Wie soll ich mein Kind strafen?

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1926
Autor: Dr. Johannes Prüfer, Oberstudiendirektor, Erscheinungsjahr: 1926

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Familie, Kinder, Pädagogik, Erziehung, Strafen, Erziehung,
In den meisten Familien gibt es nur zwei Strafmittel: Schimpfworte und - Ohrfeigen. Von beiden will ich nicht reden, denn sie sind keine Mittel, deren sich ein ruhig denkender Erzieher bedient, sondern sie sind nur elterliche Explosionserscheinungen, Ausdrucksformen großen Zornes. Als eine pädagogische Strafe kann man schließlich nur das bezeichnen, was der Erzieher mit Überlegung auswählt, um das Kind zu bessern. Je mehr sich die Art der Strafe dem besonderen Fall anpasst, umso besser ist sie. Also kein Schema! Keine Strafskala! Sondern: Beweglichkeit und stete Anpassung an das Vergehen und an den kleinen Sünder! Freilich setzt das bei den Eltern viel Selbstbeherrschung und geistige Überlegenheit voraus. Aber das ist ja gerade gut. Die Kinder haben ein sehr feines Empfinden dafür und ordnen sich viel leichter einem Menschen unter, bei dem sie Selbstbeherrschung und geistige Überlegenheit spüren, als einem, der nur mit Schimpfworten und Ohrfeigen regiert. So wächst bei Anwendung richtiger Strafen zugleich die elterliche Autorität.

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Auf einer Ferienwanderung kehrte ich einmal in einem Dorfgasthof ein. Am Nachbartisch saß eine Familie mit zwei Kindern, einem etwa zwölfjährigen Jungen und einem drei bis vierjährigen Mädchen namens Helga. Anfangs plätscherte das Gespräch am Nachbartische friedlich dahin. Plötzlich fing Helga an zu „knautschen“, scheinbar hatte ihr die Mutter irgendetwas weggenommen, und nun brachte die Kleine ihren Unmut auf die übliche Kinderart zum Ausdruck. Die Mutter ermahnte Helga zur Ruhe. Vergeblich! Helga „leierte“ weiter. Da gab ihr die Mutter einen Klaps auf die Hand. Der Erfolg? Helgas Forte ging in Fortissimo über. Der Vater hatte ärgerlich die Zeitung ergriffen und vergrub seinen Kopf darin, während der Bruder krampfhaft mit einem Bleistift auf seine Papierserviette zeichnete. Ich sah der armen Mutter an, wie peinlich ihr die Szene war. Wir waren die einzigen Gäste, und jede Störung erschien daher doppelt laut in dem kleinen Raum. Am liebsten hätte ich ihr gesagt: „Bitte, gnädige Frau, es belästigt mich gar nicht!“ Aber das wäre unpädagogisch gewesen. Es war eben erst die Suppe serviert worden. Da auf einmal hörte ich die Dame mit eisigkalter Stimme sagen: „Vater, die Helga bekommt heute keinen Nachtisch.“ Indem selben Augenblick verstummte das Heulen der Kleinen. Ein so plötzliches Aufhören eines Kindergeschreis hatte ich noch nie erlebt. Der Vater hatte nur kurz geantwortet: „Gut.“ Nun war sekundenlange Stille im Raum. Nur die alte Wanduhr tickte. Die Mutter blickte starr geradeaus. Vater und Bruder beschäftigten sich weiter wie bisher. Nach einer Weile hörte ich noch zwei kleine unterdrückte kurze Schluchzer von Helga. Dann war wieder allgemeine Stille. Nach längerer Zeit erklang bettelnd und leise Helgas Stimmchen: „Ich will doch auch mitessen.“ – Niemand antwortete. Sie wurde gar nicht beachtet. Ich freute mich, wie beherrscht die Leute blieben. Kein Wortschwall! Kein Bedauern! Der Vater hatte die Zeitung inzwischen gelesen und erzählte seiner Frau, was das Blatt über den „Hermannslauf der Deutschen Turnerschaft zur Grotenburg“ berichtete. Als der Vater wieder weiterlas, machte die Mutter ihren Sohn auf die schönen Rosen auf dem Tische aufmerksam. Helga bat, auch einmal daran riechen zu dürfen. Die Mutter hielt ihr die Rosen hin. Dabei fielen einige Rosenblätter auf den Tisch. Helga fing sofort an, mit ihnen zu spielen. Nun war der Bann gebrochen. Es entwickelte sich wieder ein allgemeines Plaudern, und Helga war wieder ein reizender kleiner Fratz. Als endlich der Nachtisch kam, stellte die Kellnerin Helga ihren Teil hin, und niemand nahm davon Notiz. Im Grunde war Schweigen das Beste, was die Eltern tun konnten. Hätten sie gesagt: „Helga soll ja keinen Nachtisch haben,“ dann hätte die Kleine doch gebettelt und sich darauf berufen, dass sie sofort brav gewesen sei, als die Mutter vom Nachtisch gesprochen habe. Die Eltern würden doch nachgegeben und zugleich eine Niederlage erlitten haben. Oder hätten sie den Nachtisch wieder weggenommen, dann wäre Helga in Geschrei ausgebrochen und hätte die Handlung ihrer Eltern sicher nicht verstanden. Man darf bei Kindern dieses Alters nicht zu viel Gewicht auf das einzelne Wort legen, sondern muss sich in die Gesamtsituation und in die Seele des Kindes einfühlen. Gewiss, nach dem Wortlaut der mütterlichen Rede hätte Helga den Nachtisch nicht erhalten dürfen. Die Kleine hat aber in ihrer Aufregung bestimmt nicht überlegt: „Was will die Mutter damit sagen?“ Sondern sie hat nur die Empfindung gehabt: „Weil du heulst, sollst du keinen Nachtisch haben.“ Da hat sie eben aufgehört mit Heulen. Für sie war es also nur eine Drohung gewesen. Der Zweck der Strafe: Besserung des Kindes war er reicht. Außerdem hat das Kind auf diese Weise die für seine weitere sittliche Entwicklung sehr wichtige Erfahrung gemacht, dass man durch Selbstbeherrschung sicherer einen Erfolg erzielen kann als durch schwächliches Sichgehenlassen. - Nur ja nicht im Kinde den Gedanken aufkommen lassen: „Es nützt ja doch alles nichts! Da ich diesen Fehler einmal begangen habe, ist nun sowieso alles verdorben. Da hat es nun auch gar keinen Zweck mehr, dass ich mich zusammennehme.“ Solche Stimmung ist der Tod aller sittlichen Höherbildung. Das Kind muss wissen - und es kann dieses Wissen nur aus Erlebnissen, aus Erfahrungen gewinnen, dass es nie zu spät zur Besserung und zur Arbeit an sich selbst ist.

Ein anderes Beispiel! Nach einem pädagogischen Vortrag berichtete einmal eine Mutter über folgendes Strafverfahren: Ihre beiden Töchter im Alter von acht und zehn Jahren spielten leidenschaftlich gern Ball, leider aber nicht nur im Freien, sondern in der Mutter Abwesenheit auch zuweilen in der Wohnung. Eines Abends, als die Mutter heimkam, fehlte auf dem Sofaumbau im Wohnzimmer eine kleine Porzellanfigur. Auf Befragen erfuhr sie, dass die Figur beim Ballspielen heruntergefallen und zerbrochen sei. Ohne ein Scheltwort zu brauchen, sagte die Mutter: „Ich habe euch das Ballspielen im Zimmer aufs strengste verboten, weil ich voraussah, dass ihr dadurch Schaden anrichten würdet. Das ist nun geschehen. Es ist selbstverständlich, dass ihr den Schaden wiedergutmacht. Die Figur hat zwölf Mark gekostet. Wir werden gemeinsam eine neue gleichwertige besorgen. Holt eure Sparbüchsen, damit ich feststellen kann, wieviel Geld ihr habt!“ - Es stellte sich heraus, dass die ältere vier Mark und zwanzig Pfennig und die jüngere zwei Mark und siebzig Pfennig hatte. Nun erhielten beide so lange kein Taschengeld, bis die Figur ersetzt war. Darüber vergingen viele Monate, und sie mussten sich in der Zeit manches aus Taschengeldmangel versagen. Aber Ball haben sie in den Zimmern nie wieder gespielt. - Die hier angewandte Strafe bezeichnet man in der Pädagogik als „natürliche Strafe“ im Gegensatz zur „künstlichen Strafe“. Die meisten Strafen sind künstliche, das heißt sie sind willkürlich gewählt, sie werden künstlich herbeigeführt. Wenn die eben genannte Mutter über die beiden Mädchen eine andere Strafe verhängt hätte, etwa ein paar Nachmittage Stubenarrest, so wäre das eine „künstliche Strafe“ gewesen; denn sie hätte in keinem inneren Zusammenhange mit dem Vergehen gestanden. Die „natürliche Strafe“ dagegen ist nichts anderes als die naturgemäße Folge einer Handlung. Wenn eine Familie zum Beispiel einen Ausflug unternehmen will und ein Kind ist nicht pünktlich fertig, so marschieren die anderen - bei natürlichem Strafverfahren - eben ab und der Bummler bleibt zu Hause. Gewöhnlich machen's die Menschen freilich anders: sie warten, schimpfen, verderben sich die Laune und verpassen unter Umständen den Zug, nehmen also die „natürliche Strafe“ gleichsam auf sich, statt sie auf den kleinen Sünder zu beschränken. - Freilich kann man die „natürlichen Strafen“ nur in besonderen Fällen anwenden.

„Was hab' ich denn getan?“ Nach einer künstlerischen

Familie, Kinder, Was habe ich denn getan

Familie, Kinder, Was habe ich denn getan