Freiheit und Verantwortlichkeit

Von August Lammers.

Seit einigen Jahren bekanntlich wirft das ziemlich einhellige Urteil der wirtschaftlichen Tagesschriftsteller den Leitern des Hamburger Freihandelsvereins vor, dass sie von der hohen Warte, auf welcher sie früher gewissermaßen für das ganze der Befreiung bedürfende Deutschland Wache standen, freiwillig und ohne Not herabgetreten seien, um ihre durch Übung gestählte Kraft in dem kleinen örtlichen Kriege gegen den Stader Zoll und die Hamburger Accise und Torsperre zu verzetteln. Sei es aus was immer für Gründen, genug, die Angegriffenen haben sich öffentlich kaum gegen diesen Vorwurf verteidigt. Aber wenn sie etwa meinten, für ihr feste Anhänglichkeit an die Freihandelssache hinlänglich bekannt zu sein, um keiner Abwehr selbst gegen so ernste Angriffe zu bedürfen, so haben sie jedenfalls schlecht vorhergesehen, was aus dieser Treue in der schweren Stunde der Not werden würde. Als im verwichenen Herbst die Krämpfe der amerikanischen Vertrauensstörung von England aus auch Deutschland, und stärker als irgend einen andern Platz Hamburg ergriffen, ist die dortige Freihandelspartei, als ein Ganzes genommen, auf der untrüglichen Wage der Grundsätze gewogen und zu leicht befunden worden.


Sie hat, zwar nicht als Freihandelsverein, aber doch als einflussreichster Bestandteil der Kommerzdeputation, der Börse, und vielleicht auch der Erbgesessenen Bürgerschaft ihre Macht im Staate gemissbraucht, um den unwiderstehlichen Schild der Staatsgewalt zwischen Kaufleute, die falsch gerechnet, leichtsinnig vertraut, halsbrecherisch gewagt hatten, und die natürliche Folge dieser Irrtümer zu dringen. Die augenblickliche Geschäftsnot hat sie dadurch verschärft und unnötiger Weise verlängert; die Strafe von den Schuldigen auf Unschuldige hinübergewälzt. Aber was schlimmer ist, sie ist von Grundsätzen abgefallen, welche so fest stehen sollten wie die Heiligkeit der zehn Gebote, weil ihr Bruch die besten Bürgschaften hinwegnimmt, dass Tollkühnheit, Leichtsinn und grobe Rechnungsfehler aus dem Großhandel immer sehr verschwinden.

Losgelöst von dem verwirrenden Wust der Einzelheiten sind die vielbesprochenen Vorgänge in Hamburg kurz vor Weihnachten 1857 unschwer zu begreifen. Auf der einen Seite hat man mehr oder minder allgemein in der herkömmlichen Vorsicht beim Wechselverkehr nachgelassen, Hamburg hat keine Kreditpapiere als Zahlungsmittel im Gebrauch; sobald daher eine ungemeine Steigerung des Handels seit dem Pariser Frieden von 1856 mehr Zahlungsmittel erheischte, verfiel man dort zunächst auf Benutzung des Wechsels als eines solchen, was dann seinerseits wieder die Ursache mancher Geschäfte wurde, die nicht abzuschließen gewesen wären, hätten sie mit edlem Metall oder Banknoten ausgeglichen werden müssen. Alle Keime von Gefahr, die im Wechsel stecken, sind bei dieser Gelegenheit in Hamburg und seinen Nordischen Hinterländern zu üppiger Entwicklung ausgeschlagen. Es hat sich ein für allemal ergeben, dass Banknoten nicht bedenklicher sind als Wechsel; oder vielmehr, dass überhaupt nicht in dem zufälligen Mittel des Vertrauensmissbrauchs, sondern in diesem selbst das Übel und die Gefahr steckt. Man ließ sich hinreißen von dem allgemeinen Fieber der Gewerbssucht; man traute Unternehmungen, die nicht an und für sich, die nur in dem herrschenden Hoffnungstaumel eine Grundlage des Erfolgs besaßen; man setzte seine Unterschrift auf Wechsel, ohne der Fähigkeit, sie beim Verfall einzulösen, gewiss zu sein, zumal wenn man nicht zu eigner Zahlung zeichnete, sondern nur um das Papier umlaufsfähiger zu machen, nach dem Sprichwort „eine Hand wäscht die andere.“ Der zweifache Mangel an Öffentlichkeit, dass weder die Bank ihre Silberbestände, noch das Stempelamt die Zahl und Summe der gestempelten Wechsel je bekannt macht, steigerte diese Stimmung zur äußersten Gefahr, denn er verhinderte, dass das bald vorhandene und rasch wachsende Missverhältnis zwischen Sollen und Können bei Zeiten zur Besonnenheit ermahnte.

Auf der andern Seite traf mit dem allgemeinen Vertrauensmissbrauch gar unheilvoll ein Irrtum gewisser großer Häuser, die von ihren Freunden gern für Ecksteine der Hamburger Börse ausgegeben werden, hinsichtlich der Entwicklung der Preise zusammen. Gleichviel aus was für Ursachen, bauten sie auch nach dem furchtbaren Ausbruch der Krankheit in New York und London blind auf hochbleibende oder gar aus höhersteigende Preise. Deshalb kauften sie über ihre eignen Kräfte auf und sperrten so lange als irgend möglich ein. Ihre Berichte wunderten sich allwöchentlich von Neuem, dass die Käufer noch immer nicht williger wurden; ohne in Betracht zu ziehen, dass rechts und links an den wetteifernden Marktplätzen grade die Verkäufer es waren, welche von den stehenden Sätzen immer bereitwilliger nachließen. Wie viel Kaffee, Öl und Fischbein auch über Hamburg seinen Weg zum letzten Verbraucher nehmen mag, so sollte Hamburg einmal die empfindliche Erfahrung machen, dass sich anderswo auch handeln lasse.

Dieser falsche Weg ließ sich indes verfolgen, so lange mit neuen Wechseln die fälligen zu bezahlen waren; so lange Vertrauen herrschte. Aber nun kam der Stoß über die See herüber, der alle morschen und faulen Zustände von Grund auf erschüttern sollte. Das übertriebene Vertrauen schwand und schlug eilends in ebenso ungemessenes Misstrauen um. Jeder, der aus irgend einem Grunde später fällige Zahlungsverbindlichkeiten ausstehen hatte, zog nach besten Kräften das an sich, was auf alle Fälle wirklich zählt: bares Geld; oder was in Hamburg dasselbe ist, Guthaben an den Silberbarren der alten Bank. Deswegen konnten diejenigen, die sich für die ungestörte Fortsetzung ihrer Wareneinsperrung auf ihr bisher so allgemeines Vertrauen verlassen hatten, für fernere Wechsel bald keine Nehmer mehr finden. Und da sie für die Einlösung der eben fälligen Wechsel nichts als diese neuen Wechsel oder die aufgekauften Waren hatten, so war für sie der Tag der äußersten Verlegenheit erschienen. In diesem verzweifelten Augenblick verlangten und erhielten sie Hilfe vom Staat. Die gesetzliche Allmacht wurde angewandt, welche Senat und Bürgerschaft innehaben, um sie von der Notwendigkeit zu befreien, eine verkehrte Spekulation fallen zu lassen, und je nach dem Erlös der aufgespeicherten Warenmassen entweder ihr Vermögen ihren Gläubigern abzutreten, oder doch anstatt erträumten Gewinns einen Verlust ins Buch zu schreiben. Sie setzten also gleichsam mit hoher obrigkeitlicher Bewilligung die verkehrte Spekulation fort. Sie schoben das einzige Heilverfahren hinaus, das der örtlichen Krankheit ein Ende machen konnte: Unterwerfung unter die Gebote des Marktes; Scheidung dessen, was unhaltbar, von dem, was sich aus eignen Kräften noch halten mochte.

Für die Beurteilung dieser Art, den Staat zum Arzt in wirtschaftlichen Krankheiten zu stempeln, ist es ziemlich einerlei, zu wissen, ob die Staatskasse schließlich zu kurz, oder aber wieder zu ihrem Gelde kommen wird. Soviel ist gewiss, dass sie die Heilung verzögert, dem kaufmännischen Vertrauen des Auslandes auf Hamburg einen schwereren Stoß als die Störung selbst gegeben, und die Verantwortung für grobe Irrtümer von den Schuldigen auf zahlreiche Unschuldige abgewälzt hat. Die Verzögerung der Heilung jedoch wird nicht ins Unendliche auslaufen, und für die Wiederherstellung des Hamburger Kredits zu sorgen, mag denen überlassen bleiben, die ihn vor der Hand beschädigt haben. Allein was noch lange unerfreulich nachwirken und der Zukunft das übelste Beispiel geben wird, das ist die Aufhebung der persönlichen Verantwortlichkeit durch die Gewalt. Eine Einmischung in die natürlichen Wirkungen der Freiheit von Staatswegen ist unsers Erachtens nach schlimmer als eine Einmischung in die Freiheit selbst. Wenn einem Einzelnen oder einer bevorzugten Gruppe von Einzelnen von den Folgen seiner unabhängigen Selbstbestimmung lediglich die guten gegönnt, die bösen aber alsbald auf Andere übertragen werten, so wird das Gemeinwesen rasch die bittersten Früchte zu kosten bekommen. Der Erfolg dieser höchst unzeitigen Übung des Gnadenrechts — wenn ein solches Recht überhaupt besteht — kann nur gleich demjenigen einer Prinzenerziehung sein, in welcher ein Prügelknabe als Sündenbock für die schlechten Streiche des hochgeborenen Zöglings mitspielt. Unter diesem gedankenlosen Verfahren kann die Freiheit nur die schädlichen Kräfte im Menschen zu voller Entwicklung bringen: denn das, was am sichersten den Irrtum verbessert und den bösen Trieb bändigt, die Erfahrung der notwendigen Wirkungen, wird für ten Täter aufgehoben, und ohne einen Schatten von Recht auf Unbeteiligte abgelenkt zu werden. Zu der Entfesselung der schlimmen Begierden in den Einen gesellt sich so das drückende und aufregende Gefühl ungerechter Bestrafung in den Andern. Wahrhaftig Grund genug, dass der Staat dergleichen nicht tue, dessen heiligste und unbestrittenste Aufgabe grade die Aufrechterhaltung der Gerechtigkeit ist.

Auch wird jede folgende wirtschaftliche Krankheit durch die Einmischung des Staats in die augenblicklich wütende unvermeidlich verschlimmert. Sobald der große Spekulant sich für die letzten Notfälle auf den Staat verlassen zu können wähnt, wird er noch leichtsinniger als sonst zu Werke gehen und selbst von irrigen Berechnungen der Entwicklung der Preise nicht zu rechter Zeit zurückkommen. Zu seiner eignen Kraft, den Markt zu beherrschen und den Preis zu lenken, zählt er nun ja noch die gesamte Kraft des Staats hinzu, über die er vermöge seiner Würde als „Eckpfeiler der Börse“ verfügt, eine Kraft, die im gemeinen Leben schlechthin für unerschöpflich gehalten zu werden pflegt. Welch' eine Förderung des Leichtsinns, des Hochmuts, und jeder eiteln Einbildung! Wüsste jeder Wagehals, dass er in den Augenblicken der Bedrängnis so gut wie in denen des Glücks lediglich für sich selber einzustehen hat, dass für ihn der Bankrott so gut am Ausgang schlechter Spekulationen steht wie für jeden Andern, so würde er sich sorgfältiger hüten, schlecht zu spekulieren. Der Handel würde durchweg solider sein; und träte doch einmal eine krankhafte Vertrauenssucht mit hitzigem Ausgang ein, so würde sie mindestens rasch vorübergehen und nur die innerlich kranken Konstitutionen aus der Mitte der gesunden scheiden.

Was aber hindert denn, dass im Geiste selbst des verwegensten Geschäftsmannes die unwiderstehlichen Gebote des Marktes auf der einen und die klaren Forderungen der Gerechtigkeit auf der andern Seite niemals noch so vorübergehend verdunkelt werden können? Der Mangel rechtzeitiger Einprägung. Wäre der Kaufmann schon in der Schule gelehrt worden, im Tausch der Menschen Naturgesetze walten zu sehen anstatt des scheinbaren Spieles von Zufall und Willkür, so würde er selbst in den peinlichen Augenblicken der Not nicht an die ebenso unmögliche wie unrechtmäßige Rettung durch den Staat denken. Er würde sich einfach eines Schicksal unterwerfen, das nichts als die notwendige Wirkung seiner Irrtümer ist. So geschieht es auch unter gewöhnlichen Umständen überall: in Hamburg nicht anders als in Berlin, Braunschweig und Königslutter. Schon hieraus sollte man entnehmen, wie wenig es im Rechte oder irgend einer wahren Nützlichkeit begründet ist, wenn für Zeiten allgemeiner Erkrankung Ausnahmerechte gefordert und gegeben werden. Aus der Sache sind sie nicht als rechtmäßig darzustellen. Sie lassen sich nur eben als verlangt und bewilligt erklären, weil Hamburg nach dem landläufigen Ausdruck „ein handeltreibender Staat“ ist. Indessen dieser landläufige Ausdruck entbehrt jeglichen Gehalts von Wahrheit. Es gibt so wenig handeltreibende Staaten als es rechtsprechende Schiffe gibt. Ein Schiff kann einmal, namentlich wenn es Seeräubern gehört, seine eigene Gerichtsbarkeit besitzen; ein Staat kann zufälligen Handel treiben, wenn bei seiner Entstehung aus der mittelalterlichen Gesellschaft etwas Eigentum in der Gestalt von Bergwerken oder Salinen an ihm hängen geblieben ist. Aber ihrer Idee nach leisten Staaten Sicherheit und befördern Schiffe den Verkehr auf dem Wasser. Auch in Hamburg und Bremen treibt der Staat keinen Handel, wie er in Hannover bei Lichte besehen keinen Ackerbau treibt; und es ist nur die leider noch so verbreitete Verwechslung des Begriffs Staat mit dem alles umfassenden Begriff Gesellschaft, was Manchen verführt, dem Staat eine Eigenschaft beizulegen, die nur einer Mehrheit seiner Mitglieder zukommt. Man scheide im öffentlichen Bewusstein diese beiden Begrifft, und die Mitglieder der mündig gesprochenen Gesellschaft werden aufhören, bei jedem außerordentlichen Unglücksfalle den Staat um Hilfe anzurufen. Man entferne auf der einen Seite den Aberglauben, dass der Staat eine Art niedrer Vorsehung mit Trost für jeden Unfall sei, man erleichtere auf der andern die Erklärung der wirtschaftlichen Störungen — mit einem Wort: man mache die Wirtschaftslehre zu einem Stück des öffentlichen Unterrichts, so werden in der Verkehrswelt Krankheiten weniger häufig eintreten und ungleich vernünftiger behandelt werden. Denn die Wirtschaftslehre setzt nicht bloß an das Ende aller ihrer Gedankenreihen die große Forderung der Freiheit; sie hat zur Voraussetzung dieser Entwicklung auch jene vollkommene Verantwortlichkeit des Einzelwesens für seine Handlungen, ohne die in des Menschen Seele kein Aufsteigen vom Irrtum zur Wahrheit ist.
Hamburg, Blick auf die Unterelbe

Hamburg, Blick auf die Unterelbe

Hamburg, Flet in der Altstadt

Hamburg, Flet in der Altstadt

Bremen Marktplatz

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Hamburger Baumwollbörse

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Hamburger Börse

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Bremer Rathaus

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Lagerhäuser im Hamburger Freihafen

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Hamburger Hafenbilder

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