Ziele der schulärztlichen Tätigkeit.

Aus: Die Umschau. Übersicht über die Fortschritte und Bewegungen auf dem Gesamtgebiet der Wissenschaft und Technik. sowie ihrer Beziehungen zur Literatur und Kunst.
Autor: Leubuscher, Georg Dr. (1858-1916) Prof. in Jena, Mediziner und Sozialreformer, Geh. Medizinalrat., Erscheinungsjahr: 1909

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Schularzt, Landschulen, Gymnasien, Gesundheit, Schüler, Schulkinder, Volksschulen, Aufklärung, Hygiene, Lehranstalten, Heilanstalten, Ansteckungsgefahr,
Seit etwas mehr als 10 Jahren besteht nunmehr in Deutschland die schulärztliche Einrichtung in größerem Umfang. Etwa 400 deutsche Städte haben sie eingeführt; auch die Landschulen genießen in einigen deutschen Staaten bereits der schulärztlichen Fürsorge. Es dürfte die Frage gerechtfertigt sein, ob der Kreis der schulärztlichen Aufgaben, wie er heute gezogen ist, als ein nach allen Seiten befriedigender und ausreichender angesehen werden kann und nicht eine Erweiterung sich aus den gewonnenen Erfahrungen heraus nötig macht. Eine jede Neueinrichtung schafft neue Gesichtspunkte und neue Forderungen.

Man macht vielfach der heute bestehenden Schularzteinrichtung den Vorwurf, dass sie dem ihr gesteckten Ziel, zu einer Gesundung der Schuljugend zu führen, nicht in vollem Umfange gerecht würde, dass sie im wesentlichen nur statistisches Material liefere. Ist dieser Vorwurf auch übertrieben, so entbehrt er doch nicht eines berechtigten Kernes. Vor allen Dingen ist der Schularzt heute nicht in der Lage, einen Druck auf die Angehörigen der Kinder nach der Richtung ausüben zu können, dass sie den von dem Schularzt gegebenen Anregungen, Krankheiten der Kinder beseitigen zu lassen, auch nachkommen. Die Folge davon ist, dass der Schularzt bei seinen Besuchen häufig immer wieder dieselben körperlichen Mängel und Gebrechen konstatiert, ohne eine wirksame Abhilfe schaffen zu können. Wenn auch der Wunsch, dass der Schularzt selbst die Behandlung erkrankter Kinder übernehmen sollte, nicht durchführbar ist, so ist doch die Forderung berechtigt, dass die Schularzteinrichtung mehr nach der therapeutischen Seite hin einen Ausbau erfährt. Mit der Schularzteinrichtung muss die Möglichkeit einer kostenlosen oder doch wesentlich erleichterten Behandlung kranker Kinder verbunden werden. Für große Städte hat die Erfüllung dieser Forderung keinerlei Schwierigkeiten, da hier durch Polikliniken und durch die Tätigkeit der Armen- und Wohltätigkeitsvereine genügend Vorsorge getroffen ist. In kleineren Städten und auch auf dem Lande liegen die Verhältnisse schwieriger. Hier wäre es möglich, eine kostenlose Behandlung vieler Schulkinder zu erreichen, wenn die Ortskrankenkassen eine Familienversicherung in größerem Umfange einführen wollten. Für gewisse Leiden der Schulkinder dürfte auch eine Teilnahme der Landesversicherungsanstalten an der Behandlung anzustreben sein. Die meisten Schulkinder der Volksschulen ergreifen nach dem Verlassen der Schulen einen versicherungspflichtigen Beruf. Manche während der Schulzeit erworbene Leiden führen zu frühzeitiger Invalidität. Dieser Ausgang könnte durch zu rechter Zeit einsetzende Behandlung oft vermieden werden.

Sehr wichtig erscheint auch die allgemeine Aufklärung der Bevölkerung, einerseits über die Zwecke und Aufgaben der Schularzteinrichtung, anderseits über allgemeine gesundheitliche Fragen. Diese Aufklärung geschieht zweckmäßig durch allgemein verständliche Vorträge der Schulärzte an sogenannten Elternabenden, wie sie in einzelnen deutschen Städten und auch im Herzogtum Sachsen-Meiningen bereits eingeführt sind.

Mit der Schularzteinrichtung haben auch alle jene Bestrebungen eine Förderung zu erfahren, die die Beseitigung chronischer krankhafter Störungen der Schulkinder in Heilstätten zum Ziele haben. In erster Linie ist hier die Tuberkulose der schulpflichtigen Jugend ins Auge zu fassen. Kinder mit offener Tuberkulose sind nicht allein vom Schulunterricht zu entfernen, solange die Ansteckungsgefahr besteht; es ist auch für deren Unterbringung und geeignete Behandlung in Heilanstalten Sorge zu tragen. Dies ist bisher in Deutschland in nicht genügendem Umfange geschehen. Wenn auch nach allen bisher vorliegenden einwandfreien Feststellungen die offene Tuberkulose der Schulkinder sehr selten ist, so vermag doch ein derartiges Kind viele seiner Mitschüler zu infizieren, weil die Ansteckungsgefahr eine wochen- und monatelange für die Mitschüler sein kann.

Zugleich mit der Errichtung von Heilstätten für tuberkulöse Kinder ist die Anlage von Anstalten in Solbädern, an der Meeresküste, im Wald und Gebirge, die Errichtung von Waldschulen u. dergl. zu fördern, durch welche die Widerstandsfähigkeit des kindlichen, zur Tuberkulose disponierenden Organismus gesteigert werden kann.

Auch der Lehrertuberkulose, wie sonstigen infektiösen Erkrankungen des Lehrers und seiner Familie ist eine größere Beachtung zu schenken und die Forderung berechtigt, auch die Lehrer der schulärztlichen Kontrolle zu unterstellen.

In einzelnen deutschen Städten schenkt man jetzt einer vielfach in den Schulen vorkommenden Störung Beachtung, nämlich der Skoliose (Verbiegung der Wirbelsäule) und der Disposition zu dieser Erkrankung. Die Verbreitung dieser Abnormität unter der Schuljugend ist eine sehr große und ihr Einfluss für das spätere Leben und für die spätere Erwerbsfähigkeit ein sehr bedeutungsvoller. Kinder mit ausgebildeter Skoliose oder mit der Disposition zu einer solchen, in orthopädische Heilanstalten zu schicken, die von Ärzten geleitet werden, ist für die Gesamtheit der Volksschüler ganz unmöglich. Wohl aber ist die Einrichtung von orthopädischen Turnstunden, im Rahmen der Schule und von speziell ausgebildeten Lehrern und Lehrerinnen geleitet, sehr wohl und mit relativ geringen Kosten durchführbar. Die Aufsicht über derartige orthopädische Turnstunden hat der Schularzt zu übernehmen. Die allerdings bisher nicht großen Erfahrungen über den Nutzen dieser orthopädischen Turnstunden lauten außerordentlich günstig.

Eine besondere Besprechung und Beurteilung verdient die Frage der Einführung von Schulärzten und der Grenzen ihrer Tätigkeit an den höheren Lehranstalten. Bisher gibt es in Deutschland nur an wenigen höheren Schulen Schulärzte, während im Ausland, z. B. in Ungarn, vorzugsweise an diesen Schulen Schulärzte seit Jahren angestellt sind. Nicht zu bezweifeln ist, dass auch unter den Schülern der höheren Lehranstalten sich vielfach krankhafte Störungen finden, deren Aufdeckung und Beseitigung durch den Schularzt erreicht wird. Besonders finden sich bei den Schülern der höheren Lehranstalten drei Gruppen von Störungen vor. Diese sind: Kurzsichtigkeit, Störungen auf dem Gebiete des Nervensystems, Zirkulationsstörungen, insbesondere auf dem Gebiete der Herzaktion. Von den letzteren soll hier abgesehen werden, weil ihre Ursachen meist in Momenten begründet sind, die außerhalb der Schule liegen und mit dem Pubertätsalter, übertriebenem Sport, frühzeitigen sexuellen Erregungen u. dgl. zusammenhängen. Die Kurzsichtigkeit aber und die Störungen auf geistigem und nervösem Gebiete hängen zum größten Teile mit der Schularbeit und den Überanstrengungen, die der Schulbesuch mit sich bringt, zusammen. Eine Überbürdung der Schüler der höheren Lehranstalten besteht unleugbar. Wenn die Zahl der Pflicht- und fakultativen Unterrichtsstunden an den Gymnasien durchschnittlich 37—38 und auf den Oberrealschulen bis zu 43 in der Woche erreicht, wenn nach den einwandfreien Feststellungen von Pädagogen und Ärzten die häusliche Arbeitszeit pro Tag in höheren Klassen 2—4 Stunden daneben beträgt, so braucht man eigentlich einen Beweis für das Bestehen einer Überbürdung nicht erst zu führen. Die Zahl der Schüler mit hochgradiger Kurzsichtigkeit beträgt in den höheren Schulen, in Sekunda und Prima, vielfach 60—80 % die Zahl der Nervösen, an Blutarmut, Kopfschmerzen, Schwindel u. dgl. leidenden Schüler ist nach den Feststellungen mancher Nervenärzte in einzelnen Schulen kaum geringer. Will man mit der schulärztlichen Tätigkeit gegen die Überbürdung etwas ausrichten, so muss die Forderung erhoben werden, dass die Schulärzte einen Einfluss auf die Unterrichtshygiene gewinnen und dass den Lehren der Schulgesundheitspflege ein Einfluss auf die Gestaltung des Unterrichtsplans eingeräumt wird. Auch bei Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Lehrplans, aber bei Änderung des gegenwärtigen Lehrmodus würde man schon manches Nützliche erreichen können. Insbesondere ist die Abschaffung des Nachmittagsunterrichts an den höheren Schulen anzustreben. Diese Abschaffung des Nachmittagsunterrichts würde sich dadurch erreichen lassen, dass man sogenannte Kurzstunden einführt, d. h. Lektionen von 40—45 Minuten Dauer. Man hat mit diesen Kurzstunden mehrfache Versuche bereits angestellt. Auch in Sachsen-Meiningen sind seit Ostern 1907 derartige Kurzstunden von 40 Minuten Dauer eingeführt worden, so dass es möglich geworden ist, in der Zeit von 5 Zeitstunden 6 Unterrichtsstunden von 7—12 oder von 8—1 Uhr unterzubringen. Der Nachmittagsunterricht fällt dann fort. Der Bericht des Direktors des Hildburghäuser Gymnasiums über die Zweckmäßigkeit dieser Kurzstunden lautet außerordentlich zufriedenstellend.

Auch die Abschaffung des Abiturientenexamens ist auf die Liste der schulärztlichen Forderungen zu setzen. Der aus Pädagogen, Ärzten und Verwaltungsbeamten zusammengesetzte Kongress des Deutschen Vereins für Schulgesundheitspflege in Karlsruhe im Jahre 1907 hat nahezu einstimmig erklärt, dass die Abschaffung des Abiturientenexamens zu fordern wäre, weil es in pädagogischer Hinsicht überflüssig, in hygienischer Beziehung schädlich für die Schuljugend sei. Welch erheblichen Einfluss das Abiturientenexamen für das spätere Leben besitzt, geht schon daraus hervor, dass die meisten Menschen noch im hohen Alter von den Angstträumen einer Wiederholung des Abiturientenexamens gequält werden. Keine Prüfung, die der Arzt, der Jurist, der Philologe abzulegen hat, greift so tief in das seelische und körperliche Befinden des Menschen ein, wie das Abiturientenexamen mit seinem vielen Gedächtniskram, von dem ein großer Teil nur für einen Tag berechnet ist. Interessant ist das Ergebnis von Wägungen, die ich bei den Abiturienten 4—5 Wochen vor und unmittelbar nach dem Examen angestellt habe. Ausnahmslos nehmen die jungen Leute erheblich an Gewicht ab. Der Gewichtsverlust beträgt durchschnittlich im Verlauf von etwa 4 Wochen 3—4 Pfund.

In den Kreis der schulärztlichen Tätigkeit an höheren Schulen gehört auch der Unterricht in den Grundlehren der Gesundheitslehre ah die Schüler der oberen Klassen und eine Aufklärung über die Tätigkeit der Geschlechtsorgane, sowie über die Verbreitung und die Gefahren der Geschlechtskrankheiten an die Abiturienten. Dass ein Unterricht in Hygiene den Schülern der oberen Klassen durch die Schulärzte erteilt werden soll, ist eine alte Forderung der Ärztetage und wird wohl heute
als erwünscht von allen Seiten bezeichnet werden. Ein gesundheitsgemäßes Leben der Bevölkerung, ein Verständnis für die Wichtigkeit gesundheitlicher Anlagen auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens kann nur dann erreicht werden, wenn die Jugend bereits Verständnis für die Bedeutung der Hygiene gewinnt. Wir glaubten mit den Erfahrungen, die wir in Meiningen mit den hygienischen Unterweisungen an die Unterprimaner seit einigen Jahren gemacht haben, gute Erfolge erzielt zu haben.

Eine sexuelle Aufklärung der Schuljugend während der Schulzeit und im Rahmen der Schule verwerfe ich durchaus. Auch die Vermischung der sexuellen Aufklärung mit dem biologischen Unterricht ist als unzweckmäßig zu bezeichnen. Nach dieser Richtung darf verwiesen werden auf das, was die aus Naturforschern, Pädagogen und Ärzten bestehende, von der Deutschen Naturforscherversammlung gewählte Kommission zur Einführung des biologischen Unterrichts an den höheren Schulen gesagt hat:

"Die Aufnahme der sexuellen Aufklärung in den Unterricht, z. B. der biologischen Wissenschaften, ist höchst bedenklich. Der Sexualtrieb wird hauptsächlich durch das Vorstellungsleben bedingt; es würde die Gefahr bestehen, dass bisher ganz unbefangene Schüler durch die wohlgemeinten Aufklärungen früher zu sexuellen Vorstellungen kommen, als es ihrer natürlichen Anlage nach der Fall wäre, wodurch unberechenbarer Schaden gestiftet werden kann."

Für sehr wünschenswert und für nützlich halte ich aber eine sexuelle Aufklärung, namentlich hinsichtlich der Gefahren der Geschlechtskrankheiten, für die die Schule verlassenden jungen Leute. Der ziffernmäßige Nachweis, dass mit einer derartigen Belehrung ein greifbarer Nutzen erzielt wird, ist allerdings kaum zu führen. Aber wenn man nach der gespannten Aufmerksamkeit und dem tiefen Ernst, mit welchem die jungen Leute den Ausführungen des Schularztes folgen, schließen darf, so wird man die Überzeugung gewinnen, dass der Eindruck ein nachhaltiger und nicht schnell verfliegender ist.

Ebenso wie den Abiturienten der höheren Lehranstalten wäre auch den Volksschülern und den Volksschülerinnen beim Verlassen der Fortbildungsschule durch den Arzt eine sexuelle Aufklärung mit auf den Lebensweg zu geben. Gerade für die jungen Mädchen, die dem Elternhaus und der Schule entwachsen vielfach ohne jede Aufsicht selbständig ins Leben hinaustreten, um als Fabrikarbeiterin, in Geschäften, im Dienst usw. sich eine Stellung und Unterhalt zu verschaffen, ist eine Kenntnis der Gefahren, die ihnen auf sexuellem Gebiete drohen, von größter Wichtigkeit.*)

*) Vergl. die Schrift des Verfassers: Schularzttätigkeit und Schulgesundheitspflege. Verlag von Teubner 1908.

Eine ärztliche Konsultation (1760) von L. Boilly (c. 1830)

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144 Der Zahnarzt. Von David Teniers

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140 Der Dorfzahnbrecher. Von Adriaen van Ostade

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004 Unterricht im Singen, Lesen und Rechnen in einer Stadtschule mit einer Züchtigungsszene

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005 Herrscherin Rute. Das Standessymbol des LehrersJPG

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Wiederanfang der Schule

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