Zivilisation und Wildnis.

Die Gartenlaube, illustriertes Familienblatt.
Autor: Gerstäcker, Friedrich (1816-1872) deutscher Reise- und Abenteuerschriftsteller, Erscheinungsjahr: 1855
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Ich will die beiden flüchtig mit einander vergleichen, und der Leser mag dann selber urteilen, ob sich eben die Wilden oder Heiden, indem sie in einen Zustand der Zivilisation übergingen, verbesserten, oder ob das Ganze nur – im Wesentlichen dasselbe bleibend – einen andern Namen bekommen hat.
Die Regierungsformen wilder Völker laufen in der Mehrzahl auf erbliches Häuptlingstum hinaus; nur die australischen Stämme, mit die weitesten zurück in einem förmlichen Urzustand, nehmen das Alter überhaupt als Maßstab an, weltliche Macht und Gerechtigkeit auszuüben, und ihre alten Männer oder burkas gewinnen mit einer gewissen Zeitperiode das Recht, sich die Haut an verschiedenen Teilen ihres Körpers aufzureißen und – Alles zu essen, was vorkommt, während den Jüngern verschiedene Leckerbissen untersagt sind.
Bei den nordamerikanischen Wilden bemalen sich die Häuptlinge auf besondere Weise, und haben auch großenteils irgend eine besondere Tätowierung ihres Stammes, einen Bären, eine Schildkröte, einen Fisch, einen Vogel, auf der Brust eingegraben. Sie dürfen dabei gewisse Federn, meist vom Adler, im Haar tragen – sie arbeiten Nichts, gehen nur zu ihrem Vergnügen auf die Jagd, oder manchmal, aus irgend einer Grille in den Krieg, und bekommen gewöhnlich noch einen schmeichelhaften Beinamen, schon während Lebzeiten, der sie mit irgend einem außerordentlich schnellen oder starken Tier vergleicht, wie z. B. „der springende Panther,“ „der schwarze Falke“ etc. etc.
Wie außergewöhnlich kommt uns das vor, und wenn wir Namen und Stoff, also höchst unwesentliche Bestandteile ändern, haben wir doch viel Ähnliches aufzuweisen.
Wie bei den Burkas, darf das „niedere Volk“ bei uns ebenfalls gewisse Sachen nicht essen, wie z. B. Gänseleberpasteten, Trüffeln, Fasanen etc. – Die erbliche Häuptlingsschaft ist dieselbe geblieben, und wem könnte die Aehnlichkeit der jetzigen Wappenschilde mit den Bären und Fischen jener Urstämme entgehen, über die wir lächeln wollen.
Aber die Adlerfedern im Haar? – Unsere Admirale, Generale und Stabsoffiziere tragen ganze Büschel bunter Federn auf den Hüten, und wilde Völker würden sich ausschütten vor Lachen (und thun es auch manchmal), wenn sie herüber kommen zu uns und eben die dreieckigen Filzkasten sehen könnten, die jene darunter tragen dürfen als besonderes Privilegium.
Und die Beinamen? – den schnellen Wolf und den schlauen Panther, den Fuchs und den Adler, haben wir in ähnlichen Bestien, als Löwen, Bären etc., noch auf den Schildern selbst bis auf uns zurückbehalten, und „der Große,“ „der Gute,“ „der Gerechte“ sind eben nur Eigenschaftsnamen eines Häuptlings. Ob er wirklich so rasch laufen konnte wie ein Wolf, oder so schlau war wie ein Panther, kommt gar nicht darauf an.
Äußerliche Auszeichnungen blieben aber dabei nicht allein stehen, sondern reichten vom Häuptling auch hinunter auf die Krieger und Männer im Rath (Generalstab, Offiziere, Geheime und Legationsräte und Beamte), die ihre besonderen Tätowierungen als Abzeichen tragen durften.
Der Wilde hat aber keinen Rock, also mußte er sich den Orden in die Haut graben – Verlust der Nationalkokarde war dabei gar nicht möglich – und trügen wir hier nicht den Frack und etwas darunter, so würden unsere geheimen und wirklichen Räte ebenfalls zur Urhaut ihre Zuflucht nehmen müssen – man kann doch nicht Alles um sich herum hängen.
Der nordamerikanische Indianer trägt außerdem die Skalpe seiner erschlagenen Feinde als Siegstrophäen – was aber sind die, aus dem Metall erbeuteter Kanonen gegossenen Medaillen anderes als zivilisierte Skalpe? Wir müssen das Kind nur beim rechten Namen nennen.
Auf den Schmuck und die Abzeichen der verschiedenen Länder brauche ich eigentlich gar nicht näher einzugehen; die Aehnlichkeit ist hier zu auffallend, und ich will deshalb nur die hervorragendsten Punkte berühren.
Der Wilde tut entsetzliche Dinge, sich in einen Zustand zu versetzen, den er schön nennt; er durchbohrt sich Nasen und Ohren und hängt Glaskorallen oder steckt Federn und Stücke Holz hinein – er bindet sich Schellen und Perlen in’s Haar und an Arme und Beine, malt und tätowiert sich die Haut, reibt sich mit Fett oder Thon ein, und glaubt es, etwas Außerordentliches, wenn er einen alten Knopf oder etwas Derartiges gefunden hat, seiner Würde einen vielleicht höhern Glanz zu verleihen.
Ja aber wir tätowieren und bemalen uns nicht.
Nein, lieber Leser - dem letzteren aber immer noch Ausnahmen zugestanden - aber nur aus dem Grunde, weil unsere Kleidung schon gewissermaßen unsere Tätowi2rung ist. Sobald der Wilde erst einmal Kleider trägt, tätowiert er sich auch nicht mehr, aber nicht etwa, weil er die Tätowierung jetzt für etwas Hässliches hielte, sondern weil man sie eben nicht mehr sehen könnte.
Eine Auszeichnung will nun einmal ein Mensch vor dem andern haben, sei es aus welchem Grunde es wolle, und wenn wir uns nicht tätowieren oder bemalen, der neidischen Kleider wegen, kleben und knöpfen wir uns oben darauf Orden und Sterne und bunte Bändchen und Flittern und Steinchen und alte Knöpfe und Schlüssel, und Gott weiß, was sonst noch – und nun ziehe einmal Jemand die Grenzlinie.
Dabei fällt mir ein alter Indianer der Südsee ein, der wahrscheinlich einmal bei einer festlichen Gelegenheit einen Konsul oder Schiffskapitän mit Orden besteckt gesehen und dem das Ding gefallen hatte. Er ließ sich also die ganze Bescherung, ohne erst bei irgend einer der betreffenden Behörden um Erlaubnis nachzufragen, auf den eigenen Körper nachtätowieren; leider aber war auf der Brust, wo schon andere Linien standen, kein Platz mehr gewesen, und er nahm deshalb die Verzierung auf den Rücken.
Überhaupt giebt es Nichts auf der Welt, in dem die zivilisiertesten Völker den wildesten ähnlicher sind, als gerade in den äußeren Ausschmückungen. Ob sie sich nun mit Thon oder Patchouly einreiben, die Extreme berühren sich doch, und selbst den Chinesen, die ein Recht zu haben glauben, sich bei uns sehen zu lassen - denn wir könnten dort dasselbe thun – dürfen wir Nichts vorwerfen.
Sie rasieren sich den Kopf, wir den Bart; sie schnüren die Füße ihrer Kinder ein, wir die Taillen; sie nennen ihr Reich das Himmlische, und unsere biederen Zeitungsredakteure schreiben, „die allerhöchsten Herrschaften begaben sich in die Kirche, dem Höchsten ihren Dank darzubringen.“ Während wir dabei behaupten, die Kompassnadel zeige nach Norden, lacht der Chinese und sagt, wir wären blind, daß wir nicht sähen, wie sie nach Süden wiese - und nun beweise ihm das Einer.
Auch bessere Menschen sind wir nicht durch die Zivilisation geworden; je feinere Unterschiede wir zwischen den einzelnen Ständen und Geschäften, zwischen unseren Stellungen und Ämtern, zwischen unserer Geburt, und gleichviel wie erlangten Besitz machen, desto größer wird die Verführung zur Sünde, oder wenigstens zu manchen Handlungen, die ein unkultivierter Wilder nicht für möglich halten würde, und über die er ebenso die Achseln zuckt als wir darüber, daß er vielleicht sein Rindfleisch ohne Senf und mit den Fingern isst.
Wir tadeln bei ihm seinen Blutdurst, seine Kindesmorde und feindlichen Einfälle auf Nachbargebiet, schlagen uns an die Brust und bedanken uns beim lieben Gott, daß wir nicht sind „wie Jene da,“ und geben uns trotzdem, selbst mit der Beistimmung und dem Segen unserer allerchristlichsten Kirchen die größte Mühe unsern komplizierten Mordmaschinen, Feuerschlünde und Gewehre, Brandraketen, Bomben etc. etc., noch auf die möglichste Weise zu verbessern, unserer Nachbarn Kinder – ja nicht selten die eigenen in so großen Quantitäten als angeht, aus der Welt zu schaffen. Wir stehen entsetzt, wenn uns ein Missionär mit dem Sammelteller (denn ohne den erzählen sie uns Nichts) in der Hand von zwei oder drei Witwen Nachricht gibt, die sich mit der Leiche ihres Gatten haben verbrennen lassen. und lesen ungerührt die Schlachtberichte, nach denen so nun so viel Tausende getötet wurden, oder mit, durch die Zivilisation zerrissenen Gliedern in den Spitälern liegen, dort notdürftig wieder zusammengeflickt, und womöglich noch einmal gebraucht zu werden.
Der Indianer, wenn er mit einem Fremden geraucht oder mit ihm aus einer Quelle getrunken hat, ist sein Freund, und er würde gebrandmarkt dastehen, wollte er ihn betrügen oder hintergehen. Zivilisierte Menschen, wenn sie mit einander ein Geschäft abschließen wollen, bieten sie einander gewöhnlich erst eine Zigarre und ein Glas Wein an, und nachdem sie zusammen geraucht und getrunken – mag nur Jeder aufpassen, daß er seinen Vorteil wahre.
Nein, gebessert hat die Zivilisation die Menschen nicht, und in ihren Leidenschaften und Trieben selbst wenig verändert, nur in der Industrie der Völker und der dadurch geweckten Intelligenz liegt der alleinige Unterschied zwischen ihr und der Wildnis, und sind wir einmal dahin gelangt, so sehen wir gerade in der Zivilisation, so lange sie nicht unsere Herzen veredelte und uns selber besser machte, auch nichts anderes als die Kunst sich selber Bedürfnisse zu erschaffen, um sie dann zu befriedigen.
Das Leben in der Wildnis ist ein Wasserrad, das sich dreht und dreht, nur um die obern Planken nass zu halten, damit sie nicht aus einander fallen, und die Planken müssen eben zusammen halten, damit sich das Rad drehen kann. Das Leben der Zivilisation ist dasselbe, nur daß das Rad nicht einfach im Wasser selber steht, sondern ein ganzes Haus voll großer und kleiner Räder und Rädchen, Zylinder und Schrauben und Ventile hat, dasselbe Resultat hervorzubringen – und der Schlüssel dazu heißt: Übervölkerung.
Der zivilisierte Mensch geht in die Wildnis und kehrt freudig in seine Heimath, in die Mitte seiner Bequemlichkeiten zurück und denkt sich dabei: „Wie bist du glücklich, daß du nicht in einem solchen Zustand leben musst;“ ja, begreift nicht, wie es andere Menschen darin aushalten. Der Wilde wird in das Leben und Treiben der Zivilisation eingeführt, mit allen ihren Geheimnissen und Vorteilen bekannt gemacht, und kehrt zuletzt in seinen Wald zurück und lacht und spricht: „Was sich die Menschen da draußen nur für Mühe geben zu leben; da hab’ ich’s hier bequemer.“
Wird er dann gezwungen, die fremden Sitten und Gebräuche, fremde Zivilisation und Religion anzunehmen – dann legt er sich hin und stirbt, aber das schadet gar nichts – die übervölkerten Länder besetzen und kultivieren sein Land und behaupten, der Zivilisation einen Dienst erwiesen zu haben. Sie übersehen wunderbarer Weise dabei, wie die Einzigen, denen wirklich ein Dienst dadurch geleistet ist, sie selber sind, und daß auch in der Tat nur die Industrie und der Anker das Ziel waren, dem sie entgegenstrebten – die Menschen mochten darüber zu Grunde gehen.
Um wie viel Tausende hat sich z. B. nur auf den Sandwichs-Inseln die Bevölkerung der Ureinwohner seit der Einführung der Zivilisation und des Christentums verringert – bah, was Bevölkerung? – aber um wie viel ist der Anbau der Kartoffeln und des Zuckerrohrs gestiegen – es ist enorm – und von den Gestorbenen ist übrigens wenigstens der dritte Theil getauft gewesen – also selig gestorben.
Nichtsdestoweniger wird und muss, in notwendiger Folgerung, die Zivilisation mehr und mehr um sich greifen und nach und nach den ganzen Erdball bewältigen – wenn ihn nicht vielleicht der liebe Gott vorher noch erst einmal wieder sauber abwäscht wie zu Noah’s Zeiten – der Indianer wird aussterben, wie jene Tierkolosse ausgestorben sind, deren riesige Überreste uns , noch jetzt mit staunender Bewunderung erfüllen, und Dampfessen werden dort rauchen und Lokomotiven keuchen, wo jetzt die stolze Palme noch in schweigender Majestät ihre Krone wiegt, dem sprudelnden Bach und der duftenden Blüte Schatten gebend. Das Alles wird geschehen, und zwar in einer unverkennbaren Notwendigkeit, dem wachsenden Menschengeschlecht Raum, seinen Körper zu erhalten – Raum für seine strebsame Tätigkeit zu geben, und der eben, der den Raum zu vergeben hat – der Indianer – fällt zum Opfer, ob er als Christ oder Heide stirbt, bleibt sich da gleich.
Weil wir aber einem solchen Ziel entgegen arbeiten, haben wir nicht nöthig, dasselbe als den besten Zeitpunkt anzupreisen.
Alle werden wir alt, Alle suchen wir eine Stellung im Leben einzunehmen, aber wir brauchen uns nicht vorzulügen, daß die Zeit des Lebens die schönste ist, wo wir solche Stellung erreicht haben – wie Wenige von uns gäben ihre Jugend für das Alter hin.
Darum dürfen wir die Wildnis nicht verachten, ihre Bewohner nicht Heiden und Kannibalen schimpfen und selber thun als ob wir etwas ganz Besonderes wären. Jene Völker aber sind noch in der Jugend, es sind Kinder, die weiter nichts gebrauchen als einen Platz zum Essen und Spielen (denselben Platz, auf den wir gern unsere Kommoden und Schränke stellen möchten) und wenn sie erst einmal in ihren Gräbern liegen, die stillen Söhne einer fernen Zone, dann werden wir ihnen doch eine Trauerrede halten, und bedauern nicht ein klein wenig früher daran gedacht zu haben, ein klein wenig milder mit ihnen zu verfahren. Aber dann ist es zu spät; ihre Geschichte ist dann auch ziemlich vergessen – wir haben mehr zu thun als über ausgestorbene Geschlechter nachzudenken – und die Welt ist zivilisiert.