Die Geldkrise 1857

Die wirtschaftliche Existenz der Völker bildet nicht minder als die politische einen Organismus für sich, der, wie Alles was dem Leben angehört, gewisse Phasen durchzumachen hat, die dem befangenen Blick der Gegenwart bald als Förderungen, bald als Hemmnisse erscheinen, in ihrem geschichtlichen Zusammenhang betrachtet, sich aber stets als naturgemäße Entwickelungsstufen darstellen werden. Auch die gegenwärtige Krisis des gesammten Geschäftslebens, von der wir in unseren Übersichten schon mehrfach zu reden Gelegenheit hatten und die in dem Augenblick, wo wir dieses schreiben, noch immer nicht ihren Kulminationspunkt erreicht zu haben scheint, ist unzweifelhaft nur eine solche Entwickelungsphase, jenen krankhaften Zuständen vergleichbar, die in den Übergangsperioden der verschiedenen Lebensalter kaum jemals dem menschlichen Körper erspart werden. Handel und Industrie haben durch die riesenhafte Ausdehnung des Verkehrswesens, durch das Hereinziehen einer ganzen Reihe ehemals unbeachteter Länder und Völker in das Kulturleben und durch eine wesentliche Umgestaltung der Geldwirtschaft einen mächtigen Aufschwung erfahren, der sie in neue Bahnen gedrängt und ihnen so viele neue Grundlagen und Bedingungen geschaffen hat, dass wir das Zusammenwirken aller dieser Verhältnisse mit vollem Recht als eine neue Epoche bezeichnen dürfen.

Gewaltig gährte in den letzten Jahren die frische Lebenskraft in dem wiederverjüngten Körper. Gleich Blüten des Frühlings sprossen Tausende von kleinen und großen Unternehmungen hervor; Millionen neuer Werte schossen auf und hingen sich bald wie unbequeme Schlingpflanzen an die atemlos arbeitenden Börsen; kolossale Vermögen wurden über Nacht gewonnen und glückliche Erfolge kühner Spekulationslust, oft selbst gedankenlosen Zutappens, reizten zu immer verwegenerem Unterfangen. Aber die Blüten des Frühlings reifen nicht alle zur Frucht! Erst wenn die Nachtfröste und die Stürme über die prangenden Äste dahingefahren sind und ihre verderbliche Ernte gehalten haben, kann der Gärtner den Segen des künftigen Herbstes bemessen. Was aus dieser strengen Sichtung lebend hervorgegangen, wird auch ferner des Daseins sich freuen dürfen, und was zerbrochen und herabgeweht den Rasen bedeckt, hat — wie sehr wir dessen Verlust auch bedauern — durch seine Ausscheidung jenem kräftigeren Teil nur den nötigen Raum zu gedeihlicher Entwicklung verschafft. Die gegenwärtige Krisis ist nichts Anderes als ein solcher Frühlingssturm, der reinigend und sichtend das ganze Gebiet kommerzieller und industrieller Tätigkeit durchbraust, jener verderblichen Überspannung der Kräfte ein Ende macht, das Abenteuerliche verweht, das Problematische in die Grenzen des Möglichen zurückweist, dem wahrhaft Lebensfähigen aber Licht und Lust verschafft und nebenbei den Prinzipien der neuen Epoche rasch die erforderliche Geltung erzwingt. Das Zerbrechen starker Äste, das Zersplittern ganzer Stämme selbst darf uns nicht irre machen. Auch in Zeiten politischer Stürme leiden Unschuldige mit den Schuldigen. Wie für die Mitglieder einer Familie in Betreff der Familienehre, so besteht auch für ganze Generationen der Menschheit in ethischer Beziehung eine solidarische Verbindlichkeit, der Jeder — schuldig oder nicht — seinen Tribut zu leisten gewärtig sein muss.


Außer dem Verdienst einer säubernden und sichtenden Tätigkeit, ist kritischen Perioden, wie der gegenwärtigen, auch noch die wohltätige Wirkung zuzuerkennen, dass sie scharfe Streiflichter auf die wirtschaftlichen Zustände der Nationen werfen und diese Zustände unverhüllter erkennen lassen, als es in glücklicheren Zeiten möglich ist. Das sind dann die Augenblicke, in welchen allein sich der Grad des nationalen Wohlstandes und die Fortschritte, die derselbe gemacht, mit einiger Zuverlässigkeit berechnen lassen. Was wir in unstet vorigen Übersicht als besonders charakteristisches Moment der Volkswirtschaft hervorgehoben haben, das Streben der Mannigfaltigkeit zur Einheit, das gegenseitige Austauschen erworbener Vorteile, die Teilnahme Aller an den Fortschritten Einzelner, dieses Moment, so günstig es auch in Zeiten des allgemeinen Aufschwungs einwirken muss, wird natürlich beim Eintritt ungünstiger Verhältnisse die schlimmen Folgen dieser letzteren auf nicht minder weite Kreise übertragen. Aber ebenderselbe Umstand macht es auch dem Kulturhistoriker erst möglich, in wirtschaftlicher Beziehung eine Nation mit der andern zu vergleichen. Die gegenwärtige Krise ist zu einer solchen Betrachtung noch nicht reif; wir befinden uns vielmehr noch mitten in derselben. Indes lassen sich doch schon einzelne vorläufige Schlüsse ziehen, zumal in Betreff unsrer nächsten Umgebung. Und da dürfen wir wohl mit lebhafter Befriedigung den erfreulichen Umstand hervorheben, dass trotz der vielverzweigten kommerziellen Beziehungen zu England und Amerika, dem eigentlichen Herd der jetzigen Krisis, die Verhältnisse in Deutschland, bis zur Stunde wenigstens, noch keinen besorglichen Charakter angenommen haben. Das ist jedoch nicht etwa so zu verstehen, als ob der deutsche Handelstand keine Verluste zu tragen hätte. Im Gegenteil, dieselben können nicht anders als sehr bedeutend sein, weil das Geschäft mit jenen Ländern mindestens die Hälfte aller Geschäfte in Deutschland umfasst, aber — was unstreitig viel höher anzuschlagen — es scheint auch, dass die Kraft vorhanden ist, jene Verluste zu tragen, ohne zu unterliegen. Im Vergleich mit andern Ländern ist die Zahl der bis jetzt vorgekommenen Fallissements nur eine verhältnismäßig geringe zu nennen. Mussten die Geldinstitute ihren Wirkungskreis auch beschränken und hier und da zu außergewöhnlichen Vorsichtsmaßregeln im Verkehr greifen, so sind sie doch ihrer Verbindlichkeit überall nachgekommen und einzelne derselben haben sich als treffliche Stützen des Handels bewährt, ohne doch darum so lähmende Restriktionen eintreten zu lassen, wie es die Banken von England und Frankreich (durch Erhöhung ihres Zinsfußes bis zu 10 Prozent) zu tun gezwungen waren. Die Erstattung des nationalen Wohlstandes offenbart sich ferner auch in der eigentümlichen Wahrnehmung, dass bei Weitem mehr Kapitalisten das Sinken der Werte zu fester Kapital-Anlage benutzen, als solches jemals zuvor in einer allgemeinen Krise der Fall war. Selbst amerikanische Papiere, sobald dieselben nur eine solide Grundlage haben, weiden jetzt viel in Deutschland gekauft, obgleich vorauszusehen ist, dass eine lange Zeit vergehen wird, bis dieselben ihren ursprünglichen Wert wieder erreicht haben werden. Was ehemals nur wenige reiche Privatiers oder Häuser ersten Ranges zu unternehmen pflegten, dem ist jetzt eine Menge von Kapitalisten gewachsen, deren Dasein nicht nur eine erfreuliche Ausbreitung des nationalen Wohlstandes bezeugt, sondern auch dafür bürgt, dass der Mangel an Vertrauen, der jede Krise begleitet, diesmal weniger allgemein ist als man erwarten durfte.