Wird es einen kalten Winter geben?

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1922
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Winter, Sommer, Kälte, Witterungsperiode, Meteorologen, Wetter,
Das durchschnittliche menschliche Denken bewegt sich mit Vorliebe in Gegensätzen. Das war seit Jahrtausenden so und wird auch noch lange nicht anders werden. Sprichwortweisheit kündet genug davon. So sagt man: „Auf Regen folgt Sonnenschein“, und: „Gestrenge Herren regieren nicht lange"; im letzteren Falle ist eine Folge von kalten Wintertagen gemeint. So glaubte man einst, nach Ablauf einer bestimmten Zeit müsse sich das Wetter in der gleichen Weise wiederholen, und gelangte zum Glauben an den hundertjährigen Kalender, der heute noch gedruckt und von Landleuten viel begehrt wird. Die schlimmen, ungläubigen Meteorologen wollen von solcher „Weisheit“ nichts wissen, denn sie gelangten durch ihr Studium der Wetterlage leider nicht zu den scheinbar klaren „Ergebnissen“ des hundertjährigen Kalenders. So hält man sich an Gegensätze und sagt: Auf einen warmen Sommer folgt ein kalter Winter.

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Und wenn der Sommer so abnorm gewesen ist wie im Jahre1921, schließt man auf grimmige Kälte. Es gibt Leute, die überzeugt sind, es müsse von 1921 auf 1922 „Stein und Bein frieren“. Wäre der Sommer unwirtlich, regnerisch und sonnenlos verlaufen, dann hieße es im Gegensatz: Nun wird der Winter mild. Was sagt nun über den zu erwartenden Winter die Bayerische Landeswetterwarte? Zuerst heißt es: Diese Frage beschäftigt nur die Tageszeitungen. Und wie steht es nun mit den meteorologischen Fachzeitschriften? Da müsste doch viel über diese Frage geschrieben werden. Wer das annimmt, täuscht sich, denn die Meteorologen beschäftigen sich mit anderen Problemen. Sie prüfen und vergleichen seit langem die möglicherweise vorhandenen Beziehungen, die im Wechsel zwischen warmen und kalten Witterungsperioden bestehen könnten; aber diese Untersuchungen führten nicht dazu, dass nun angenommen werden dürfte, die Wetterabfolge bewege sich in den oben erwähnten Gegensätzen, wonach auf warme Sommer angeblich kalte Winter folgten und umgekehrt. Soweit die Fachleute imstande sind, die Witterungsgeschichte zu Rate zu ziehen, ergibt sich, dass nach abnorm warmen Sommern eben sowohl milde als kalte Winter zu verzeichnen gewesen sind. Wenn nun auch die ungelehrten Wetterpropheten oft genug erlebten, dass es mit den feststehenden Regeln einen bedenklichen Haken hat und das Wetter meist anders kommt, als sie voraussagten, so fangen sie doch gerne wieder an, ihre Sprüche aufzusagen. Der Bauersmann hat allerdings auch Humor genug, unter seinen Regeln vom Wetter folgende zu führen: „Kräht der Hahn auf dem Mist, so ändert sich‘s Wetter, oder es — bleibt wichs ist.“ Oder: „Ist der Oktober trüb und nass, so füllt er uns das Regenfass.“ Ebenso wie es dem unzünftigen Wettermann nicht möglich ist, sichere Voraussagen zu geben, so bekennen die Fachmeteorologen: Ist es schon eine schwierige Aufgabe, für die doch verhältnismäßig viele Anhaltspunkte in der weit durchgebildeten Bestimmung des augenblicklichen Witterungszustandes gegeben sind, für den nächsten Tag sichere Angaben zu bieten — die langfristige Vorhersage ist noch weit schwieriger. Fragt man also, wie wird der Winter 1921/1922 werden, so geben die Fachmänner die ehrliche Antwort: Wir wissen es nicht. Sollte uns nun aber doch ein abnorm kalter Winter Heimsuchen, dann können die Laien wieder einmal behaupten: „Wir wussten, dass auf Wärme Kälte folgen muss.“ Trotzdem halten wir es mit den Meteorologen, die ihre Wissenschaft nicht als Propheten treiben und primitiv in Gegensätzen denken.

Familie, Geschwister, Winter, Reisigsammeln bei Schnee und Frost

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