Erstes Kapitel. Einführung in die Wirtschaftsgeographie Afrikas

Der Weltteil, mit dem sich das vorliegende Werk beschäftigt, ist von den großen Erdgebieten wirtschaftlich zuallerletzt in Angriff genommen worden. Diese Tatsache, die die Politik der europäischen Staaten während des letzten Menschenalters sehr entschieden beeinflusst hat, wird selbst in den mitten im praktischen Leben stehenden Kreisen unseres Volkes viel zu wenig gewürdigt, ja sie ist überhaupt nur einem sehr kleinen Teile der an Handel und Wandel Beteiligten hinreichend bekannt. Bei der hohen Bedeutung, die sie für das Verständnis des wirtschaftlichen Entwicklungsganges sowohl der jüngsten Vergangenheit als auch der unmittelbar vor uns liegenden Zukunft besitzt, kann eine Wirtschaftsgeographie Afrikas ihrer Berücksichtigung keinesfalls entraten. Indem wir die in ihr begründeten Zustände bis in ihre innersten Ursachen hinein verfolgen und ihr allmähliches Werden besser als sonst verstehen lernen, schärft sich unser Blick auch für das, was infolge des ungeheuren Weltgeschehens der letzten Zeit an neuer nutzbringender Arbeit der gewerbetätigen Völker, in erster Linie des unseren, harrt. Das klar zu erkennen, ist aber eine der wichtigsten Bedingungen des Erfolges, der dem Kaufmann wie dem Handwerker, dem Großgewerbe so gut wie seinen Vermittlern gegenüber dem Auslande, ja der selbst dem heimischen Landwirt aus der engeren Verbindung mit außereuropäischen Ländern erwächst.

Bei sorgfältiger Überlegung müsste eigentlich jedem im Handelsverkehr Stehenden ohne weiteres einleuchten dass ein Gebiet von der dreifachen Größe Europas erst nach mehreren Menschenaltern die Höhe seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erreichen kann. Dann wird ihm auch klar werden, dass das bis heute Geschaffene nur einen allerersten Anfang bildet, wenn wir es mit dem vergleichen, was den Kulturvölkern in diesem ungeheuren Ländergebiet noch zu tun bleibt. Er wird sich dann auch ohne Schwierigkeit über die Gründe Rechenschaft ablegen können, auf denen die Rückständigkeit des bisher Geschaffenen beruht. Land er wird endlich einsehen, dass es ganz verkehrt wäre, diese in einer Minderwertigkeit des riesigen Weltteils zu suchen, wie das bedauerlicherweise immer wieder in Europa selbst von solchen Leuten geschieht, denen man einiges Urteil in wirtschaftlichen Dingen zutrauen sollte. Wie kann man aber schließlich von einem ganzen Kontinent einen Einfluss auf den Weltmarkt verlangen, der zum weitaus größten Teile selbst in den großen Zügen seiner Natur erst seit weniger als einem halben Jahrhundert der Kulturwelt bekannt geworden ist und in dessen wertvolleren Landschaften auch die ersten Versuche einer planmäßigen Gütererzeugung und eines nach einheitlichen Grundsätzen geleiteten Handels in den seltensten Fällen älter sind als drei Jahrzehnte? Es ist doch geradezu ein Unsinn, die Bedeutung eines seit so kurzer Zeit erschlossenen Teiles der Erde an dem Grade zu messen, in dem jahrhundertelang im Welthandel stehende Gebiete wie etwa Südasien oder Nordafrika sich eine Stellung im Verkehrsleben der Menschheit erworben haben.


Dabei sind es sehr schwerwiegende Gründe, die uns das Interesse für den großen Weltteil geradezu aufzwingen. Obwohl Afrika erst mit einem sehr kleinen Prozentsatz am Güterumsatz der Erde beteiligt ist, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass ungefähr die anderthalbfache Fläche Europas oder weit mehr Land als etwa in ganz Südamerika aus in jeder Hinsicht nutzbarem Boden besteht. Da das ganz wertlose Land höchstens ein Fünftel des Ganzen einnimmt, darf man in der Tat hohe Leistungen von einem so gewaltigen Wirtschaftsgebiet erwarten, die vielleicht schon in einer absehbaren Zukunft sich zu verwirklichen beginnen. Und das um so eher, als ja das fruchtbare Land viel reicher an dem zur Entwicklung unumgänglich nötigen Kapital, an Menschenkräften, ist als das zwar üppige, aber ganz schwach bevölkerte Innere von Südamerika.

Neben dem eben Erwähnten lenkt noch etwas anderes die Augen der europäischen Geschäftswelt auf diesen Weltteil. Fünf Sechstel des riesigen, Europa an Fläche dreimal übertreffenden Kontinents befanden sich in dem Augenblick, in dem der Weltkrieg ausbrach, im Besitz europäischer Nationen. Diese haben demnach in der Hand, die künftige Gütererzeugung und bis zu einem gewissen Grade auch die Einfuhr nach ihrem Bedarf und nach ihren besonderen Wünschen zu regeln, was ihnen anderwärts, wie z. B. in Ostasien und selbst in Kolonialländern mit selbständiger höherer Kultur wie etwa in Indien bei weitem nicht in gleichem oder auch nur ähnlichem Grade möglich ist. Nun ist aber der Bedarf der Industriestaaten an Rohstoffen gerade während des letzten Menschenalters so sehr gestiegen, dass das allein Grund genug für die Wichtigkeit ist, die man neuerdings den jugendlichen Produktionsländern beizumessen beginnt.

Schließlich hat auch die Wissenschaft ein ganz besonderes Interesse an dem Erwachen Afrikas. Das Land dort ist, in europäischem Sinne gesprochen, ein ganz jugendliches Wirtschaftsgebiet. Die tausenderlei Einflüsse menschlichen Ursprungs, die bei uns das Bild des Wirtschaftslebens so mannigfaltig gestalten und seine Grundlinien vielfach unübersichtlich machen und die in ihren Folgen klarzulegen eine der Hauptaufgaben der Nationalökonomie ist, sind drüben erst in ihren Anfängen vorhanden. Noch treten sie völlig zurück hinter die natürlichen, im Aufbau, Klima und anderen Seiten der Erscheinungswelt ruhenden Ursachen der wirtschaftlichen Bewegungen. Daher bietet gerade dieser Weltteil der Wirtschaftsgeographie die verschiedenartigste Gelegenheit, eben diese in der Natur gegebenen Gründe bestimmter Zustände und Erscheinungen im Handels- und Verkehrsleben zu studieren. Allerdings sind sie auch bei uns vorhanden und wirksam, aber hier, in einem Gebiet alter Kultur, werden sie durch jene anderen eben erwähnten Einflüsse überwogen und verdunkelt. Kurz, nach allen Seiten wird unsere Aufmerksamkeit durch diesen Weltteil gefesselt und in wirtschaftlicher Beziehung steht er einzig unter den großen Festländern der Erde da. Denn in Nordamerika, in Asien und schließlich selbst in Australien haben eingewanderte oder einheimische Kulturen ersten Ranges längst jenes ursprüngliche Bild verwischt, in Südamerika aber fehlt es, wie bereits angedeutet, gerade in den reichsten Gebieten so sehr an Menschen, dass in diesen von einem wirtschaftlichen Leben in höherem Sinne noch nicht die Rede sein kann. Dagegen zeigt die Halbkultur vieler afrikanischer Völker ein solches doch schon in beachtenswertem Maße, lässt aber überall noch jene starke Abhängigkeit von der Natur erkennen.

Nun drängt sich gerade bei einem Blick auf die Entwicklung des afrikanischen Handels eine Frage auf, deren Beantwortung im Eingang dieses Buches sich nicht wohl umgehen lässt. Wer die Bedeutung beachtet, die ganz Europa seit dem Beginn des laufenden Jahrhunderts der Besitzverteilung afrikanischen Bodens beimisst, der wird unwillkürlich veranlasst zu prüfen, warum denn dieser angeblich so wichtige Weltteil bis jetzt mit verhältnismäßig so geringen Werten an den im Welthandel bewegten Summen beteiligt ist. Denn noch 1911, in dem durch den großen englischen Zensus für Afrika recht wichtigen Jahre, sehen wir ihn an der Einfuhr aller Länder der Erde mit nur 3,3, an den Ausfuhr mit nur 3,6 vom Hundert teilnehmen, obschon er von der bewohnten Fläche der Erde weit mehr als 20 vom Hundert einnimmt. Zum Verständnis dieses scheinbaren Widerspruchs müssen wir uns noch näher mit der geschichtlichen, wenngleich in der Natur des Landes begründeten Entwicklung des afrikanischen Handels vertraut machen.

Die Gegenstände, die das eigentliche, d. h. das jenseits der großen Wüste gelegene Afrika zur Ausfuhr brachte, beschränkten sich vor noch gar nicht langer Zeit auf wenige kostbare Luxusartikel. Wer die Ausfuhrlisten der paar bedeutenderen Handelsplätze an den Küsten des tropischen Afrika aus einer kaum ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Zeit durchsieht, findet in ihnen mit beachtenswerten Summen eigentlich nur das Elfenbein und an einzelnen Stellen auch noch Straußenfedern verzeichnet. Selbst in einem so sehr von europäischer Kultur beeinflussten Gebiet wie dem außertropischen Südafrika machte der Wert des ausgeführten Elfenbeins noch im Jahre 1872 volle 11 Hundertteile von demjenigen der daselbst verfrachteten Wolle aus, des Haupterzeugnisses der Landwirtschaft jener Länder. Die damals noch vorwiegend von wilden Vögeln stammenden Straußenfedern erreichten in der Ausfuhrliste sogar 50 Hundertteile des Wertes der Schafwolle.

Die Ursache dieser scheinbaren Unproduktivität des inneren Afrika ist nun ganz vorwiegend in den unglaublichen Schwierigkeiten zu suchen, mit denen der Transport aus dem Innern nach der Küste zu kämpfen hatte. Bedenkt man, dass selbst der außertropische Süden trotz der immerhin großen Vollkommenheit seiner Ochsenwagen mit sehr hohen Frachtsätzen, mit sehr viel höheren aber die afrikanischen Tropen mit ihren Trägerkarawanen zu rechnen hatten, so begreift man auch, dass beinahe das ganze Innere für die Ausfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse vor der Erbauung von Eisenbahnen überhaupt nicht in Frage kommen konnte. Ein Beispiel möge das zeigen.

In Deutsch-Südwestafrika betrug zur billigsten Zeit der Frachtsatz zwischen Windhuk und der Küste 11 M. im Selbstkosten- und 14 M. in dem von den Frachtunternehmern geforderten Preis für den (englischen) Zentner. Die für Schafzucht geeigneten Gebiete liegen nun aber so weit von Windhuk entfernt, dass man damals etwa 20 M. auf die Transportkosten für 50 kg rechnen musste. Nun wird jeder Kenner des Wollhandels bestätigen, dass bei einem Frachtzuschlag von 0,40 M. für das kg bloß bis zur Küste diese Wolle auf dem europäischen Markte, bis zu dem sie noch Seefracht und Verladekosten zu tragen hatte, mit derjenigen anderer Wollländer der Erde nicht mehr in Wettbewerb treten konnte. Zu diesen unmittelbaren Ausgaben aber kam noch ein anderes Hindernis für die Entwicklung der landwirtschaftlichen Gütererzeugung. Es konnte überhaupt nur eine sehr beschränkte Zahl von Ochsenwagen die Küste besuchen, da Wasser und vor allem Futter an den wenigen dorthin führenden Wegen auf der letzten, 100 km messenden Strecke nur in außerordentlich beschränktem Maße zu haben waren. So wäre also eine Ausdehnung der Wollschafzucht auf mehr als einige wenige Farmen zu jener Zeit nicht möglich gewesen, weil das Land diesen Betrieb infolge der damals bestehenden Verkehrsverbindungen überhaupt nicht hätte in Gang bringen können.

Ebenso wie mit der Wolle ging es aber auch mit anderen nicht sehr kostspieligen Erzeugnissen. Um die Erze von Otavi, die beispielsweise im Jahre 1909 zur Verschiffung gelangt sind, mit Ochsenwagen nach Swakopmund zu bringen, hätte es unter der recht unwahrscheinlichen Voraussetzung, dass die Zugtiere die weite Reise nach der Küste dreimal im Jahre hätten aushalten können, eines Parkes von 5.000 Wagen mit rund 70.000 Ochsen bedurft! Und wie viel besser diese Länder immer noch daran waren als die tropischen Landschaften des Weltteils, lehrt uns ein Blick auf die Beförderungskosten in Ostafrika in früherer Zeit. Wenn die Kosten des Hinaufschaffens einer einzigen Gewichtstonne von Daressalam nach dem Tanganjika sich vor einer Reihe von Jahren auf annähernd 3.000 M. stellten, dann war mit dem besten Willen nur an die Beförderung von Elfenbein oder in späterer Zeit allenfalls noch von Kautschuk aus den entlegeneren Landschaften bis zum Meere zu denken. Bezeichnet man die Linie, bis zu der auf Grund der Frachtkosten die Ausfuhr eines im Inneren erzeugten Gegenstandes eben noch lohnend erscheint, als die handelsgeographische Rentabilitätsgrenze*), so ergibt sich unter Zugrundelegung der ungefähren Kosten für den Trägertransport, dass z. B. für einen so wichtigen Rohstoff wie die Baumwolle von den tropischen Gebieten Afrikas mindestens neun Zehntel außerhalb dieser Grenze gelegen sind, daher für die Baumwollausfuhr ohne die Schaffung moderner Verkehrsmittel niemals hätten in Frage kommen können. Wo bereits eine Bahn den Trägertransport ersetzt hatte, da zeigt sich die Änderung sogleich in einer ungemeinen Verbilligung des Transports größerer Gewichtsmengen. So auf der französischen Sudanbahn, auf der die Beförderung von 1731 Tonnen Regierungsgütern im Jahre 1904 nach S. v. Jezewski auf nur 271.200 M. zu stehen kam, während sie bei Benutzung der alten Transportmittel auf der 475 km langen Strecke 1.480.000 Mark gekostet haben würde.

*) Vgl. K. Dove, Methodische Einführung in die Wirtschaftsgeographie, G. Fischer, Jena 1914.

Um die geringe Mitwirkung dieses großen Festlandes an der Versorgung des Weltmarktes verständlich zu machen, bedarf es nach dem eben Mitgeteilten nur noch des Hinweises auf die sehr verzögerte Entwicklung, die jene der Neuzeit entsprechenden Verkehrsmittel gerade hier durchgemacht haben. Der Grund für die lange Rückständigkeit des Eisenbahnnetzes lag teilweise in den Schwierigkeiten, die der Bau dieses Weltteils der Anlage von Schienenwegen bereitete und von denen weiter unten ausführlicher die Rede sein wird. Die Hauptursache dieser auffallenden Verspätung war und ist aber mindestens eben sosehr in der Kürze der Zeit begründet, seit welcher die europäischen Industriestaaten von den inneren Landschaften Afrikas Begriff ergriffen haben. Viel konnte man wirklich von einem Verkehrsnetz nicht verlangen, das für alle Gebiete des Weltteils im Jahre 1890 erst eine Länge von 9.400 km aufwies und das in den tropischen Landschaften, die seiner am meisten bedurften, im gleichen Jahre noch nicht ein Zehntel dieser Länge erreicht hatte. Noch mehr als zwei Jahrzehnte später, im Jahre 1912, steht die Länge aller afrikanischen Eisenbahnen mit 43.000 km um rund 8.000 km hinter derjenigen Frankreichs zurück und der allergeringste Teil von ihnen entfällt auf diejenigen Gebiete, die infolge ihres Klimas als Lieferanten besonders wichtiger Rohstoffe am meisten in Betracht kommen.

Außer den erwähnten Gründen für die bisherige Rückständigkeit Afrikas gegenüber dem Handel und Verkehr namentlich der europäischen Völker ist aber auch noch eine in der Entwicklung des Welthandels selbst liegende Ursache dafür verantwortlich zu machen. Die Wertschätzung der Gegenstände, die wir als Welthandelsgüter bezeichnen können, hat nämlich in der Zeit, in welcher wir leben, selbst eine entschiedene Wandlung erfahren. Solche Änderungen sind ja aus der Geschichte des Handels mehrfach bekannt und die historisch wichtigste war wohl die, welche die Bedeutung der Gewürze vom Mittelalter bis zur Neuzeit erfahren hat. Wurden doch durch sie jene Stoffe aus dem Pflanzenreich, die, ehedem mit Gold aufgewogen, zur Überschätzung mancher heute fast vergessenen tropischen Gebiete führten, zu einer allen Haushaltungen zugänglichen Ware des Kleinhandels. In geringerem Maßstabe wiederholt sich diese veränderte Beurteilung der Kolonialländer aber auch in der Geschichte des afrikanischen Handels, und darauf muss hier ganz kurz eingegangen werden.

Mit dem steigenden Wohlstande und zugleich mit der allmählichen Verbesserung der Verkehrsmittel sehen wir den Verbrauch an sogenannten Genussmitteln bei den Kulturvölkern Europas in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in ganz beträchtlichem Maße zunehmen. So stieg der Kaffeeverbrauch noch von 1886 bis 1909 in Deutschland, verrechnet auf den Kopf der Bevölkerung, um mehr als ein Drittel, der Kakao, von dem 1880 auf den Kopf erst ein Verbrauch von 50 g kam, hat in unserem Vaterlande 1910 bereits 600 g erreicht, und was von Deutschland gilt, das gilt mehr oder weniger auch von den anderen Kulturländern unseres heimischen Weltteils.

Wir müssen nun festhalten, dass der Bedarf unserer Industrie an auswärtigen Rohstoffen zu einer Zeit, in welcher der Verbrauch an Genussmitteln schon ganz gewaltige Summen beanspruchte, noch verhältnismäßig gering war. Unter anderem betrug der Wert der Einfuhr von Rohbaumwolle im Jahre 1880 erst 148 Millionen M., derjenige des Kaffees dagegen schon damals 151 Millionen. Und wer sich jener Jahre erinnert, die als die Geburtszeit unserer eigenen Kolonien gelten dürfen, der wird auch noch wissen, wie man damals in dem Streben nach eigenem überseeischem Besitz immer wieder als dessen Hauptaufgabe bezeichnete, uns in eigenen Kolonien erzeugte Genussmittel zu verschaffen. Diesen Werdegang der Schätzung überseeischer Handelsgüter zeigt uns in sinnfälligster Weise sogar der Sprachgebrauch, der unser Volk gelehrt hatte, diese ehemals wichtigsten Gegenstände der tropischen Ausfuhr einfach unter der Bezeichnung „Kolonialwaren" zusammenzufassen. Wie würde man dagegen jemanden ansehen, der ein Geschäft, das sich mit dem Vertriebe von Kautschuk. Baumwolle und ähnlichen Dingen abgibt, als eine Großhandlung in Kolonialwaren bezeichnen wollte, obwohl diese Gegenstände das heute für unseren Bedarf in weit höherem Grade sind als jene ersten Massengüter aus wärmeren Zonen. Das Verhältnis beider Güterarten zueinander wurde seit jener Zeit ein ganz anderes. Rechnen wir des Beispiels halber nur die für die drei kolonialen Genussmittel, den Kaffee, den Tabak und den Kakao bezahlten Summen und diejenigen, die Deutschland für drei in der Neuzeit besonders wichtige industrielle Rohstoffe an das Ausland abführte, nämlich für Kupfer, Kautschuk und Baumwolle, gegeneinander auf. Da ergibt sich folgender erstaunliche Umschwung. Noch im Jahre 1880 verhielt sich der Wert der drei Genussmittel zu dem der drei Rohstoffe in unserer Einfuhr (die Wiederausfuhr ist in beiden Fällen abgerechnet) wie 4 : 5; genau dreißig Jahre später hat sich das Wertverhältnis der genannten Kolonialwaren, trotzdem auch ihre Einfuhr ungemein gewachsen ist, zu dem der angeführten Rohstoffe bereits auf 5 : 12 geändert.

Wir begreifen ohne weiteres den Umschwung, der uns aus diesen Zahlen in so bezeichnender Weise entgegentritt, wenn wir bedenken, dass in dem letztvergangenen Menschenalter die Industrie nicht allein eine ungeheure Vermehrung ihrer Betriebe erfahren hat, sondern dass eine Reihe besonders wichtiger Industrien wie die elektrische, die Fahrrad- und Automobilindustrie und andere überhaupt erst in diesen Jahrzehnten entstanden sind. Wieder andere, wie die Fette verarbeitenden Betriebe, können heute nur in viel geringerem Grade als ehedem ihr Rohmaterial aus den Erzeugnissen der heimischen Landwirtschaft decken und sahen sich daher ebenfalls immer mehr auf die Einfuhr aus anderen Ländern angewiesen.

Mit diesem ungeheuren Bedarf Europas an auswärtigen Rohstoffen, den man in durchaus passender Weise als Baumwoll-, als Kautschukhunger usw. bezeichnet hat, begann ein krampfhaftes Hasten, eine gierige Suche nach den betreffenden Dingen, eine Bewegung, der sich auch das große Südland der alten Welt nicht mehr zu verschließen vermochte. Wichtiger als alles „Neue aus Afrika", wie es romantisch veranlagte Gemüter vorwiegend zu hören begehrten, war die Tatsache, dass gleichsam über Nacht der Weltteil zu dem Elfenbein noch ein weiteres Ausfuhrprodukt erhalten hatte, dessen Rentabilitätsgrenze ziemlich weit im Innern gelegen war und dass sich diesem in gewissen küstennahen Ländern ein weiteres als Rohstoff immer wichtiger werdendes Erzeugnis der wildwachsenden Pflanzenwelt zugesellte, die Frucht der edelsten in diesem Kontinent heimischen Palme.

Gleichzeitig mit der immer dringenderen Forderung nach Befriedigung jenes Rohstoffhungers entstand der Wunsch in den europäischen Völkern, nun auch durch eigene Arbeit die Schätze zu vermehren, die so lange gänzlich unbeachtet geblieben waren und bei deren einem, dem Kautschuk, die Gefahr baldigen Versiegens in bedrohliche Nähe gerückt erschien. Und mit diesem Streben setzt spät, aber schon in ihrem Beginne von wichtigen Folgen begleitet, die politische Neuzeit Afrikas ein.

Erwerbungen folgten jetzt auf Erwerbungen und es entstand in viel kürzerer Frist als in den anderen Erdteilen der heutige Zustand der politischen Aufteilung, in dem sich außer Abessinien eigentlich nur noch Ägypten einer Art von Unabhängigkeit erfreute, als der große Krieg zum Ausbruche kam. Das nichteuropäische Afrika, das noch vor einem knappen Menschenalter 24 Millionen qkm, also fast das Zweiundeinhalbfache der Fläche von Europa umfasste, ist während eines runden Vierteljahrhunderts auf wenig über 4 Millionen qkm zusammengeschrumpft, wenn man das Nilland nach wie vor als halbwegs selbständig behandeln will.

Was Wunder, dass diese ungeheure Ländermasse, ungeheuer auch noch nach Abrechnung der nordafrikanischen Wüstenregionen, so kurze Zeit nach der Erwerbung durch Europa sich noch in den allerersten Anfängen ihrer wirtschaftlichen Leistungen befindet. Anstatt also an Afrika zu verzweifeln, wie dies einzelne Schwarzseher je und je getan haben, sollte man sich vielmehr wundern, dass dieser große Teil unserer Erde in einzelnen Zweigen des Welthandels bereits eine ganz beachtenswerte Stellung erworben hat. Was er augenblicklich für den die ganze Erde umspannenden Güteraustausch der Kulturvölker bedeutet, wird uns weiterhin eingehender beschäftigen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wirtschaftsgeographie von Afrika