Von der Nachtigall und der Blindschleiche

Ein anscheinend deutsches Märchen von der Nachtigall
und der Blindschleiche.
                    Von Reinhold Köhler.

In Firmenichs „Germaniens Völkerstimmen“, I. 283, steht ein Märchen „De nachtigall und de blinnerslange" (Blindschleiche) in der Mundart von Warendorf im preußischen Regierungsbezirk Münster. Dieses Märchen hat — ohne Quellenangabe — H. F. W. Raabe in sein „Allgemeines plattdeutsches Volksbuch“, Wismar und Ludwigslust 1854, S. 234, aufgenommen, aber in Mecklenburg-Schwerinsche Mundart übersetzt und „Die Nachtigall un die Hartworm over Blindschlang“ betitelt. F. H. von der Hagen hat in seiner Besprechung von Firmenichs Werk in seiner „Germania", VIII. 218, die „Warendorfer Märe“ als „sonderbar“ hervorgehoben und ihren Inhalt mitgeteilt, und K. Schiller, „Zum Tier- und Kräuterbuche des Mecklenburgischen Volkes“. 1. Heft, Schwerin 1861. S. 2. hat mit Verweisung auf von der Hagen und Raabe des Märchens gedacht. Von der Hagen und Schiller haben das Märchen jedenfalls für ein deutsches gehalten, und wohl die meisten Leser der genannten Bücher werden dies auch getan haben. Das Märchen ist aber gar kein deutsches, sondern ein französisches. Es findet sich nämlich in der ersten Ausgabe der „Kinder- und Haus–Märchen“ der Brüder Grimm, Berlin 1812, S. 20 f., als Nr. 6 ein Märchen „Von der Nachtigall und der Blindsehleiche“, welches nach der Anmerkung dazu aus dem Französischen übersetzt ist. Das Märchen bei Firmenich aber ist nichts anderes als eine fast durchaus wörtliche Übertragung der Grimm’schen Übersetzung in die Warendorfer Mundart.


Da die erste Ausgabe der Grimm’schen Märchen sehr selten ist, und auch die Memoires de l'Académie celtique, aus denen das Märchen übersetzt ist, wenigstens deutschen Lesern nicht leicht zugänglich sein werden, wird es gerechtfertigt erscheinen, wenn ich Übersetzung und Original hier mitteile.

Die Grimm'sche Übersetzung lautet:

          Von der Nachtigall und der Blindschleiche.

Es waren einmal eine Nachtigall und eine Blindschleiche, die hatten jede nur ein Aug' und lebten zusammen in einem Haus lange Zeit in Frieden und Einigkeit. Eines Tags aber wurde die Nachtigall auf eine Hochzeit gebeten, da sprach sie zur Blindschleiche: „ich bin da auf eine Hochzeit gebeten und möchte nicht gern so mit einem AugeWaltaxi hingehen, sei doch so gut und leih mir deins dazu, ich bring dir’s Morgen wieder." Und die Blindschleiche tat es aus Gefälligkeit.


Aber den anderen Tag, wie die Nachtigall nach Haus gekommen war, gefiel es ihr so wohl, dass sie zwei Augen im Kopf trug und zu beiden Seiten sehen konnte, dass sie der armen Blindschleiche ihr geliehenes Auge nicht wiedergeben wollte. Da schwur die Blindschleiche, sie wollte sich an ihr, an ihren Kindern und Kindeskindern rächen. „Geh nur, sagte die Nachtigall, und such einmal:
          ich bau mein Nest auf jene Linden,
          so hoch, so hoch, so hoch, so hoch,
          da magst dus nimmer wiederfinden!"

Seit der Zeit haben alle Nachtigallen zwei Augen und alle Blindschleichen keine Augen. Aber wo die Nachtigall hinkommt, da wohnt unten auch im Busch eine Blindschleiche, und sie trachtet immer hinaufzukriechen, Löcher in die Eier ihrer Feindin zu bohren oder sie auszusaufen.