New York – Spekulation, Täuschung, Finanzkrise 1858

Von Friedrich Schütz

Es ist vollbracht! — Das verwegene, prunkende Gebäude der amerikanischen Geld- und Handelswelt ist eingestürzt; seine Trümmer bedecken den Boden der großen Republik und die Menschen, erschöpft durch langes, vergebliches Ringen, durch quälende Angst, schreiten jetzt mit der Ruhe der Verzweiflung, fast mit Zufriedenheit, das Schlimmste zu kennen, über den Schutt ihres zerstörten Werkes. Von der Metropolis des Westens, von dem stolzen New York war das Erdbeben ausgegangen und wälzte sich gewaltig, verheerend, wie die Annalen des Handels es noch nicht aufzuweisen hatten, unter dem ganzen weiten Gebiete hin. Überall erzitterte, spaltete sich der Boten und Sturz auf Sturz fielen die Festen der Industrie, des Handels, der Finanzen, Ruin im Norden! Ruin im Osten und im fernen Westen. So flog Wochen lang die Schreckensbotschaft täglich, stündlich auf dem Telegraphendraht hin und her. Auf jede Frage der Angst kam eine Antwort des Unglücks. Die Krisis war lang und hart. New York war das Herz des gegen den Tod kämpfenden Körpers. Von ihm sollte das Lebensblut ausströmen, das Rettung bringen konnte. New York rang mit dem Reste seiner Kräfte gegen die Vernichtung, Der Kampf ist vorüber, die Agonie ist beendet. Die Metropolis der westlichen Handelswelt liegt jetzt da, eine Riesenleiche mitten unter dem Haufen der kleineren.


Wer aber diese Krisis in New York erlebt hat, der kann mit Recht sagen, einem großen historischen Drama der modernen Welt beigewohnt zu haben. Welch ein Ausgangspunkt, welch eine Entwicklung, welche Peripetie! —

Vor kaum zwei Monaten erhob sich noch auf dem Boden der großen Republik die Alpe der Spekulation, bedeckt mit Unternehmungen, Plänen, Erfolgen und den Millionen von Aktien und Banknoten: die Sonne des Vertrauens goss ihre goldenen Strahlen darüber und in dem blendenden Widerschein wogte auf dem ganzen weiten Gebiete die tätige, kühne Menge, Vorwärts! Vorwärts, ohne Rückblick, ohne Furcht, ohne Besinnung! Nur vorwärts! war das allgemeine Losungswort. Der Geist der Unternehmung und des Glücksspiels kannte keine Grenze. Mäßigung und Vorsicht war selbst den ruhiger Denkenden unmöglich, denn die Spekulation, gleich einer führerlosen Lokomotive, riss sausend und betäubend den Zug der Handels- und Finanzwelt dahin auf der Bahn zum — Verderben, — (flüsterte wohl hier und da eine mahnende Stimme), — zum Erfolge, zum kolossalen Gewinn hoffte und rief die Menge. Und der Schein sprach für diese. Auf dem schon längst bebauten Felde des amerikanischen Unternehmungsgeistes schien eine unendlich reiche Ernte im Sonnenglanz des Glückes zu wogen und neue Gefilde haben sich noch eröffnet. Nach den einsamen Ebenen des fernen Westens strömte die Auswanderung der Spekulation. Der Boden wurde zerlegt, Pachtgüter, Dörfer, Städte, Kanäle, Eisenbahnen wurden in stets wachsender Zahl hingezeichnet auf das dürre Gras der Prärie, auf dem noch der Fußtapfen des fliehenden Indianers nicht verwischt war. Mit rasender Gier stürzte die raschen Gewinn suchende Menge auf diese neue Beute. Noch ehe der Pflug in den Boden gesetzt, noch ehe der erste Stein für die künftigen Städte gelegt war, erlangte das Land einen Wert, der scheinbar den Reichtum der Republik ins Unendliche vermehrte. Die Aktien der Eisenbahnen und Kanäle der ungewissen Zukunft waren gesuchter als Geld. Eine neue Welt war im Westen für den Handel und die Spekulation der großen Republik geöffnet. Kaum noch Wildnis, verlangte derselbe in unbegrenzter Masse nicht nur das Notwendige, sondern Alles, was der Luxus des verfeinerten Lebens ersonnen hat. Von Frankreich, Deutschland, England, von ganz Europa forderten die Handelsstädte des Ostens in kolossalem Übermaß die Produkte der Industrie. Der Abfluss war sicher, nach dem Westen floss rasch der gewaltige Strom, New York, das Riesenemporium, hatte nicht mehr Raum für die unendliche Masse der europäischen Sendungen. Die Waren verdrängten die Menschen und Prachtpaläste stiegen tief aus der Erde hoch hinauf gegen den Himmel, um den ungeheuren Reichtum aufzunehmen. Welch ein Treiben, welch ein Leben in der stolzen Metropolis! Handel, Industrie und Finanzspekulation schwellten ihre Adern; ihr Riesenkörper wuchs und verschönerte sich ins Unendliche. Was gestern groß, glänzend, bewunderungswert war, wurde heute klein, jämmerlich, verächtlich. Der Reichtum des vorhergehenden Tages galt für Armut am folgenden Morgen. Der größte Gewinn wurde nur als Einsatz für den Unberechenbaren verwandt. Maßlos wie die Arbeit und das Wagen war der Genuss. Die Paläste der Handelsfürsten füllten sich mit königlichem Prunke; ihre Tafel strotzte von lukullischer Üppigkeit. Es war dies die Zeit der glühenden Sommersonne und der glühenden Spekulation. Über Europa streute ein Teil der Glücklichen rücksichtslos das leicht erworbene Gold, in den Badeorten verschwendeten es die Andern. Die Gegenwart lag glänzend vor den triumph- und genussstrahlenden Augen Aller, die Zukunft stieg als rosenfarbige Wolke noch glänzender aufgehender Tage empor. Kühnheit und Vertrauen belebte Alle. Die Natur selbst schien diese Sicherheit des Glücks zu verbeißen. Mit gütiger Hand hatte sie ihre Geschenke über die Republik gestreut. Auf den Feldern des weiten Gebietes reifte unendlicher Reichtum. Glücklich und voll Zuversicht waren die Menschen, und selbst die bedachteren Späher riefen nach einem prüfenden Blicke um den Horizont: Es ist Alles gut. Alles sicher!

Da löste sich plötzlich auf der hohen Alpe der Spekulation ein Schneeflöckchen und in demselben Augenblick stürzte es herab, als Lawine, wachsend, unaufhaltbar, vernichtend, und die kaum noch so üppig blühende Handelswelt lag begraben, verschüttet, vernichtet für lange Zeit.

Am 24. August stellte hier das Zweiggeschäft der Ohio Life and Trust Company ihre Zahlungen ein. Ein Schrei der Überraschung, der Bestürzung ertönte, denn dieses Institut galt für eins der sichersten. Aber nicht die Bedeutung und die direkten Folgen eines einzigen Bankbruches, selbst nicht des größten Geschäftes hätte die Handelswelt unmittelbar in so panischen Schrecken stürzen können, hätte nicht einem jeden dabei das erwachte Gewissen zugerufen: Es war Alles Täuschung! Du, dein Nachbar und Alle, fern wie nahe, ihr lebtet nur durch Täuschung! Ihr seit Alle jetzt dem Untergange verfallen! — Der Damm des Vertrauens war gebrochen: der Alarmruf: Die Krisis! Die Krisis! — ging durch das ganze Land und die vernichtende Flut des Bankrotts brach herein. Die Blätter während des tobenden Sturmes fielen Banken, Handelshäuser, Fabriken, Eisenbahngesellschaften, die welken zuerst, die grünern folgten rasch. Der Sturm wuchs; es krachte und brach in dem Walde der Spekulation, und das dürre Laub der Aktien und Banknoten wurde wertlos von dem Markte weggefegt. Die Krisis! Die Krisis! so lautete seit Wochen der Unglücksruf und verbreitete gleich dem Schrei: Die Pest! Die Pest! Bestürzung über die ganze Bevölkerung und hemmte das Leben der Allgemeinheit, wie jedes Einzelnen.

Wohl in keiner andern Handelsstadt tritt das Geschäft so offen, so massenhaft auf den Straßen auf als in New York. Wallstreet, der Hauptsitz der hohen Finanzwelt, und die benachbarten Straßen sind zu jeder Zeit eine Börse unter freiem Himmel, Hunderte stehen da in Haufen, besprechen und schließen Geschäfte ab; Hunderte ohne Geschäfte und eine nicht geringe Anzahl von Chevaliers d’industrie treiben sich da umher; hin und her strömt dabei die Menge derer, welche zu oder von dem Postamte, oder von einer Bank zu der andern eilen. Alle Teile der großen Republik, des amerikanischen Kontinentes und Europas haben da ihre Vertreter, und verschiedenartig drückt sich auf deren Physiognomien, in der Haltung, in der Bewegung und in Worten der Betrieb des Geschäftes aus. Ein interessanter Anblick schon in den Zeiten des Finanz- und Handelsfriedens, — ein großartiges Drama während dieser Krisis! Man denkt sich diese bunte Menge in der gewaltigsten Aufregung der Ungewissheit, der Angst, der Überraschung, des Haschens nach Hoffnung und Rettung, der Furcht vor unvermeidlichem Ruin; man denke sich dieselbe Wochen lang von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde stets grausamer gefoltert, bis endlich der Todesstoß dieser Agonie ein Ende macht und sich Resignation auf die abgematteten Züge des Einen und Hohn der Verzweiflung auf die des Andern legten. Und mitten in der allgemeinen Bestürzung die unheimlich lächelnden Gesichter derer, welche auf dem Elend der Gesamtheit bereits ihre Spekulationen des eigenen Gewinnes aufbauten und dabei Szenen, würdig der hohen Komödie. Da steht in einem Haufen verzweifelter Kaufleute, deren Banken gebrochen sind. Einer mit frohlächelndem Antlitz und rühmt sich: „Ich bin ohne Sorgen, meine Bank hält sich!“ Da klopft ihm ein Freund auf die Schulter: „Weißt Du die Neuigkeit? Die — Bank ist gebrochen!“ — Der Teufel! Ist's so?“ - und fort eilt der kaum noch so Zuversichtliche mit angstzerstörter Miene, um selbst die Wahrheit an der verflossenen Türe des Bankhauses zu erproben. Nach dem Schauplatze dieser Geldtragödie strömte von Tag zu Tag in größerer Masse die Bevölkerung aller Teile der Stadt. Die „downtown“ füllte sich mit Tausenden und abermals Tausenden und hinauf bis zum Broadway schlug die Brandung dieses aufgeregten Menschenozeans, Diskussionen und förmliche Reden, Ausrufe der Erbitterung und des Schreckens, aber auch Ausbrüche grimmigen Spottes, höhnenden Witzen, selbst des muntern Scherzes ertönten. Die Komödie des Menschenlebens führte in Wallstreet eine ihrer interessantesten, reichsten Szenen auf.

Aber nicht für den speziellen Kreis der Handels- und Finanzwelt allein kam die Störung, die peinliche Verlegenheit, die Angst, das Elend. Die ganze Bevölkerung war plötzlich in die Kluft der Krisis gestürzt. Die Geschäfte stockten, die Fabriken und Werkstätten wurden geschlossen, und elftausend Arbeiter treiben sich bereits erwerbslos auf den Straßen umher, Die Verzweiflung hat schon ein Opfer erhalten. Ein unglückliches Nähmädchen, das die Türe ihres Geschäftslokals verschlossen fand, eilte nach Hause und schnitt sich den Hals ab. Überraschen darf dieser Akt der Verzweiflung nicht, denn Hoffnung auf Hilfe kann hier der Unglückliche nur selten erhalten. Vergessen und unbejammert mag er den Hungertod sterben. Es fehlt nicht an fühlenden Herzen und mildtätigen Händen, aber die Metropolis ist groß und das Elend ungeheuer. — „Der Winter wird schwer werden. Die Verzweiflung wird zu Raub und Mord treiben. Niemand wird es wagen, bei Nacht auf der Straße zu sein,“ — Diese düstere Prophezeiung geht jetzt von Mund zu Munde und die Erfüllung wird nicht fehlen, „Wir werden morden und rauben müssen!“ — so hörte man eine verzweiflungswütige Isländerin ausrufen, — „denn wir können doch nicht mit unsern Kindern vor Hunger sterben!“

Arm war plötzlich ein Jeder geworden, denn der Dämon der Krisis hatte das Geld in der Tasche und in dem Koffer plötzlich in ein wertloses, schmutziges Papier verwandelt. Mit dem Bruch der ersten Banken hörte das Vertrauen in das Papiergeld auf. Niemand wusste mehr, ob er mit dem, was er bei sich trug, nur sein Mittagessen zahlen konnte. Massenweise drängte man sich daher nach den Anschlagbrettern der Zeitungen, um zu erfahren, welche Bank wieder gebrochen sei, und eifrig schrieb man die gestürzten in das Taschenbuch ein. Bald aber trat eine Literatur der Umstände hervor. Listen der gebrochenen Banken wurden in den Straßen zum Verkauf ausgerufen und täglich, stündlich gewannen dieselben eine drohendere Länge; bald rief die gellende Stimme des Zeitungsjungen: Hundert Banken gebrochen! — und mehr und mehr noch mit jedem Tage. Die Panik brach aus und der Sturm auf die Stadtbanken begann. Tausende und Tausende drängten sich mit dem unsicheren Papiere heran. Es bedurfte der Polizei, um etwas Ordnung in dies ungeheure Gewühl zu bringen, aber rühmlich für die Masse in solcher Aufregung, nirgends kam es zu Gewalttätigkeiten. Die Sparkassen besonders, denen der Arbeiter seinen Verdienst anvertraut hatte, boten Szenen der angstvollsten Aufregung dar. Bis weit hin vor den Gebäuden dieser Institute wogte, drängte, summte die ungeheure Menschenmenge, Tausende füllten die inneren Räume, Männer und Frauen und viele von diesen mit ihren Kindern auf den Armen, aber trotz aller Aufregung ging auch die Arbeitermasse zu keiner gewaltsamen Tat über. Mancher sogar, der angstvoll herbeigeeilt war, ließ sein Ersparnis, in den Kassen der Bank und ging vertrauensvoll weg, als er sah, wie ohne Zögerung die zahlreichen Angestellten massenhaft das Geld gegen die eingereichten Pariere hinschoben. Weniger genügend und dennoch beruhigend wirkten auf die ängstlich harrende Menge hier und da die Reden der Bankdirektoren. Die Matrosensparkasse suchte durch einen anschaulicheren Beweis ihrer Zahlfähigkeit Vertrauen einzuflößen und dem Sturme zuvorzukommen. Hohe Säck voll des edlen Metalls, jedenfalls mit der Aufschrift: „Ver. Staaten-Münze“ waren an den Fenstern aufgestellt. Es tat dies seine Wirkung, doch nicht auf Alle. Ein Matrose, dem Jemand Vertrauen zusprach, erwiderte: „Man sagt uns immer, jede Bank sei gut, bis sie endlich bricht. Ich bedarf des Geldes für meine Familie; ich bin entlassen.“ Neben dem Ernst und der Angst trieben aber auch die Laune und der spottende Witz ihr Spiel. An komisch-charakteristischen Szenen fehlte es ebenfalls nicht. Man denke sich z. B. einen kleinen zerlumpten Zeitungsjungen, wie er mit dem vollen Aplomb eines Yankee - Gentleman und Kapitalisten vor den Kassenbeamten einer Sparbank tritt und mit Autorität fragt: „Steht Ihre Bank noch fest? Wenn nicht, so habe ich nicht Lust geschröpft zu werden, wenn es auch alle Andern sind.“ Der Kassenbeamte wollte die Antwort in klingender Münze geben. „Das genügt zwischen Gentlemen,“ — war die würdevolle Einrede und mit noblem Anstand entfernte sich der zerlumpte Kapitalist und ließ sein Kapital — zweiundvierzig Cents (etwa ein Gulden) — vertrauensvoll in der Bank.

Für Taschendiebe und Gauner waren dies reiche Erntetage. Mancher, der nur in Sorgen darüber war, wie er den zurückerhaltenen Schatz sicher aufbewahren sollte, fand sich, ehe er nach Hause kam, durch ein Mitglied dieser ehrenwerten Gilde aus der Verlegenheit gezogen.

Als ein Beispiel, wie der Sturm dieser Krisis die kolossalsten Vermögen zerstäubte, diene Folgendes: Vor wenigen Monaten wurde der Partner eines hiesigen Handelshauses in eine Irrenanstalt gebracht. Das allzugroße Glück des Geschäftes hatte ihn um den Verstand gebracht. Im Laufe des vergangenen Jahres hatte die Firma einen Gewinn von l.300.000 Dollars gemacht. Dieses Opfer des Glücks starb im Irrenhause; sein Nachlass betrug 2.500.000 Dollars. Jetzt ist die Firma bankrott und soll vollkommen insolvent sein.

Während der Orkan der Krisis die aufgeregte Menschenflut nach dem Geschäftsteil der Stadt trieb und dort herumpeitschte, boten die elegante fünfte Avenue und der fashionable Broadway den gewöhnlichen Anblick des prunkenden Luxus, des bunten Treibens, den Schein der ungetrübten Prosperität dar. Hörte man die rauschende Musik, hinter welcher die zahlreichen Schützengesellschaften zum jährlichen Festschießen auszogen, so hätte man nicht ahnen können, dass die Fabriken geschlossen und diese so froh ausziehenden Arbeiter brotlos sind. Ein hiesiges Blatt berechnet, dass dreizehn dieser Gesellschaften bereits zusammen fünftausend Dollars für dieses Kriegsspiel ausgaben, so dass, folgen trotz der harten Zeit die übrigen diesem leichtsinnigen Beispiele, eine Summe von wenigstens fünfzigtausend Dollars von den Arbeitern diesem einzigen Vergnügen geopfert wird. Oben wie unten: Sorgen oder Elend zu Hause, Vergnügen und Luxus draußen.

Wie aber die Ladies, die wirklichen Herrinnen der amerikanischen Lords of Creation, in dieser Krisis sich bewähren, ist eine delikate Frage. Zwischen Schmeichelei und Verleumdung führt ein enger, schlüpfriger Pfad. Darf man den strengen Anklägern glauben, so fährt die Mehrheit derselben fort, mit leichtsinniger Teilnahmslosigkeit für die Sorgen der Männer den Weg des Luxus und der Verschwendung zu wandeln. Doch auf einzelne Fälle soll kein allgemeines Urteil gestützt werden; in das Innere der Familien fällt nicht genug der Blick der Beobachters, auch trägt der Amerikaner gleich dem Engländer die Sorgen tief verschlossen in der eigenen Brust. Die Öffentlichkeit aber gewährt jetzt neben dem Aufstande der Männer, die zur Rettung ihres Geldes die Banken stürmen, die massenhafte Erhebung der Ladies, welche zum Ankauf der Modewaren mit gleicher Heftigkeit die Kaufläden belagern. Zur Abwehr der beängstigten Männer vor den Banken bedurfte es der Polizei, zur Abwehr der kauflustigen Ladies bedarf es ihrer jetzt noch mehr. — „Schuldvoller Leichtsinn! Empörende Verschwendung!“ — ruft man da wohl mit Entrüstung aus. „Weise Vorsicht, wohlberechnete Sparsamkeit,“ sagen aber die Ladies. Die Geldnot hat die Großhändler gezwungen, zum Detailverkauf sich herabzulassen und durch billige Preise den überfüllten Raum zu leeren. Die Spekulation gelang und so hat New York jetzt, Dank der Ladies, wenigstens einen blühenden Handelszweig.

Unterdessen sehen mit angstvollen Blicken die Männer in die unberechenbare Zukunft. Es liegt jetzt auf der Handelswelt eine stumpfe Apathie, die Ruhe der Ergebung in das schwere Schicksal. Die Presse spricht von der Energie und Elastizität des amerikanischen Charakters, und verkündet die baldige Wiederbelebung des toten Handelskörpers — aber es fehlt nicht an Leuten, welche glauben, dass das Grab noch tiefer sich für ihn herabsenken werde. Jahre werden jedenfalls vergehen, ehe die Vereinigten Staaten und ihre stolze Handelsmetropolis wieder in dem vergangenen Glänze ihres Reichtums und ihrer Größe sich erheben werden.

Wie kam es aber, dass der kühne, prunkende Bau der amerikanischen Handels- und Finanzwelt, dessen das eigene Land so stolz sich rühmt und den aus der Ferne die fremden Nationen so bewunderungsvoll anstaunten, plötzlich unter einem Schlage in Trümmer fiel? — Diese Frage gründlich zu erforschen und ausführlich zu beantworten, ist hier nicht der Ort. Nach der Schilderung des Ruins ist es aber Pflicht, die Ursachen desselben wenigstens in genügender Allgemeinheit anzudeuten.

Der trügende Genius des maßlosen Vertrauens hatte das stolze Gebäude aufgeführt, der rächende Dämon des allgemeinen Misstrauens hat es niedergerissen. Nicht auf dem festen Boden der Realität der sichern Arbeit, sondern auf dem Flusssand der Spekulation, des Schwindels hatte es sich erhoben. Die erste Woge der andrängenden Krisis musste es wegschwemmen. Mit unbändiger Hast ausführen, um rasch und unmittelbar den Erfolg zu genießen, nicht dem Baume Zeit und Pflege zum natürlichen Hervorbringen der Frucht zu geben, sondern dieselbe zur künstlichen Reife zu treiben, das ist der Charakterzug des Amerikaners. Vereint mit dem allgemein herrschenden Geiste der modernen Industrie musste er zu den Resultaten führen, welche vor einem Augenblicke noch als scheinbarer Triumph weithin glänzten und jetzt Elend und Bestürzung von Land zu Land senden. Was in Europa in kleinerem Maßstabe geschah und folgen wird, das hat man hier in Riesengröße. Die allgemein bekannten Ursachen einer solchen Krisis findet man daher auch hier, aber in kolossalem Umfang; unter den eigentümlichen aber müssen vor Allem folgende zwei Hauptpunkte hervorgehoben werden, Amerika lebt, schafft und spekuliert auf Borg von Europa. — „Die Nationalverschuldung gegen Europa liegt der Finanzkrisis zu Grunde. Als ein Volk schulden wir für die Eisenbahnen, auf denen wir fahren, für die Kleider, die wir tragen, für die Gerätschaften, Möbel und die Luxusartikel, mit denen wir unsre Häuser füllen.“ — So spricht ein hiesiges Blatt und fügt hinzu: „Hätte Europa den Eisenbahnunternehmungen hundert Millionen mehr leihen sollen, so würde noch ein Jahr gewonnen worden sein.“ Statt aber neue Kapitalien nach Amerika zu senden, sucht Europa jetzt die angelegten zu realisieren und zurückzubringen auf den eigenen Boden, der nun auch eine reiche Zinsernte verspricht. Dies wirkte gleich einer Luftpumpe auf die Finanzatmosphäre; es gab einen leeren Raum, in dem das Geschäftsleben ersterben musste.

Europa wird jetzt ein tobendes Zorn- und Jammergeschrei erheben über den Leichtsinn und die Unredlichkeit der amerikanischen Spekulation. Eine ungeheure Reaktion wird dort ausbrechen. Die Geldsucher des alten Kontinents sollen aber bedenken, dass der hohe Gewinn, für den sie ihre Kapitalien auf amerikanischem Boden aussäten, nicht bloß der Sonne des Glücks, sondern auch allen Stürmen des rücksichtslosen Wagnisses des amerikanischen Geistes ausgesetzt war. Die kolossalen Zinsen, welche sie verlangten, mussten zu einem kolossalen Risiko führen. Beides mussten sie mit in den Kauf nehmen. Das Eine ohne das Andere zu wollen, bewiese nur für kindliche Naivität oder noch größere Gier als die der Amerikaner. Diese nehmen wenigstens jetzt die Strafe für die begangenen Sünden, wenn auch nur mit augenblicklicher Demut, hin. Den Klagen und Vorwürfen der Europäer antworten sie aber kalt und bestimmt — selbst wenn dieselben von fürstlichen Spekulanten kommen. „Se. Durchlaucht sind sehr ungehalten über das Fallen der Stocks“ — berichtete neulich der Agent eines kleinen deutschen Herrschers. „Se. Durchlaucht werden jetzt noch ungehaltener sein,“ antwortete ruhig der Amerikaner.
Aber nicht nur fließt das fremde Geld zurück nach Europa, Amerika hat selbst Millionen dahin zu senden für die ungeheure Masse der erhaltenen Produkte. Maßlos, unerhört war hier der Verbrauch mehr noch des Überflüssigen als des Nötigen. Luxus, Genusssucht, Übertreibung in Allem, in Geschäften wie in Vergnügungen, Verzehnfachung aller europäischen Ausschweifungen und Albernheiten — dies war das Leben der Amerikaner. Die junge Republik lag als gieriger Gargantua an den Ufern des Ozeans und verschlang unersättlich die kostbarsten Produkte, welche das alte Europa kaum massenhaft und rasch genug ihm senden konnte. An die Stunde der Zahlung dachte der „junge Riese“ während dieser Schwelgerei nicht. Sie ist aber gekommen, und nie folgt einem Rausche ein schrecklicherer Katzenjammer. An Reue und Gram, an Bußpredigten und guten Vorsätzen fehlt es jetzt nicht. Ein allgemeines Mea culpa ertönt in dem Lande und demütig beichtet die Nation ihre Sünden. „Das Betrugsystem, die Schlauheit (die bekannte Smartness), welche jetzt das Prinzip alles Handelns von oben bis unten sind, müssen ausgerottet werden. Sittliche Vervollkommnung muss die Nation zurückführen auf den alleinigen Boden aller Unternehmungen. Die Tugenden: Mäßigung, Einschränkung, Einfachheit und Redlichkeit müssen an die Stelle unsrer Laster treten.“ So ruft jetzt die Presse und die Kanzel. Eine Nation kann wie ein Individuum unter der Strafe für begangene Sünden solche Tugendanwandlung haben, hier ist sie aber eben so stürmisch, als der frevelnde Taumel es gewesen war. Wird der „junge Riese“ sich bessern? Darf man es hoffen? — Schon andre Jugendsünden hat er eben so bereut, Neuerung versprochen und trotzdem doch überlassen wir den reuigen und bestraften Sünder der Sorge seiner geistlichen und weltlichen Prediger.

Die zweite Hauptursache der Krisis ist unverkennbar die übermäßige Zirkulation von Banknoten; sie erzeugte die kolossale Übertreibung des Handels, der Unternehmungen, der Spekulation, den eingebildeten ungeheuren Gewinn, die Ausschweifung im ganzen Leben der Nation und die übertriebenen Preise aller Bedürfnisse. In den Hunderten von Banken besaß Amerika eine Mine, gegen die Kalifornien nur Armut war. Jetzt aber verlangt Europa Geld, und nicht Papier; es bedarf nach einer guten Ernte weniger von den Produkten Amerikas und will dafür nicht die früheren hohen Preise zahlen. Mit der Stunde der Zahlung, musste daher die Not kommen. Trotz des Scheins von Reichtum, ja selbst trotz des wirklich unendlich vermehrten Nationalbesitzes ist Amerika arm, insolvent. „Insolvenz,“ sagt die Tribüne, „gehört zu den Charakterzügen der amerikanischen Nation,“ In Boston, erklärte General Dearton, der zwanzig Jahre Hafenkollektor da war, seien von hundert Kaufleuten nur drei zu einer unabhängigen Vermögensstellung gekommen. Im Jahre 1800 hatte ein Antiquar eine Notiz der Handelshäuser am Long Wbarf gemacht: im Jahre 1840 blieben nur fünf aufs Hundert davon übrig. Die Andern waren bankrott geworden. Aus einer Nachforschung in den Akten des Verlassenschaftsgerichts ergibt es sich, daß 90 % der Erbschaftsmassen insolvent sind. Das Bankrottgesetz von 1841 entlastete dreiunddreißigtausend Kaufleute, welche in ihren Petitionen mehr als eine Million Kreditoren angegeben hatten. Der Gesamtschuldenbetrag war auf 440.934.615 Dollars angegeben, in der Tat aber war er bedeutend höher. — Diese Schilderung der Zustände bei der Krisis von 1837 gibt jetzt in kleinem Maßstäbe das Bild der gegenwärtigen. — Extravaganz und Insolvenz! Bedarf es einer weiteren Forschung nach den Ursachen des ungeheuren Kataklysmus?

Als eine schwere Last fiel in die Wagschale der Handels und der Finanzen die Zahlungsunfähigkeit des Westens. Statt das Geld der Urbarmachung des Bodens zu widmen und durch reelle Arbeit sichern Reichtum zu schaffen, haben die neuen Ansiedler es zum Spiel mit Baulosen von Papierstädten und mit Aktien chimärischer Eisenbahnen verwendet. Aus dem jungen Boden war der Schwindel als riesenhafte Pflanze emporgeschossen, Reichtümer erzeugte er nur in der Einbildung, Schulden aber in der Wirklichkeit, von Osten her musste ihm Nahrung für den ungeheuren Luxus in Masse kommen: am Zahlungstage befand sich daher der Westen den Küstenstädten, wie ganz Amerika Europa gegenüber insolvent. Nicht einmal Geld genug ist vorhanden, um die reiche Ernte aus dem Westen nach den Häfen zu bringen, um sie in Europa zu verwerten.

So steht Amerika mitten in dem wirklichen Reichtum der Natur umgeben von den Trümmern seines Trugbildes arm, rat- und hilflos da, —

An Reformplänen fehlt es nicht. Zwei Gedanken besonders treten hervor: Einführung von Schutzzöllen und Organisation des Bankwesens durch den Kongress.

Eine Handels- und Finanzreform könnte wohl die Folge der gegenwärtigen Krisis sein, — Wird dieselbe das richtige Mittel sein? Wird der Amerikaner belehrt, weiser und mäßiger in seinen Unternehmungen und Genüssen werden, oder wird er sich, gleich dem Indianer mit einer Wildheit auf das frische Pferd schwingen, um es auch über die grenzenlose Ebene der Spekulation tot zu reiten?
New York - Kreuzung Fünfte Straße

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New York - Hafen 1

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New York - Hafen

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