Erste Fortsetzung

Ich will hier auf das Urteil Buckles nicht des Näheren eingehen. Leichtsinnig gefällt ist es nicht — das kann einem so gewissenhaften Forscher nicht zugetraut werden. Unzweifelhaft zählt Deutschland absolut und relativ weit mehr Menschen, die lesen und? schreiben können, als England und Frankreich, allein Lesen und Schreiben sind an sich nicht Bildung, es sind bloß Werkzeuge zur Erlangung von Bildung; und nach meinen persönlichen Beobachtungen stehe ich keinen Augenblick an zu sagen, dass, meiner Meinung nach, die Arbeiter Englands und Frankreichs in politischer und ökonomischer Bildung, das heißt in der Kenntnis von Staat und Gesellschaft, und in der Kenntnis ihrer Rechte und Pflichten in Staat und Gesellschaft, den deutschen Arbeitern durchschnittlich entschieden überlegen sind, obgleich von ihnen nur die Wenigsten, von den deutschen Arbeitern aber, fast Alle in der Schule lesen und schreiben gelernt haben. Das entwickeltere politische und ökonomische Leben ersetzt ihnen zum Teil, was in der Jugenderziehung versäumt worden ist; und das Leben ist die beste Schule, die durch keinen theoretischen Unterricht, und wäre er noch so vortrefflich, ersetzt werden kann.

Dass in Deutschland die geistige Kluft zwischen den höheren und niederen Volksklassen breiter ist als in England und Frankreich, scheint mir ebenfalls unbestreitbar, und dass die Sprache unserer sogenannten Nationalliteratur — von der durch ihre Unverständlichkeit berüchtigten Sprache unserer Gelehrten nicht zu reden — der Masse der Nation nicht verständlich ist, das wird ja ziemlich allgemein zugegeben. Indes mehr oder weniger gilt das Gleiche von sämtlichen Kulturvölkern. Ein Franzose hat von den Russen gesagt: „Grettez le Russe, et le Tartare apparait;" wenn man den Russen kratzt, kommt der Tartar zum Vorschein. Ähnlich kann man von unserer modernen Kultur sagen: wenn man die heutige Kultur kratzt, kommt die Barbarei zum Vorschein. Unsere Kultur — und die Kultur eines Volks repräsentiert die Summe der in ihm vorhandenen Bildung — ist bloß skindeep, hauttief; — eine dünne Kruste, glänzender Firnis außen und darunter Rohheit, Aberglaube, der Krieg Aller gegen Alle, ein Vernichtungskrieg, der Starke den Schwachen auffressend, zwar nicht buchstäblich, aber doch wirklich.


In den letzten Jahren ist dies recht deutlich zu Tage getreten. Sie erinnern sich jedenfalls der ersten internationalen Industrieausstellung, welche 1851 zu London stattfand. Den Stürmen der „tollen Jahre" 1848 und 1849 war Windstille gefolgt. Das Pariser Proletariat trauerte auf den Gräbern der Junihelden. Die Freiheitsträume des deutschen Volks waren eingesargt, die Freiheitskämpfer gestandrechtelt, im Gefängnis; oder Exil. Die Bourgeoisie, froh der Ruhe des Kirchhofs, hatte aus der politischen Verwesung wunderbare Kräfte gesogen und sich zu außerordentlicher Blüte entfaltet. „Beispiellose Prosperität" herrschte: und das Bürgertum aller Länder und Zonen wallfahrtete nach London in den Kristallpalast, den Tempel des neuen Gottes, der aus seinem unerschöpflichen Füllhorn Reichtum und Frieden ausschütten werde über das freudetrunkene Menschengeschlecht. Die „mordenden Schwerter" hatten sich in segenspendende Maschinen verwandelt. Die Ära der Kriege war auf immer geschlossen — bloß in der Rennbahn der Industrie und des materiellen Fortschritts würden die Völker, von edlem Wetteifer erfüllt, fortan ihre Kräfte noch messen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wissen ist Macht - Macht ist Wissen