Wissen ist Macht - Macht ist Wissen

Vortrag gehalten zum Stiftungsfest des Dresdener Arbeiterbildungs-Vereins am 5. Februar 1872, und zum Stiftungsfest des Leipziger Arbeiterbildungs-Vereins am 24. Februar 1872
Autor: Liebknecht, Wilhelm (1826-1900) Lehrer, Publizist, Redakteur, Politiker, einer der Gründerväter der SPD, Erscheinungsjahr: 1873

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Wissen, Macht, Lesen, Schreiben, Bildung, Bücher, Bildungszweck, Sozialdemokratie, Klassenmonopol, Aberglauben, Herrschaft, Macht, Machtmittel, Aufklärung, Erziehung, Kulturstaat, Sklaverei, Freiheit, Volk, Volksmassen, Wissende und Nichtwissende, Geschichtsschreiber, Gelehrte, Lehrer, Schüler, Schule, Krieg und Frieden, Krimkrieg, Blutvergießen, Klassen- und Interessengegensätze,
Inhaltsverzeichnis
  1. Erste Fortsetzung
Wie sich bei einem nicht auswendig gelernten Vortrag von selbst versteht, war die Leipziger Festrede nicht eine wörtliche Wiederholung der Dresdener. Es wurde Manches darin gesagt, was in Dresden nicht gesagt worden und umgekehrt. Eine von Liebknecht gewünscht Überarbeitung und Vervollständigung musste unterbleiben weil ihm die Erlaubnis; zu jeder für Veröffentlichung während seiner Haftdauer bestimmten publizistischen Arbeit, ja sogar zu Korrekturen, vom sächsischen Ministerium verweigert worden ist
                        Der Herausgeber.




Meine Damen und Herren!

Wissen ist Macht! Bildung macht frei! An dieses Wort, das vorhin im Prolog betont wurde, und das wir so häufig im Munde unserer Gegner hören, wird mein heutiger Vortrag sich anknüpfen. Ja, im Munde unserer Gegner, und gegen uns angewandt, zur Widerlegung des von uns, von der Sozialdemokratie verfochtenen Satzes, dass die Haupttätigkeit des Arbeiters sich auf die Umgestaltung der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu richten habe, und dass die ausschließliche Verfolgung von Bildungszwecken für den Arbeiter nichts sei als eine zeitraubende Spielerei, welche weder dem Einzelnen noch dem Ganzen zum Vorteil gereicht.

Knowledge is pover — Wissen ist Macht! Wohl ist das ein wahres Wort. Wissen ist Macht, Wissen gibt Macht, und weil es Macht gibt, haben die Wissenden und Mächtigen von jeher das Wissen als ihr Kasten-, ihr Standes-, ihr Klassenmonopol zu bewahren, und den Nichtwissenden, Ohnmächtigen — von jeher die Masse des Volks — vorzuenthalten gesucht. So ist es zu allen Zeiten gewesen, so ist es noch heute. Durchfliegen wir die Geschichte der Menschheit von den grauesten Zeiten des Altertums bis heran zur Gegenwart: überall das nämliche Schauspiel. Eine Kaste, ein Stand, eine Klasse hat das Wissen sich angeeignet und benutzt es als Machtmittel zur Unterdrückung und Ausbeutung der übrigen Kasten, Stände und Klassen. Die Priester Ägyptens und Indiens, worauf gründete sich ihre tausendjährige Herrschaft? Sie waren im Alleinbesitze des Wissens — der damals vorhandenen Kenntnisse von den Naturkräften, vom Lauf der Gestirne, vom Wesen des Menschen; und dies Wissen war ihnen der Zauberstab, das Zepter, vor welchem die staunenden, bewundernden Massen sich andächtig beugten; es war die Kette, mit der die Priester, unterstützt von der Kriegerkaste — denn Krieger und Priester sind stets brüderlich Hand in Hand gegangen bei Knechtung der Welt — den Staat und die Gesellschaft umschlangen, und sich dienstbar machten. Die Priester Griechenlands, Roms, des christlichen Mittelalters, der neuen und neuesten Zeit sehen wir von demselben Bestreben erfüllt: das Wissen als den Urquell der Macht und Herrschaft für sich zu behalten, und der Menge zu verschließen. Das Wissen ist für die Herrschenden, die Unwissenheit für die Beherrschten. In den Sklavenstaaten Nordamerikas bestand ein Gesetz, das Jedem, der einem Farbigen Lesen und Schreiben lehrte, den Tod androhte. Die Sklavenbesitzer wussten sehr genau, dass wenn die Sklaven sich ihrer Sklaverei bewusst, wenn ihnen die Augen geöffnet würden, es zu Ende sei mit der „ewigen" und „heiligen" Institution der Sklaverei. Bei uns in dem „gebildeten" Europa, überhaupt in den sogen. Kulturstaaten bestraft man allerdings die Verbreitung des Wissens unter das Volk nicht mit dem Tod, aber es wird nicht minder wirksam dafür gesorgt, dass das Wissen nicht unter das Volk dringt: Das Wissen ist unter dem Verschluss der Herrschenden, den Beherrschten unzugänglich, außer in der Zubereitung und Verfälschung, die den Herrschenden beliebt. Und wenn es einer beherrschten Klasse, wie der französischen Bourgeoisie im vorigen Jahrhundert einmal gelungen ist, sich Wissen und mit Hilfe des Wissens die politische Macht zu erringen, so hat sie regelmäßig ihre Macht nur gebraucht, um sich selbst in der Macht zu befestigen, um ihr materielles Interesse zu fördern, und die „unteren Klassen" in Unfreiheit und geistige Nacht zu stürzen. Ich übertreibe nicht, ich spreche nur eine unumstößliche, durch die Geschichte auf jeder Seite bestätigte Wahrheit aus, indem ich sage:

Es hat noch nie eine herrschende Kaste, einen herrschenden Stand, eine herrschende Klasse gegeben, die ihr Wissen und ihre Macht zur Aufklärung, Bildung, Erziehung der Beherrschten benützt und, nicht im Gegenteil, systematisch ihnen die echte Bildung, die Bildung, welche frei macht, abgeschnitten hätte.

Es liegt das im innersten Wesen der Herrschaft. Wer herrscht will sich stark und den Beherrschten schwach machen. Und wer allgemeine Bildung will, muss deshalb gegen jede Herrschaft ankämpfen.

Wir Deutschen pflegen uns nicht bloß das Volk der Denker zu nennen, sondern halten uns auch für das gebildetste Volk der Erde. Nun, in seinem unsterblichen Werk über die Zivilisation sagt Buckle von den Deutschen: „Es gibt keine Nation in Europa, bei der wir einen so großen Abstand (interval) zwischen den höchsten und den niedersten Geistern (minds) finden. Die Volksmassen sind abergläubischer, in Wirklichkeit unwissender und unfähiger, sich selber zu leiten (guide), als die Einwohner von Frankreich oder England. Die großen deutschen Schriftsteller sprechen nicht zu der Nation, sondern zu einander. Ihre Sprache ist den unteren Klassen vollkommen unverständlich." Kurz, Buckle meint, die Literatur sei in Deutschland ganz losgelöst von dem Volk; die Kluft zwischen Wissenden und Nichtwissenden nirgends so groß als in Deutschland. Im Gegensatz zu Deutschland rühmt der geniale englische Geschichtsschreiber von der amerikanischen Republik: „In keinem anderen Land gibt es so wenig Männer von großer Gelehrsamkeit und so wenig Männer von großer Unwissenheit."

Liebknecht, Wilhelm (1826-1900) Lehrer, Publizist, Redakteur, Politiker, einer der Gründerväter der SPD

Liebknecht, Wilhelm (1826-1900) Lehrer, Publizist, Redakteur, Politiker, einer der Gründerväter der SPD