz.“ Er lebte den Monat in Geduld hin, schrieb: „Ich sitze oft unter meinem Himmel in Gedanken an Sie, Sie helfen mir abwesend zeichnen, und einen Augenblick, wo ich Sie recht lieb habe, sehe ich die Natur auch schöner, vermag sie besser auszusprechen.“ — Und hinwieder erfreute ihn die Entfernte mit Zeichnungen von ihrer Hand. Auf ihren Wunsch diente er mit Auskunft einer um ihres Sohns Erziehung besorgten Mutter. Er war „in einem unendlich reinen Mittelzustand ohne Freud’ und Schmerz, zusammengepackt von tausenderlei Umständen ohne gedrängt zu sein.“ Sie bat er, „dem Unglauben nicht so nachzuhängen; sein Herz sei nicht so unzuverlässig als sie denke. — Noch viel habe er zu sagen. — Aber Adieu!“ — Er besorgte ihr Bücher, und war „ganz still und stumm“, gab Nachricht vom Vorgekommenen während stürmischer Nacht, in der er — „Rechnungen las“ und „ganz still“ war. Er möchte, sagt er, jetzt übers Evangelium des ersten Sonntags nach Trinitatis predigen, „das sollte ein trefflich Stück werden“, und vergleicht damit Lenz dem armen Lazarus, der im Himmel erquickt wird, sich dem reichen Manne, der schmachtend durch eine große Kluft von den Seligen getrennt ist. Schon in jenem Klagebrief sagte er von Lenz: „Er soll Sie sehen, und die gestörte Seele soll in Ihrer Gegenwart die Balsamtropfen einschlürfen, uni die ich Alles beneide!“ In zwei spätem kurzen Briefen ist es in verhaltener Weise, dass er sein Gefühl über das Besuchsverbot und über ihr Schweigen andeutet.
Nach dieser Trennungszeit und einem kurzen Wiedersehen schreibt er am 7. Oktober: „Leben Sie wohl Beste! Sie gehen und weiß Gott was werden wird! Ich hätte dem Schicksal dankbar sein sollen, das mich in den ersten Augenblicken, da ich Sie wiedersah, so ganz rein fühlen ließ, wie lieb ich Sie habe. Ich hätte mich damit begnügen und Sie nicht weiter sehen sollen. Verzeihen Sie! ich seh’ nun, wie meine Gegenwart Sie plagt, wie lieb ist mir’s, dass Sie gehen, in Einer Stadt hielt ich’s so nicht aus. Gestern brachte ich Ihnen Blumen mit und Pfirsichen, konnt’s Ihnen aber nicht geben, wie Sie waren, ich gab sie der Schwester. Leben Sie wohl.“
„Bringen Sie das Lenzen. Sie kommen mir eine Zeit her vor wie Madonna, die gen Himmel fährt, vergebens dass ein Rückbleibender seine Arme nach ihr ausstreckt, vergebens dass sein scheidender tränenvoller Blick den ihrigen noch einmal niederwünscht, sie ist nur in den Glanz versunken, der sie umgibt, nur voll Sehnsucht nach der Krone, die ihr überm Haupt schwebt. Adieu, doch Liebe! G.“
Während der Abwesenheit der Freundin in diesem Monat erhielt Goethe keinen Brief von ihr. Auch findet sich keiner von ihm an sie. Gegen Ende aber dieses Monats schrieb er die Geschwister. Alle Elemente dieses Stücks liegen in der bisherigen Geschichte seiner Leidenschaft zur Freundin. Die Züge, die der Liebhaber im Drama mit dem Dichter gemein hat, werden wir uns jetzt verdeutlichen und das spezielle biographische Moment der Dichtung entwickeln können.
Insofern Wilhelm in der Lage ist, das Gefühl einer fingierten Schwester zur Liebe im engeren Sinn gesteigert zu wünschen, so gleicht Dies sehr dem Anliegen, das dem Dichter von Anfang des Jahres her die Seele bewegte. Schon im Januar schrieb er: „O hätte meine Schwester einen Bruder irgend wie ich an Dir eine Schwester habe“; und unmittelbar darauf (uns zum Maßstab seines damaligen Brudergefühls): „Denk an mich und drücke Deine Hand an die Lippen, denn Du wirst Gusteln seine Ungezogenheiten nicht abgewöhnen, die werden nur mit seiner Unruhe und Liebe im Grab enden.“ Und in jenem Gedicht vom 14. April:

„Sag’, was will das Schicksal uns bereiten?
Sag’, wie band es uns so rein genau?
Ach, Du warst in abgelebten Zeiten
Meine Schwester oder meine Frau."

Zwei Tage darauf: „Adieu, liebe Schwester, weil’s denn so sein soll.“ Dann, nach der mehrmaligen gezwungenen Entfernung und bald wieder wärmeren Annäherung, am 24. Mai: „Also auch das Verhältnis, das reinste, schönste, wahrste, das ich außer meiner Schwester je zu einem Weibe gehabt, auch das gestört! Wenn ich mit Ihnen nicht leben soll, so hilft mir Ihre Liebe so wenig als die Liebe meiner Abwesenden, an der ich so reich bin“ — und hier folgt sein mit dem ihrigen streitendes Glaubensbekenntnis, dass Gegenwart Alles sei. Das selbige, nach erneutem Zurückweichen in ihre Bedingungen, sprach er in dem Abschiedsbrief, ehe sie ins Bad ging, vom 22. Juni, mit dem Zusatz aus: „Ich hab Sie viel lieber seit neulich; viel teurer und viel werter ist mir Deine Gutheit zu mir. Aber freilich auch klarer und tiefer ein Verhältnis, über das man so gern wegschlüpft, über das man sich so gern verblendet.“ Er täuschte sich nicht; er wollte die Fiktion des Geschwisterverhältnisses in freie Neigung auflösen, sie festhalten. Es war nach den zarten Berührungen im August, dass die Wiederkehr dieses Konflikts im Herbstanfang ihm die Monatsverbannung aus der Nähe der Geliebten und nach einem Augenblick der Wiedererscheinung ihr nochmaliges Entschwinden zuzog. Jetzt wochenlang ohne ein Zeichen von ihr, trat der Zwiespalt und die Lösung, an der er nie verzweifelte, in seine Dichtereinbildung. Er stellte sich, in der Gestalt des Wilhelm der „Geschwister“ zwischen die geschiedene Freundin und ihr seinen Wünschen entgegenblühendes Ebenbild.

Die in Liebe Zurückhaltende, zu der der Dichter schon bei ihrem ersten ernstlichen Rücktritt gesagt: „Ich seh’ Dich eben künftig wie man Sterne sieht“; beim zweiten, „sie habe recht, ihn zum Heiligen zu machen“; selbst nach der schönen Begegnung im August: „Es ist wie in der Geisterwelt, ist mir auch wie in der Geisterwelt. Ein Gefühl ohne Gefühl“; und vierzehn Tage drauf: „Wenn das so fortgeht, werden wir wahrlich noch zu lebendigen Schatten“ —diese Freundin war endlich wie eine abgewendete „Madonna den Armen des Rückbleibenden und seinem tränenvollen Blick“ entschwunden: Charlotte — so hieß Frau von Stein, und so heißt im Drama die Freundin Wilhelms — war gestorben. „Siehst Du denn — ruft Wilhelm zu ihr empor — auf uns herunter, heilige Frau?“ und antwortet sich: „Ja, sie wissen von uns droben, sie wissen von uns!“ — „Höre — wendet er sich dann zum hereingetretenen Hausfreund — Charlottens Andenken ist diesen Abend wieder unendlich neu und lebendig vor mir geworden.“ — „„Das tut’s wohl öfters.““ — „Du hättest sie kennen sollen! Ich sage Dir, es war eins der herrlichsten Geschöpfe.“ — „„Sie war Witwe, wie Du sie kennen lerntest?““ — „So rein und groß! — Die Erde war sie nicht Wert. Fabrice, ich hab’ Dir schon oft gesagt, wie ich durch sie ein ganz anderer Mensch wurde. Beschreiben kann ich Dir die Schmerzen nicht, wenn ich dann zurück und mein väterliches Vermögen von mir verschwendet sah! Ich durfte ihr meine Hand nicht anbieten, konnte ihren Zustand nicht erträglicher machen. Ich fühlte zum Erstenmal den Trieb, mir einen nötigen schicklichen Unterhalt zu erwerben; aus der Verdrossenheit, in der ich einen Tag nach dem andern kümmerlich hingelebt hatte, mich herauszureißen. Ich arbeitete — aber was war das? Ich hielt an, brachte so ein mühseliges Jahr durch; endlich kam mir ein Schimmer von Hoffnung, mein Weniges vermehrte sich zusehends — und sie starb. — Ich konnte nicht bleiben, Du ahnest nicht, was ich litt. Ich konnte die Gegend nicht mehr sehen, wo ich mit ihr gelebt hatte, und den Boden nicht verlassen, wo sie ruhte—“
Um an das Letzte (dass Wilhelm, wo Charlotte ihn verließ, nicht zu bleiben und nicht zu scheiden wusste) vorerst anzuknüpfen: so ging es auch Williams feurigem Jünger, als die liebe Frau sich ihm entzog, „verflucht durch Kopf und Herz, ob er bleibe oder gehe.“ Und während ihrer Ferne im Sommer, kurz eh sie ihm „wie in der Geisterwelt“ erschien, schrieb er: „Gestern als wir Nachts von Apolda zurückritten — da fiel mir’s auf, wie mir die Gegend so lieb ist, das Land! der Ettersberg! die unbedeutenden Hügel!! und mir fuhr’s durch die Seele: Wenn du nun auch das einmal verlassen musst! das Land, wo du so viel gefunden hast, alle Glückseligkeit gefunden hast, die ein Sterblicher träumen darf, wo du zwischen Behagen und Missbehagen in ewig klingender Existenz schwebst — wenn Du auch Das zu verlassen gedrungen würdest mit einem Stab in der Hand, wie du dein Vaterland verlassen hast, es kamen mir die Tränen in die Augen, und ich fühlte mich stark genug, auch das zu tragen, — stark! das heißt dumpf.“ Wir haben auch in dem letzten Brief, der dem Dichter der Geschwister vorherging, gelesen: „Wie lieb ist mir’s, dass Sie gehen, in Einer Stadt hielt ich’s so nicht aus.“ Und nur drei Tage nach Vollendung des Stücks, am 3. November, sagt er: „Gestern Nacht haben mich Stadt und Gegend und Alles so wunderlich angesehen. Es war mir, als wenn ich nicht bleiben sollte. Da bin ich noch ins Wasser gestiegen und habe den alten Adam der Phantasien ersäuft.“

Sehen wir nun darauf, dass Wilhelm durch Charlotte ein anderer Mensch geworden und von Verschwendung zur Ökonomie übergegangen, so ist schon oben der tiefe Eindruck berührt, den gerade der geduldig-ordnende Geist der Frau von Stein auf den Dichter gemacht, welcher selbst auf Ordnung und Einschränkung bedacht, in Weimar seinem Garten, seinem Amt, seiner Dichtung einen fruchtbaren Grund zu bereiten begann. Die Ökonomie im engeren Sinn ist von diesem Gesichtspunkt keineswegs ausgeschlossen, da wir einerseits von damaligen Schulden, die Goethe erst nach geraumer Zeit löschte, andererseits aus seinem Tagebuch wissen, wie er mit stiller Befriedigung wiederholt seinen Fortschritt in der Wirtschaftlichkeit anmerkte. In den Tagen vor Abfassung der Geschwister, jenen Tagen der Enthaltung und Einsamkeit, wo er „in einem unendlich-reinen Mittelzustand ohne Freud’ und Schmerz, zusammengepackt von tausenderlei Umständen“, Geschäfte für die Freundin besorgend, „ganz still und stumm“ war, „Rechnungen las und stumm war“, mochte er sich dem geduldig und langsam erwerbenden jungen Kaufmann ähnlich genug vorkommen.

In tieferem Sinn aber hatte Goethes feste Richtung auf ein volles Einverstehen mit der Freundin wesentlich für ihn die Bedeutung, aus der Lebensverschwendung unstet wechselnder Leidenschaften sich in eine treuinnige Liebe zu sammeln. Wie er den vormaligen leichtsinnigen Wechsel und zerstörenden Unbestand fühlte, spricht der Wilhelm im Schauspiel bezeichnend genug in dem Monolog aus, wo er die schön und fromm erworbene Geliebte sich abwendig wähnt: „Du liegst schwer über mir und bist gerecht, vergeltendes Schicksal! — Warum stehst Du da? Und Du? Just in dem Augenblicke! — Verzeiht mir! Hab’ ich nicht gelitten dafür? Verzeiht! es ist lange! — Ich habe unendlich gelitten. Ich schien euch zu lieben; ich glaubte, euch zu lieben; mit leichtsinnigen Gefälligkeiten schloss ich euer Herz auf und machte euch elend. Verzeiht und lasst mich — Soll ich so gestraft werden? Soll ich Sie verlieren, die letzte meiner Hoffnungen, den Inbegriff meiner Sorgen? — Es kann nicht!“ — Man vergleiche die Geständnisse von Leipzig aus: „Alles ist wie’s war, nur ich bin anders, nur das ist geblieben, was die reinsten Verhältnisse zu mir hatte damals — Mais-ce n’est plus Julie — — Ich habe heut viel, viel gelitten, aber auch Einen Moment! — — Was das Schicksal mit mir vorhaben mag! Wie viel Dinge ließ es mich nicht auf dieser Reise in bestimmtester Klarheit sehen! Es ist als wenn diese Reise sollt mit meinem vergangenen Leben saldieren (Man beachte den kaufmännischen Ausdruck!) Und gleich knüpft’s wieder neu an. Hab ich euch doch alle. Bald komm ich.“ — Wir erinnern uns, dass er diese Reise mit dem vollen Ausdruck seiner Liebe für die Freundin und mit dem Vorsatze antrat, sie aus ihrer Abgestorbenheit für den Lebensgenuss hinüberzuziehen in den Glauben an seine Sonne, den Feuerborn der nie versiegt, keine Ewigkeit nicht! — Hans Sachsens Sendung, ebendamals gedichtet, vollendet sich ja gleichfalls darin, dass der fleißige, von Ehrbarkeit, Historia, Musa umgebene Meister zur „Stärkung“ in seinem Beruf, zum „Balsam seines inneren Wesens“ die Holde erschaut, die „mit abgesenktem Haupt und Aug’“, „ahndevollem Wesen“, „trüber Stirn“ „seufzend“ nun aufblicken müsse, um in dem „Einen, der manches Schicksal wirrevoll an ihrem Auge sich lindern soll’“, selbst „neues Jugendglück“. „wiederkehrende Schalkheit“, eine „Liebe, die nicht alt wird“ zu finden.

Es hat also, dass Wilhelm für seine Charlotte ein neues Leben beginnt, sich einschränkt, tätig ist, seine volle Anwendung auf den Dichter. Das Vermögen, das er aufbringen, das Glück, das er aus kleinen Anfängen erbauen wollte, war für sie; insofern mehr für sie, denn für ihn selbst, als an dem Schatz der Lebenshoffnung und Freudentriebe sie verarmt, er, ihn zu heben, Herr der dehnbarsten, unerschöpflichen Mittel war. Aber es war ein neuer Anfang; es wurde noch kaum sichtbar, was er förderte mit der stillen Arbeit, zu der sein Werben um sie recht eigentlich gehörte, dies unabwendige, scheinbar wenig gelohnte, immer geduldigere, immer zartere Werben um ihre Erheiterung, ihr Vertrauen, ihr Aufleben, womit er in der Tat „ein mühseliges Jahr zubrachte“, bis unter den ersten Schimmern der Hoffnung sie von ihm schied. Bis dahin ist die Dichtung die durchsichtige Verschleierung seines jüngst verwichenen Lebens, und wohl konnte er, wie Wilhelm, von vergangenen „selig-elenden Augenblicken“ dieses Lebens sagen. Die Haupthandlung aber des kleinen Stücks ist Entwicklung seiner Hoffnung für die Zukunft.

Der liebende Dichter wusste, dass die Abgewendete zurückkehren, die Schwester-Fiktion neu beginnen, sein „Erwerb im Kleinen“ wieder anknüpfen und die „anhaltende Resignation“ ihm noch lange auferlegt sein werde. Er wusste es und er glaubte standhaft, dass in der Befangenheit der Fiktion die unbefangene Neigung heraufblühen werde. Wer diese Zeit von Goethes Leben und die Briefe an Frau von Stein näher kennt, kann wissen, dass diese treue Übung und der leise Aufbau des Glücks noch vier Jahre währte, dann aber wirklich seine Geduld schön belohnt, die kühne Hoffnung erfüllt wurde.

Diese Hoffnung, welche die scheidende Freundin seinem Glauben hatte hinterlassen müssen, führte er als Charlottens Vermächtnis an Wilhelm, in der Gestalt der Tochter Marianne, die sie ihm sterbend anvertraut, in die Dichtung ein, und machte zum Inhalt der letzteren diesen langsam sich lohnenden Fleiß des Fürsorgenden, diese innerlich warme Zurückhaltung des einstweiligen Bruders, und die Überwindung der Fiktion in Mariannens Liebe.

Mariannens Gestalt ist poetische Hypostase des in Prosa diese Zeit her vom Dichter mehrmals geäußerten Wunsches. Am 16. August: „Deine Schwester [die heitere Frau von Imhoff] ist ein liebes Geschöpf, wie ich eins für mich haben möchte, und dann nichts weiter geliebt. Ich bin des Herzteilens überdrüssig.“ — Und noch aufrichtiger schon im März aus Leipzig: „Die Schröter ist ein Engel — wenn mir doch Gott so ein Weib bescheren wollte, dass ich euch könnt’ in Frieden lassen — doch sie sieht Dir nicht ähnlich genug.“ — Diesem Mangel half die Poesie. „Von Charlotten — sagt Wilhelm zu Fabrice — von Charlotten erzählt’ ich Dir, dem Engel, der meinen Händen entwich und mir sein Ebenbild eine Tochter zurückließ.“ — Und nun ist die Entwicklung des Verhältnisses im Drama nur die Umkehrung der Vorstellung, die Goethe in jenem Gedicht, das an den Traum anknüpfte, ausgebreitet: „Du warst in abgelebten Zeilen meine Schwester oder meine Frau.“ Dies Verhältnis bezeichnet das Gedicht zu Ende als in der Wirklichkeit verloren. „Und von Allem dem schwebt ein Erinnern nur noch um das ungewisse Herz, fühlt die alte Wahrheit ewiggleich im Innern und der neue Zustand wird ihm Schmerz. Und wir scheinen uns nur halbbeseelet, dämmernd ist um uns der hellste Tag —.“ Das ist im Schauspiel der Anfang, diese Ungewissheit Wilhelms zwischen Hoffen und Zweifeln, diese Dämmerung Mariannens in halbbewusstem Verlangen. Als der Hausfreund sie fragt, ob die Vorstellung vom Glück einer Mutter, einer Frau sie traurig mache: „Nicht traurig, aber ich denke nur so“ — — „Ich denke — ich denke auch nichts. Es ist mir nur manchmal so wunderbar.“ Wilhelm sucht unterdes für sein „volles Herz unter dem Sternenhimmel einen freien Atemzug“, wie sein Dichter so oft. Als aber Fabrice Mariannen dringender fragt, ob sie nie gewünscht: „Was tun Sie für Fragen? Gewünscht nie, Fabrice. Und wenn mir auch manchmal so ein Gedanke durch den Kopf fuhr, war er gleich wieder weg. Meinen Bruder zu verlassen wäre mir unerträglich, unmöglich“ — und alles, was folgt, ist nur die Ausführung davon, dass sie diese „Wahrheit ewig-gleich im Innern fühlt.“ Ihre Ahnung, wie Wilhelms, geht in eine Zukunft, wie jenes Gedicht eine Vergangenheit ahnte. „Manchmal kann ich mir ein langes Märchen erzählen, wie alles gehen könnte und gehen möchte. Komm’ ich aber hernach aufs Wahre zurück, so will’s immer nicht werden.“ Aber dies Hindernde für sie (dass sie nur Schwester ist), für Wilhelm (dass sie ihn, wie er einen Augenblick glaubt, nicht liebe) ist nur Schein, die Ahnung zum Glück wahr, also umgekehrt wie dort: „Glücklich, dem die Ahndung eitel wär’.“ — Als Marianne noch unter jenem Schein erst recht inne wird, was sie bei Romanen geträumt, was beweint, da ist es der bisher von ihr glücklich genannte Zustand (nicht, wie dort im Gedicht, der neue), der ihr „Schmerz wird“; und doch, wie das Gedicht sagte: „Glücklich, dass das Schicksal, das uns quälet, uns doch nicht verändern kann“, so fleht auch sie: „Wir wollen wieder so leben und immer so fort!“ was doch im Licht ihres Romantraums „ein gar erbärmlich Schicksal“ war. Dieser „ihr Traum“, „ihre Tränen“, sie machen Wilhelm auch, wie damals jene der Freundin den Dichter weich; aber „das Wirkliche“, da es hier nicht widersprechend, da es erfüllend ist, kann er nicht nur „so ziemlich“, sondern vor Glück kaum tragen. Und so endet das Schauspiel für die „liebevollen Leiden“ in Das, was das Gedicht als das Verlorene, das Längstvergangene schildert:
„Kanntest jeden Zug in meinem Wesen,
Spähtest wie die reinste Nerve klingt,
Konntest mich mit Einem Blicke lesen,
Den so schwer ein sterblich Aug' durchdringt.
Tropftest Mäßigung dem heißen Blute,
Richtetest den wilden irren Lauf,
Und in Deinen Engelsarmen ruhte,
Die zerstörte Brust sich wieder auf.
Hieltest zauberleicht ihn angebunden,
Und vergaukeltest ihm manchen Tag.
Welche Seligkeit glich jenen Wonnestunden,
Da er dankbar Dir zu Füßen lag,
Fühlt’ sein Herz an Deinem Herzen schwellen,
Fühlte sich in Deinem Auge gut,
Alle seine Sinnen sich erhellen und beruhigen sein brausend Blut! —“

Löste im Drama der Dichter die Schwester-Fiktion der Freundin auf, so bezeichnete er nicht minder deutlich, dass er jenseits des Drama auch seine Fiktion, diese poetische Marianne, ins Urbild auflöse und nicht etwa diesen vorgestellten Ersatz in irgend einer wirklichen Mädchengestalt, nicht etwa in Malchen Kotzebue, für die er die Rolle schrieb, zu finden gemeint sei. Sagte doch Wilhelm gleich im Anfang: „Charlotte — Du gabst mir (in diesem Kinde) alles, was ich bedurfte, knüpftest mich ans Leben! Noch ist mir’s Täuschung. Ich glaube Dich wiederzusehen, glaube, dass mir das Schicksal verjüngt Dich wiedergegeben hat, dass ich nun mit Dir vereinigt bleiben und wohnen kann, wie ich’s in jenem ersten Traum des Lebens nicht konnte, nicht sollte.“ An dies Urbild dachte der Dichter, als er in der ersten Szene in Wilhelms Rolle sprach: „Wenn das holde, liebe Geschöpf nicht wäre, säß’ ich hier und verglich’ Brüche? O Marianne, wenn Du wüsstest, dass der, den Du für Deinen Bruder hältst, dass der mit ganz andern, Herzen, ganz andern Hoffnungen für Dich arbeitet! — Vielleicht! — Ach! — Es ist doch bitter! Sie liebt mich — ja, als Bruder — Nein, pfui! das ist wieder Unglaube, und der hat nie ’was Gutes gestiftet. — Marianne, ich werde glücklich sein, Du wirst’s sein, Marianne!“ Er dachte an das Urbild, das er so wiederholt gebeten, „dem Unglauben nicht nachzuhängen.“

Dass ihm Charlotte — die „doch Liebe!“ — doch nicht gestorben war, drückte er im Schauspiel unmittelbar nach Erwähnung ihres Hinscheidens aus. Wilhelm: — „Sie schrieb mir kurz vor ihrem Ende—“ (nimmt einen Brief aus der Schatulle). Fabrice: Es ist ein herrlicher Brief, du hast mir ihn neulich gelesen —. Wilhelm: „Ich kann ihn auswendig und les ihn immer. Wenn ich ihre Schrift sehe, das Blatt, wo ihre Hand geruht hat, mein’ ich wieder, sie sei noch da — Sie ist auch noch da!“—

Dieser letzte Brief Charlottens, der nicht vorgelesen wird, bedeutete dem Dichter ohne Zweifel die letzten Zeilen, die er von Frau von Stein in Händen hatte; sei es nun ein im September von ihrem Gut aus geschriebener Brief, sei es ein späterer, etwa nach dem kurzen Wiedersehen unmittelbar vor der Rückkehr aufs Gut im Oktober, und dann vielleicht zur Begütigung der Klage an ihn gerichtet, die er der „Madonna“ nachgerufen. Es könnte auch diese Stelle nachträglich, kurz vor der Aufführung der Geschwister im November erst eingeschoben sein, nachdem Goethe am 7. dieses Monats, dem Jahrestag seiner Ankunft in Weimar, von der Freundin eine Anzahl Briefe auf einmal empfangen, die sie in der Zwischenzeit für ihn geschrieben, aber aus Bedenklichkeit zurückgehalten hatte. — Ich möchte nichts dagegen wetten, dass Goethe nicht bei der ersten Aufführung im Hofkreise an dieser Stelle des Stücks einen Originalbrief der Freundin aus der Schatulle, die ihn gleich wieder einschloss, hervorgehoben. Wenigstens bleibt mir, wenn ich’ überblicke, in welchem Umfang Goethe dies Schauspiel aus seinem wirklichen Verhältnis zu dieser Freundin und für dasselbe geschrieben hat, darüber kein Zweifel, dass der andere Brief, den Wilhelm kurz vorher wirklich vorliest, ein authentischer Brief der authentischen Charlotte sei. „Es war“, sagt Wilhelm, „in den ersten Tagen unsrer Bekanntschaft. Die Welt wird mir wieder lieb, schreibt sie, ich hatte mich so los von ihr gemacht, wieder lieb durch Sie. Mein Herz macht mir Vorwürfe; ich fühle, dass ich Ihnen und mir Qualen zubereite. Vor einem halben Jahre war ich so bereit zu sterben, und ich bin

Goethe, Johann Wolfgang von (1749-1832) Dichter und Universalgelehrter

Goethe, Johann Wolfgang von (1749-1832) Dichter und Universalgelehrter

Goethe, Johann Wolfgang von (1749-1832) Dichter, Schriftsteller und Staatsmann

Goethe, Johann Wolfgang von (1749-1832) Dichter, Schriftsteller und Staatsmann

Goethe. Anonymer Stich. - Spiegelbild einer Zeichnung von G. F. Schmoll 1775

Goethe. Anonymer Stich. - Spiegelbild einer Zeichnung von G. F. Schmoll 1775

Goethe. Nach einem Ölgemälde von Georg Melchior Kraus, 1776.

Goethe. Nach einem Ölgemälde von Georg Melchior Kraus, 1776.

Goethe lesend. Im Hintergrund Goethes Haus am Frauenplan in Weimar. Schattenriss, 1782.

Goethe lesend. Im Hintergrund Goethes Haus am Frauenplan in Weimar. Schattenriss, 1782.

Goethe in der römischen Campaga. Ölgemälde von J. H. W. Tischbein, 1787.

Goethe in der römischen Campaga. Ölgemälde von J. H. W. Tischbein, 1787.

Goethe. Zeichnung von Johann Heinrich Lips, 1791.

Goethe. Zeichnung von Johann Heinrich Lips, 1791.

Goethe. Ölgemälde von Franz Gerhard von Kügeln, 1808.

Goethe. Ölgemälde von Franz Gerhard von Kügeln, 1808.

Goethe - Familiengemälde von J. K. Seekatz, 1762.

Goethe - Familiengemälde von J. K. Seekatz, 1762.

Goethe. Schattenriss. Um 1776.

Goethe. Schattenriss. Um 1776.

Stein, Charlotte Freifrau von (1742-1827) Hofdame der Herzogin Anna Amalia und enge Freundin Goethes

Stein, Charlotte Freifrau von (1742-1827) Hofdame der Herzogin Anna Amalia und enge Freundin Goethes