Wozu brauchen wir Gummi und Kautschuk?

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1929
Autor: Dr. Ulrich Voss, Erscheinungsjahr: 1929

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Gummi, Kautschuk, Gummierzeugnisse, Reifen, Bälle, Schläuche, Naturstoffe,
Fast täglich haben wir mit Gummierzeugnissen, als da sind Kinderbälle, Autoreifen, Hardgummigebisse, zu tun, sie lassen uns leichtbeschwingt schreiten oder fahren, und doch wissen verhältnismäßig wenige Menschen Genaueres über die Herstellung und die unglaubliche Vielseitigkeit ihrer Verwendung.

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Ein ganz eigenartiges Erzeugnis ist der Kautschuk, ein Sonderling in der Gesellschaft der irdischen Dinge. Die sind fast alle fest, halbfest, flüssig oder luftförmig, aber einen Stoff, der sich auf das Zwanzigfache ausdehnen lässt und dann wieder zusammenspringt, den gibt‘s nur einmal. Und dieser neckische Geselle kommt weit her als Rohkautschuk. Früher lernte man in der Schule, er stamme aus Südamerika, wo er in sumpfigen Moskitogegenden geräuchert würde, und auch aus Afrika. Heute stimmt das alles nicht mehr, wie so vieles, was wir früher gelernt haben. Er kommt nämlich nur noch selten in großen Parablöcken in den Handel, die wie ein Mastodonschinken aussehen und auch so riechen, kaum noch in Kongowürfeln und wie die tausend verschiedenen Formen und Arten alle hießen. Diese Wildkautschuksorten spielen kaum noch eine Rolle gegenüber den Plantagencrepes und -sheets aus Indien und den Malaystates. Mehr als 700 Millionen Kilogramm werden von dem Rohgummi jährlich verarbeitet, davon der Löwenanteil in den Vereinigten Staaten Nordamerikas. Dort haben sie die Gelegenheit des Krieges benutzt, um ihre Gummiindustrie auf eine vorher kaum geahnte Höhe zu bringen. Bis zu 250.000 Autoreifen können sie in ihren riesigen Fabriken täglich herstellen.

Infolge des Zusammenbruchs des russischen und des chinesischen Absatzgebiets, die beide zurzeit nicht aufnahmefähig sind, hatte die deutsche Gummifabrikation schwer zu kämpfen, um sich einigermaßen am Leben zu erhalten gegen auswärtige Preisunterbietungen, Kampfzölle und in fremden Ländern neu entstandene Fabriken, die das, was die deutschen Werke früher an Waren ins Ausland lieferten, jetzt selbst unter Zollschutz billiger herstellen.

Woraus und wie macht man nun eigentlich diese Gummiwaren? Wie eine Maschine aus Eisen geschaffen wird, weiß man einigermaßen, wie von Baumwollpflanzen erst die Rohbaumwolle gepflückt, dann versponnen und wie dann Stoffe gewebt werden, kennt man, aber Kautschuk, Gummi? Der Heveabaum, Hevea brasiliensis, ist der Baum, der die Hauptmenge an Kautschukmilchsaft liefert. Die Rinde wird grätenförmig eingekerbt, dann wird ein Topf an das unterste Schnittende gehängt, in dem der Baumsaft sich sammelt. Er wird gereinigt, verdickt durch Zusatz verschiedenartiger Soßen, auf Walzen getrocknet und zu blattartigen Sheets, die oft auch noch geräuchert werden, oder zu knorpeligen Crepes, in langen Fellen verarbeitet. Nun wird er in Kisten verpackt und kann seine Reise in die weite Welt antreten. Wird er aus den Kisten in Hannover oder sonst wo ausgeladen, so kommt er wieder in die Quetschwalzen, die ihn mit Wasser reinigen und ihn mit allen möglichen andern guten Dingen mischen, von deren Existenz er bisher keine Ahnung hatte. So macht er die Bekanntschaft mit Zinkweiß oder Kreide mit Schwerspat, Ruß, Kaolin und verschiedenen Farben, mit Ölen, zuletzt aber mit Schwefel, der ihm später in der Wärme seine Widerstandskraft, seine Schwungkraft und Härte verleiht. Je nachdem man nun mehr oder weniger Schwefel nimmt, wird die Ware härter, bis zum harten Gummikamm oder Telefongriff, oder weich, dehnbar und elastisch, wie beim Couponring oder Gasschlauch. Kurz, man kann alle Härtegrade und alle Dehnbarkeiten, alle Festigkeiten herstellen. Dabei wird der Kautschukgegenstand widerstandsfähig gegen die Einflüsse der Atmosphäre, und selbst gegen Säuren und lösende Öle hält er sich lange.

Ist die Mischung genügend durchgearbeitet, wozu große Kräfte, bis zu hundert Pferdekräften je Walze, gehören, so wird sie auf großen Drei- oder Vierwalzenkalandern zu Platten ausgezogen, deren Stärke auf Zehntelmillimeter genau festgelegt wird. Oder die Mischung wird in Spritzmaschinen zu Schnüren oder Schläuchen gezogen oder auch in Benzol oder andern Lösungsmitteln aufgequellt, um so verarbeitet zu werden. Durch weiteres Formen und Stanzen wird nun der Kautschukmischung oft in Verbindung mit Baumwollstoffen oder Eisenkernen eine Form gegeben, die dem Endzweck entspricht. Dann erst beginnt die eigentliche Vulkanisation, die dem Gummifabrikat die wertvollen Eigenschaften verleiht, durch die es uns unentbehrlich geworden ist. Meist in einer Eisenform, bei etwa 140 Grad Celsius, wird die chemische Verbindung des Kautschuks mit dem Schwefel herbeigeführt. Außerdem gibt es noch andere Fabrikationsarten, bei denen die Einwirkung des Schwefels auf kaltem Wege vor sich geht.



Der Heveabaum ist aber nicht der einzige Gummilieferant; es gibt noch viele andere Baum- und Straucharten, ja sogar Lianen, aus denen man heute noch in den verschiedensten Tropengegenden der Erde guten Kautschuk gewinnt, aber ihre Bedeutung ist gegenüber dem Heveabaum stark zurückgegangen. Kautschuk wird jetzt auch künstlich in Deutschland nach dem Verfahren des berühmten Entdeckergenies Prof. Dr. Fritz Hofmann in den chemischen Werken der I. G. Farbenindustrie hergestellt. Schon im Weltkrieg hat ein freilich nicht ganz auf der Höhe aller Eigenschaften befindlicher künstlicher Bruder des Kautschuks, der Methylkautschuk, mit seinen immerhin sehr anerkennenswerten Leistungen das technische Durchhalten ermöglicht. Er stammte von demselben Erfinder und wurde in einem großen Fabrikbetrieb in Leverkusen gefertigt, der in seinen riesigen, offenen Hallenstockwerken fast an einen mittelalterlichen Dom erinnerte. Deutschland war ja abgeschnitten vom Rohgummi und musste zuletzt, während die deutsche Industrie im Frieden fast 1500 Tonnen monatlich verarbeitet hatte, mit sage und schreibe sieben Tonnen im Monat alle Erfordernisse des Heeres, der Marine, der Flugzeuge und Zeppeline, der Autobereifung und der Rüstungsfabriken beschaffen. Nur durch andauernde Neubearbeitung des alten, schon einmal verwendeten Gummis — man wird sich der Einziehung aller Fahrreifen erinnern — und durch den Hofmannschen Methylkautschuk war es möglich, die Berechnungen Englands zu durchkreuzen, das den Zusammenbruch der deutschen Widerstandskraft aus Rohgummimangel mehrfach vorausgesagt hatte.

Aber wozu braucht man so viel Kautschuk? Wie viele wagemutige Flieger haben ihr Leben lassen müssen, weil wir im Krieg, infolge der Blockade Englands, nicht genügend Rohkautschuk für Bereifung und Abfederung der Flugzeuge schaffen konnten. Trotz aller Bemühungen der Gummifabriken, die geradezu genial mit den Ersatzmischungen aus Altgummi arbeiteten, ließ sich der fehlende Naturkautschuk mit seiner hohen Elastizität nicht völlig ersetzen.

Aber als nach dem Krieg die ersten bunten Spielbälle wieder in den Schaufenstern erschienen, als dann auch die lustigen Gummipuppen auftauchten und die hundertfachen Gummiwaren, vom Gummiradelrutsch bis zur Motorspritze, zum Vieltonnerlastwagen und den vornehmen Automobilen, zog langsam wieder die Freude ins Land. Dazu kam dann das Heer der chirurgischen Gummiwaren, die Spritzbälle für Ohren und Nasen, die Wärmflaschen und Eisbeutel, die Katheter und Sonden aller Formen und aller Größen, die in der Hand des geschickten Arztes zu Wunderheilungen verhelfen. Hinzu trat die unendliche Menge der technischen Artikel. All die Klappen, Scheiben, Pfropfen, Formstücke, Membranen! Ringe zum Dichten der Wasserleitungen, Dampf- und Gasröhren, Riemen und Transportbänder, Heber und Schläuche für alle Flüssigkeiten, wie Bier, Wein oder gebrannte Wässerchen. Mit einem Mal war alles wieder da.

Aus Gummi werden ferner erzeugt die schönen Badeartikel, wie Schwämme, Hauben, Matten und Fußbodenbelag jeder Farbe. Gegen die Unbilden der Witterung sind Gummimäntel, Capes, Schuhe, Stiefel, Mützen nützlich. Für solche, die beim Wettsegeln sich auch ab und zu einmal ins Wasser begeben, werden Kostüme gefertigt, die fast den ganzen Kerl in eins bedecken. Absätze und Sohlen verleihen elastischen, jugendlichen Gang. Eine wahre Armee bilden die Weich- und Hartgummifabrikate für die Elektrizität, die Telegraphenkabelumhüllungen, Rundfunk-, Dynamo-, Akkumulatoren und Telefonteile, Kästen, Isolierungen, Dichtungen. Ja, schon beim Säugling fängt der Gummibedarf an, kann man doch beim Gummisauger am besten die wunderbar beruhigende, wohltuende Wirkung des Kautschuks feststellen. Auch in der Tiefe der Erde, den Bergwerken mit ihren Pressluft- und Berieselungsschläuchen, in der höchsten, für Menschen erreichbaren Höhe über der Erde, zu den Ballonhüllen des Zeppelins wird Gummi gebraucht; jedes Schiff führt, außer dem Gummifußbodenbelag der modernen Salondampfer, Kautschukfabrikate in hunderterlei Form und Art über den Ozean. So bildet der Kautschuk einen treuen Freund und Gehilfen der Menschheit, der uns in gesunden und kranken Zeiten ehrlich und vielseitig dient. In äußerst sorgfältiger Fabrikation erhält er in Deutschland Form und Kraft zu seinen Leistungen. Und weil die deutschen Werke hart gegen die ausländische Konkurrenz zu kämpfen haben, möchte ich als alter Gummimann mahnen: „Kaufen Sie deutsche Kautschukwaren, meine lieben Leser, sie sind ebenso gut, wenn nicht besser als die ausländischen!“

Der Liebesbaum. Mit freundlicher Genehmigung der Continental-Caoutchouc- und Gutta-Percha-Compagnie in Hannover aus dem „Echo Continental“.

Ein Sommertraum auf Gummikissen. Mit freundlicher Genehmigung der Continental-Caoutchouc-und Gutta-Percha-Compagnie in Hannover aus dem „Echo Continental“.

Der Liebesbaum. Mit freundlicher Genehmigung der Continental-Caoutchouc- und Gutta-Percha-Compagnie in Hannover aus dem Echo Continental.

Der Liebesbaum. Mit freundlicher Genehmigung der Continental-Caoutchouc- und Gutta-Percha-Compagnie in Hannover aus dem Echo Continental.

Ein Sommertraum auf Gummikissen. Mit freundlicher Genehmigung der Continental-Caoutchouc-und Gutta-Percha-Compagnie in Hannover aus dem Echo Continental

Ein Sommertraum auf Gummikissen. Mit freundlicher Genehmigung der Continental-Caoutchouc-und Gutta-Percha-Compagnie in Hannover aus dem Echo Continental