Wie verhält sich der Wilde bei Epidemien?

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1921
Autor: K. Altwallstädt, Erscheinungsjahr: 1921

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Epidemien, Seuchen, Krankheiten, Geister, Dämonen,
Die Naturmenschen haben beobachtet, dass von gewissen Erkrankungen mehrere Menschen nacheinander ergriffen werden. Nach urtümlicher Auffassung gelten Krankheiten als von Geistern und Dämonen verursacht. Fürchtet man nun, dass der Dämon einer ansteckenden Krankheit sich dem Dorfe nähert, so sucht man ihm den Eintritt zu verwehren oder ihn durch Opfer gnädig zu stimmen. Man setzt alle Zugangswege in schlechten Zustand und errichtet sogar Wälle um die Dörfer. Zaubertänze sollen gleichfalls abwehrend wirken. Die Buschmänner im Togolande stellen vor ihren Ortschaften kleine rote Tonfiguren auf, denen sie Stöcke zur Abwehr gegen Krankheitsgeister in die Hand geben. An anderen Orten werden aus Palmblättern geschnittene Menschengestalten an Fäden aufgehängt, die sich bei jedem Windhauch bewegen; diese „Püppchen“ sollen gleichfalls als abwehrender Zauber wirken. Schwarzes Bienenwachs soll durch seinen Geruch die Seuchendämonen vertreiben. Durch Opfergaben sucht man zu erreichen, dass die Krankheitsgeister am Ort vorübergehen. Die Tungusen und Burjäten stellen beim Ausbruch der Pocken Milch, Tee und Fleischgerichte vor ihre Jurten und bitten, sich feierlich verbeugend, um Schonung. Auf Sula-Bâsi wird ein mit Opfergaben gefülltes Häuschen vor das Dorf gestellt, das dem Dämon zum Wohnort angeboten wird. Hilft das alles nicht, so gilt als Rettungsmittel die Flucht. Auf Nias bei Sumatra werden Pockenkranke abgesondert, so wie auch vielerorts Aussätzige verbannt werden. Die Niasser Pockenkranken werden unter ein auf dem freien Feld errichtetes Schutzdach gebracht und von einem Stammesgenossen verpflegt, der die Pockenkrankheit gehabt und überstanden hat. Aber so werden die Kranken unter den Wilden nicht überall behandelt. Sie ihrem Geschick zu überlassen, nachdem man ihnen Speise und Trank hingestellt hat, das gilt bei tiefstehenden Völkern nicht als Unrecht. Eltern geben häufig ihre Kinder und diese ihre Erzeugerpreis, um die eigene Haut zu retten.

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Die Flucht aus verseuchten Ortschaften beobachtete man bei den Indianern Nordmerikas, in Kotschinchina, auf Sumatra, Amboina, auf den Watubela- und den Nliase-Inseln, in Serang und auf Celebes. Die gefährdeten Menschen entfernen sich aus dem Machtbereich des Dämons; sie verstecken sich darum in den Wäldern. Die Watubela-Insulaner verhalten sich in der Wildnis so still wie möglich, um dem Geist vorzutäuschen, es gäbe keine Menschen mehr.

Außer dem Verlassen der Wohnstätten bei ausgebrochenen Epidemien wird noch allerlei unternommen, die Krankheit aus dem Ort zu vertreiben. Man versucht, die Seuche in einem eigens dazu erbauten Boot auf das Meer hinauszuschaffen; dies geschieht auf der niederländisch-ostindischen Insel Buro. Am Vorder- und Hintersteven eines sechs Meter langen Bootes befestigt man die holländische Flagge — eine Anspielung darauf, dass höchstwahrscheinlich von den Holländern der Seuchengeist hergeschleppt worden sei. Durch eigenartige Zeremonien hofft man, den bösen Dämon in das Fahrzeug zu bringen, in das man ihm reiche Opfergaben legt. Mit Hilfe eines anderen Fahrzeuges befördert man das Boot in das offene Meer. Dabei beten die Ruderer laut. Eines dieser Gebete, das auf der Buroinsel gesprochen wird, lautet:

„Herr Großvater Pocken!
Geht weg! Geht gutwillig weg!
Geht und besucht ein anderes Land!
Wir haben Euch Speisen für die Reise hingestellt.
Wir haben jetzt nichts mehr zu geben.“

Solche „Seuchenboote“ erregen große Bestürzung, wenn sie sich irgendwo einer Küste nähern. Die Leute auf Timorlaut, einer der Tenimberinseln, werden von höchster Angst ergriffen, wenn solch ein unheimliches, verderbenbringendes Boot auf ihren Strand zutreibt. Sie versuchen mit äußerster Anstrengung, die Landung zu verhindern. Wird das Boot trotzdem ans Ufer gespült, so wird es mit allem, was darin ist, am Strande verbrannt.

Dass zwischen Reinlichkeit und Abnahme der Epidemien ein gewisser Zusammenhang besteht, scheint bei manchen Völkerstämmen nicht ganz unbekannt zu sein. Während die Männer das Boot, auf das sie den Seuchengeist gelockt haben, zum Meer befördern, sind alle Frauen damit beschäftigt, die Wege der Ortschaft zu reinigen und den Unrat in die See zu bringen.

Will der gefürchtete Dämon trotz aller Zauberkünste, Gebete und Opfer sich aus einem Hause nicht entfernen, dann gibt man die Wohnstätte auf. Auf der Insel Serang bricht man die Hütten ab und macht alles dem Boden gleich. Entschiedener noch verfahren die Mosquitoindianer. Sie entschließen sich dazu, eine ganze Ortschaft in Flammen aufgehen zu lassen, wenn eine Epidemie ausgebrochen ist. Mit Recht hat man gesagt: „Das Mittel ist probat; eine wirksamere Desinfektion kann man sich kaum denken.“

Soziales, Ein Seuchenbannschiff bei den Nikobaresen

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