Und die Träume der Jugend. Bilanz meines Lebens (geschrieben 1927).

Dies ist wahrlich eine lange und komplizierte Geschichte, und ich sitze nun schon eine Weile da und denke darüber nach, wie ich sie wohl auf engen Raum zusammenpresse. Die lange Geschichte » von mir über mich.«

Ach, das Leben ist lang, aber am längsten sind die ersten siebzehn oder achtzehn Jahre mit alledem, was an Träumen sich darum webt! Noch heute kommt mich ein gelindes Gruseln an, wenn ich an die Dinge denke, die ich damals schon auf elsässischer Erde in Gedanken erlebte; wieviele Abenteuer im Busch, wieviele Nächte am Lagerfeuer, wieviele Stürme auf fernen Meeren !


»O wär es doch! Im Raubschiff der Korsaren. Vorn halt' ich Wache durch die Abendwelten. Klar zum Gefecht! Die Ankerhaken schielen. Und lauernd kauern meine Mordgesellen. –

O wär es doch!«

Und dann ist es später, wenn auch nicht ganz, so doch nicht viel anders geworden.

Daß in Amerika das Leben so war wie bei uns, daß dort die Menschen tagsüber arbeiteten und in Tretmühlen verdorrten und sich abends brav und bürgerlich zu Bette legten, wie anderswo auch, das war die erste große Enttäuschung in meinem jungen Leben. Die Jagd nach dem Abenteuer hatte es mir angetan; in der nach dem Dollar machte ich nur eine traurige Figur. So kam ich mit der Zeit nach Texas, wo ich die erste unliebsame Bekanntschaft mit der Polizei – und sage ich es ohne Umschweife – mit dem Gefängnis machte. Wegen Vagabundierens. Heute, wo ich nichts zu verheimlichen und zu beschönigen habe, kann ich es auf meinen Eid nehmen: Ich war unschuldig. Damals. Aber nachher habe ich es ihnen mit Zinsen herausgegeben.

Zehn Tage dauerte das Martyrium. Dann stand ich wieder auf der Straße, ohne Geld in der Tasche und mit einer Seele voll zitternder Unruhe. In Texas war dicke Luft.

Wohin?

Kalifornien! Ja, das war's!

Ich saß am Straßenrand in der Sonne und dachte darüber nach, wie ich wohl fertig werden wollte mit den dreitausend Meilen, die zwischen mir und dem Lande meiner Sehnsucht lagen und wieviel Geld man wohl brauche für solches Unternehmen. Und wie ich im besten Nachdenken war, kam Mister Hiram Johnson wie eine Vorsehung.

Mister Hiram Johnson war ein farbiger Gentleman mit einem hohen Hut und einem Schwalbenschwanzrock, mit großen, lackglänzenden Augen und Lackschuhen, die keine Absätze mehr hatten.

»Du bist ein großes Grünhorn,« sagte Mister Johnson, »wenn man kein Geld hat, so fährt man eben schwarz.« Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Wir gingen gleich nach dem Güterbahnhof und machten die Probe aufs Exempel.

Von da an ging es kreuz und quer, auf, über und unter der Eisenbahn, in heißen Tagen auf wackligen Güterwagen, in dunkler Nacht zwischen den Rädern der Schnellzüge, bis ich eines Tages nach San Franzisko kam.

Der Instinkt des Wandersmannes trieb mich dort sogleich hinunter zum Hafen, wo eben die damals noch ziemlich große Flotte der Walfischfänger sich zur Ausreise nach dem Eismeer rüstete. Auch damals, wie bisher auf meinen Reisen, war das Geld das wenigste, was ich besaß. Aber wenn ich es noch zehnmal nötiger gehabt hatte, mich umzusehen nach Arbeit und Verdienst, so hätte ich mich doch nicht losreißen können von solchem Anblick. Die schwarzen Segel, die weißen Boote auf den Davits, die wildaussehenden Männer, die Kisten und Fässer, die über die Laufplanken rollten – ah, das war alles Leben und Wirklichkeit meiner Kinderträume! Und dazu der süße Geruch von Teer und Salzwasser, das Rasseln der Krane, das Fluchen der Arbeiter, der Takt der Rosthämmer in der Ferne und der tausendfältige Lärm der geschäftigen Docks. – Wer da wohl mitreisen könnte! Ah, aber wen der Herr verderben will, dem erfüllt er seine Wünsche!

Nicht ein Wort will ich hier erzählen von den drei Jahren im nördlichen Eismeer, von den bösen Menschen und hungrigen Schiffen, von kleinen Booten und großen Walfischen, vom Eis und Schnee und kalter Winternacht und solchen Dingen, die man alle nachlesen kann in meinem Buche »Unter Eskimos und Walfischfängern«.

Eines Tages, als wir noch hart und fest eingefroren waren vor einer Insel an der Nordküste von Alaska, beredete ich die Sache mit einem Eskimo, und so zogen wir bald selbander durch die Eiswüste zum nächsten Fort der Hudson's Bay Compagnie und von dort südwärts auf dem Mackenziefluß und über den Großen Sklavensee, durch die Urwälder des Nordwestterritoriums. Es waren viertausend Kilometer bis zur kanadischen Pazifikbahn, wo dann eben wieder ein Schnellzug parat stand, auf dessen Kohlentender die Reise weiterging nach Vancouver in Britisch-Columbia. Es war Winter in den Rocky Mountains. Die Hände froren mir an die Eisengriffe, an denen ich mich festhielt. Alle Augenblicke ging es durch einen Tunnel, in dem der Rauch in Wolken auf mich eindrang und die kleinen, scharfen Kohlensplitter wie fliegende Messer durch das Dunkel sausten. Wenn ich je eine unangenehme Nacht verbracht habe, so war es hier, auf dem Schnellzugstender in den Rocky Mountains. – – Aber was soll ich nun noch erzählen von mir über mich?

Bei meiner Rückkehr nach San Franzisko war das Wetter warm und schön und die Reiselust groß, zumal ich ja inzwischen das Matrosenhandwerk gelernt hatte und die Welt mir offen stand. »Wie wär's mit einer Reise nach Australien?« meinte ein junger Matrose, den ich kurz zuvor in einer Kneipe kennen lernte. »Meinetwegen,« sagte ich. So musterten wir beide an auf dem englischen Segler »Samoena«, und drei Monate später stand ich auf australischem Boden und überlegte mir, was ich jetzt wohl tun könnte für meinen Lebensunterhalt. Am meisten Interesse hatte ich für die Känguruhjagd. Auch das Goldgraben kam in Frage, oder das Perlenfischen. Aber ich tat das eine und das andere nicht, sondern fuhr nach Hause. Es war eine heiße Reise, als Heizer im Roten Meer, und meine Mutter mochte wohl Ursache gehabt haben, als sie den Kopf schüttelte beim Anblick ihres von Sonne und Heizfeuern verbrannten verlorenen Sohnes: »Na, du siehst aber schön aus!«

Und dann? Ach, die Welt wird kleiner mit jedem Tage! Südamerika schien mir gerade das richtige Land für einen smarten jungen Mann wie mich. Ganz klug wollte ich es diesmal anfangen, ganz verwünscht zielbewußt, wie es sich für einen Menschen von meiner Erfahrung schickte. – Und am Ende sah ich mich wieder auf der Dreschmaschine in der Pampa, als Vagabund in Bolivien, als Anstreicher in Chile und endlich auf der Heimreise als Matrose vor Kap Horn.

Ganz zufrieden kam ich nicht zu Hause an. Ich setzte mich – einmal wenigstens in meinem Leben – auf einen Stuhl und fing an, nachzudenken über die viele verlorene Mühe, über die schönen Jahre, die unwiederbringlich verloren waren, und so manche andere Dinge, über die ich eigentlich schon längst hätte nachdenken sollen.

Ja, was?

Kurt Faber, du bist dumm gewesen! Hättest du all' die Arbeit, die du dir gemacht hast, um der Chimären willen, an etwas Nützliches gewendet, wo wärest du heut?

So fing ich nach all den Jahren dort wieder an, wo ich mit sechzehn aufgehört hatte, und setzte mich noch einmal auf die Schulbank und war ein halbes Jahr später Abiturient der Oberrealschule und nach vier Semestern Doktor der Staatswissenschaften und schrieb nebenher die Bücher meiner Abenteuer. Und dann –

Nein, der Kopf raucht mir ein wenig, wenn ich da noch weiter erzählen soll. Ich sehe mich fernerhin als leibhaftigen Doctor rerum politicarum bei der Schafherde in Patagonien, beim Puppenverlosen als Marktschreier in Peru, auf dem Schoner vor Valparaiso, in moskitobrütenden bolivianischen Urwaldsümpfen, mit Typhus und Malaria im Fieberspital zu Rio de Janeiro, in Albanien, im Baltenlande, auf fernen Karawanenstraßen, zwischen Kamelen und Turbanen, mit dem Rucksack auf dem Wege über Persien nach Indien.

Und weiter? Und die Moral von dieser verworrenen Geschichte meiner Abenteuer?

Ach, man erlebt viel in wenigen Jahren, wenn man sich nur ein wenig umtut. Nur die Philister können sagen, daß wir in einer Welt leben, in der das Abenteuer nicht mehr zu Hause ist.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Weltwanderers letzte Fahrten und Abenteuer