Wölfe in Russland

Die Zeit, in welcher „die Wölfe“ wenigstens im östlichen Deutschland noch unter Menschen und Tieren arge Verheerungen anrichteten, liegt keineswegs so weit zurück, als man wohl glaubt. Man braucht gar nicht bis in die Zeit zurückzugreifen, in der der Ritter Hake von Stülpe (in Willibald Alexis: Wehrwolf) die ängstlichen Prälaten der Mark durch nachgeahmtes Wolfsgeheul in die tödliche Angst versetzte, nein, auch in unserem Jahrhundert waren die schlimmen Gesellen nur zu häufig. Nach Brehm wurden z. B. in den Jahren 1816-1817 allein im Kösliner Regierungsbezirk 153 Stück Wölfe getötet. Während sie nun aber bei uns jetzt so ziemlich ausgerottet sind und nur noch in einzelnen Exemplaren von Russland, Österreich oder wohl auch Frankreich aus über die Grenze dringen, bilden sie in Russland immer noch eine der schlimmsten Landplagen. Nach einer kürzlich erschienenen Broschüre von W. W. Lasarewski wurden im Jahre 1873 in 45 Gouvernements des europäischen Russlands für 5.325.000. Rubel Großvieh und für 2.247.000 Rubel Kleinvieh von Wölfen zerrissen. Dazu kommen dann noch die baltischen Provinzen mit 88.180 Rubel und Polen mit 243.760 Rubel. Die zahl der den Wölfen zum Opfer fallenden Menschen schätzt der Verfasser auf 200 jährlich.

Am entsetzlichsten sind die tollen Wölfe. Ein von der Tollwut ergriffener Wolf kennt keinerlei Furcht. Kommt er in ein Dorf, so beißt er alles, was ihm in den Weg kommt, bis er unter den Keulen der herbeieilenden Bauern erliegt. Wer aber von ihm gebissen wurde, ist fast ausnahmslos verloren, denn bei dem Mangel an Ärzten ist ärztliche Hilfe fast immer erst nach vielen Stunden zu beschaffen, und das heißt in diesem Fall so viel wie gar nicht. In vielen deutschen Schullesebüchern kommt eine Geschichte vor, in der ein heldenmütiger Schmied sich für eine Anzahl Bauern opfert, indem er sich unbewehrt auf einen tollen Hund wirft, in erwürgt und dann ein Opfer seines Edelmutes wird. Nun, wer die russischen Blätter regelmäßig liest, dem begegnen alljährlich mehrere solcher Helden, die es noch dazu mit tollen Wölfen zu tun haben. Das Schlimmste ist, dass die Zahl dieser Bestien trotz aller Jagdgesellschaften und Strychninpillen im eigentlichen Russland keineswegs abnimmt, Ganz ausgerottet sind die bisher nur im Gouvernement Kalisch.