Meinem Bruder Kurt zum Gedächtnis - Dr. Walther Faber

Am 6. Dezember 1880 wurde mein Bruder Kurt zu Mülhausen im Elsaß geboren, als Sohn des Professors Dr. C. W. Faber, der ebenso wie die Mutter der Rheinpfalz entstammte. Das Haus der Eltern lag in der Vorstadt. Es war ein wenig schon verblichen und von einer Weitläufigkeit, die wohl für uns Kinder, weniger jedoch für unsere gute Mutter erwünscht war. Und ringsum geheimnisvolle Ecken, bemooste Höfe, verträumte Gärten mit seltsamen Blumen und Bäumen: ein Paradies für Kinder.

Dort, im »Alten Haus« erhielt die üppige Phantasie unseres Bruders Kurt reichlich Nahrung; wie oft mußte er gesucht werden, bis man ihn endlich irgendwo auf einer Entdeckungsreise fand. Zugleich meldete sich unbändiger Eigenwille und Trotz: Frau Imbach, die Pförtnerin, erzählte uns später immer wieder, wie der kleine Kurt den Atem anhielt, wenn ihm irgendwas nicht paßte; war er ganz blau geworden, dann konnte nur ein kräftiger Guß aus der Wasserleitung dem angstvollen Zustand ein Ende machen. Oder er kam einfach nicht aus der Schule heim. Kann man sich wundern, wenn selbst unser Vater als gewiegter Pädagoge schließlich die Flagge streichen mußte? Hier zeigten sich bereits deutlich die Grundzüge seines Wesens: schrankenlose Phantasie, unlöslich verbunden mit unbezähmbarem Freiheitswillen.


Im »Neuen Haus«, das wir 1890 bezogen, bot sich ein ganz anderes Bild, ohne daß auch hier die Phantasie unseres Bruders zu kurz gekommen wäre. Jetzt dehnte er seine Entdeckungsreisen, auf denen ich ihn oft begleiten durfte, weiter aus. Wir »entdeckten« den Rheinwald mit seinen einsamen, schnurgeraden Wegen, vor allem aber den herrlichen Sundgau im Süden unserer Vaterstadt. Etwas Berauschendes, Faszinierendes war dabei, – ein »Etwas«, das sich schwer in Worte fassen läßt: die Landschaft war für ihn seltsam belebt und mit Geheimnissen geladen; überall erwartete er ein Wunder, – und fand es auch! Er hatte die Dichtergabe, aus dem kleinsten ein Erlebnis zu machen. – Die reichen Anlagen der Eltern, die bewegliche Geistigkeit des Vaters und die unergründliche Gemütstiefe der Mutter, waren in ihm zu einer seltsamen Einheit zusammengeflossen und hatten die Grundlage bereitet, auf der sich dann der Mann nach schwerem Ringen so einzigartig entfaltete.

Die Eltern hatten ihre Not. Kurt war Schüler der Oberrealschule, aber ein völliger Versager in Mathematik, und die Schule von damals vermochte seiner Persönlichkeit nicht gerecht zu werden. Er blieb hängen, und seine angeborene Störrigkeit steigerte sich bis zum Überdruß gegen die Schule. Schließlich nahm ihn der Vater schweren Herzens heraus und brachte ihn als Lehrling in der Universitätsbuchhandlung in Freiburg i. Br. unter, hatte er doch schon von klein auf unbändigen Lesehunger gezeigt. – Und doch war der gutgemeinte Plan ein Fehlschlug. Lehrling, Stift sollte er werden unter einem zwar wohlmeinenden, aber peinlich genauen Prinzipal? Alles nur das nicht! – Sein ganzes Leben bewies, daß er nichts weniger als Kaufmann war.

So kam er auf die Chemieschule in Mülhausen, nachdem er wochenlang den Fragen meines Vaters, was er denn werden wolle, verstocktes Schweigen entgegengesetzt hatte. Dort ging es ganz gut, – bis er eines Tages heimlich den Staub von den Schuhen schüttelte und mit neunzehn Jahren hinauszog in die weite Welt, wie ein Vogel, bei dem man das Türchen am Käfig zu schließen vergaß. Ja, die Freiheit war es, die er suchte, die Ferne, die ihn lockte und magisch an sich zog, – das war es, was er seinem Vater nicht hatte sagen können!

Über Belfort, Paris, Boulogne schlug er sich mit lächerlich geringer Barschaft nach den Vereinigten Staaten durch. Das erfuhren wir aber erst viel, viel später. Zunächst blieb siebzehn Monate jegliche Nachricht aus. Warum er nicht schrieb? Einfach deshalb, weil es ihm drüben schlecht ging und sein trotziger Stolz sich dagegen aufbäumte, einen Mißerfolg einzugestehen. Nach seiner Rückkehr gestand er uns in einer schwachen Stunde, wie er von Heimweh gefoltert durch die Steinwüste New Yorks irrte, oft weich zu werden drohte – und doch niemals sich von Weichheit übermannen ließ. Man schaut gern mitleidig hinab auf einen verlorenen Sohn, und doch gehört mitunter ein gutes Stück Heroismus dazu, die begonnene Partie zu Ende zu spielen, und wenn die Welt voll Teufel war'! Und keiner hat diesen Grundsatz schärfer vertreten wie er; gerade hierin gab es für ihn, der schon an sich ein geschworener Feind aller Halbheit und Lauheit war, kein Erbarmen, hier hielt er auf unbedingte Sauberkeit. Eins darf dabei freilich nicht vergessen werden – sein unbegrenzter Optimismus, der über jeden anbrechenden Tag, über jeden Ort, den er zum erstenmal betrat, einen lockenden Schimmer breitete; ohne ihn wäre er bald im harten Zugriff des Schicksals zerbrochen.

Er war Geschirrspüler, Baumwollpflücker, Fuhrknecht, Lastträger, Kohlentrimmer, Streckenarbeiter, Techniker, Fabrikarbeiter, Maurer, Anstreicher – kurz alles, was sich die wildeste Phantasie kaum ausdenken kann, nur Kellner nicht, dazu war er nicht biegsam genug. Wie oft langte das Geld nicht einmal zur kümmerlichen Unterkunft im Obdachlosenasyl; und wenn der Magen allzu sehr rebellierte, ging's mit geschnürtem Bündel auf die Walz, d. h. wenn es ihn nicht gerade gelüstete, als Schwarzfahrer im Güterwagen oder zwischen den Rädern eines Pulmanzugs eine zwar schnellere, aber um so gefährlichere Fortbewegungsart zu wählen.

Gewiß brachte er für diese ungeheuerlichen Anstrengungen und Entbehrungen eine eiserne Konstitution mit. Aber er besaß etwas, was vielleicht noch wertvoller war: innere Reinheit. Für all die großen und kleinen Laster, die den Vielzuvielen fast noch wichtiger sind wie das tägliche Brot, fehlte ihm das Organ, für sie konnte er nur Mitleid oder erstauntes Achselzucken aufbringen. Er trank und rauchte nicht, aber nicht aus Prinzip – er konnte mitunter recht wacker seinen Mann stehen! – Vielmehr wies es sein innerlich sauberes Wesen aus Instinkt weit zurück, sich irgendwie in Hörigkeit zu begeben. So blieb die Bahn offen zur schrankenlosen Betätigung seines Willens, der nur von einer einzigen Idee besessen war, einer unstillbaren Abenteuerlust; diese ist, kann man sagen, das einzige »Laster« gewesen, dem er fröhnte. So nur ist es zu verstehen, daß er aufrecht und unversehrt durch die finstersten Niederungen des Lebens mit all ihren Versuchungen und Fallstricken hindurchschritt, ohne sich zu verschwenden. Es ist bezeichnend, daß er bis zum Lebensende nichts so aufrichtig und hingebend geliebt hat wie Kinder und Blumen.

Nach zwei wilden Wanderjahren in Texas und Kalifornien zog er im Jahre 1902 mittellos in San Franzisko ein, wo er, wie er sagt, seinen »Tag von Damaskus« erlebte. Er ließ sich nämlich in der verräucherten Hafenspelunke zum »Blauen Anker« für ein Jahr auf den Walfischfänger »Bowhead« anheuern, aber aus dem einen Jahr wurden drei. Was er dort oben im Lande der Mitternachtssonne erlebte, wie er in zerbrechlichem Boot, die Harpune in der Hand, den Walfischen zu Leibe rückte, drei lange Winter in Nacht und Eis hungerte und schließlich mit einer Eskimofamilie entfloh, alles das hat er später in seinem Erstlingsbuch »Unter Eskimos und Walfischfängern« geschildert. Und wie er dann zunächst als Matrose, dann als Schiffsheizer über Australien und Sumatra in die Heimat zurückkehrte, kann man in seinem Buch »Rund um die Erde« nachlesen. Wenn man die schier unglaubliche Fülle von Erlebnissen auch nur andeutungsweise nachzeichnen wollte, würde ein neues Buch entstehen. Daher muß ich mich hier und später nur auf das Allerwichtigste beschränken; was uns an dieser Stelle in erster Linie beschäftigt, ist ja der Mensch, der dahinter steht.

Mittlerweile hatten sich zu Hause grundlegende und schmerzliche Veränderungen vollzogen: unser Vater war Sommer 1903 nach schwerer Krankheit gestorben. Um das Schicksal seines Sohnes Kurt hatte er sich bitter gesorgt, ohne aber den Glauben an eine lichtere Zukunft zu verlieren. Schon zwei Jahre später zogen wir nach Lambrecht, dem Geburtsort unserer Mutter. Dieses Pfälzer Fabrikstädtchen, eingebettet zwischen waldbedeckten Bergen, wurde von nun an Mittelpunkt und Stützpunkt unserer Familie. Die Mutter hatte es als Witwe und überhaupt nicht leicht: noch waren die Jüngsten nicht flügge geworden, da wurde sie – es war im Herbst 1907 – vor die Schicksalsfrage gestellt: was soll aus Kurt werden? Sie hat diese Aufgabe glänzend gelöst. Von nun an blieben die Lebensschicksale von Mutter und Sohn über zwei Jahrzehnte unlöslich zusammengeschmiedet, bis der Tod sie zu gleicher Zeit in die Ewigkeit abrief. Es gibt nur wenige, die voll ermessen können, wieviel der unstäte Weltenwanderer seiner treuen Mutter verdankt, die wissen, daß sie der ruhende Pol gewesen ist im Wirbel wilden Geschehens. Die Mutter, diese empfindsame, gemütstiefe Frau, wuchs gleichsam mit der schweren Aufgabe über sich selbst hinaus. Mit unsäglicher Geduld und Selbstaufopferung hat sie ihren Sohn erst wieder zum zivilisierten Menschen gemacht, hat ihm über die dunkelsten Jahre seines Lebens hinweggeholfen, und später ist sie ihm in geistiger Hinsicht eine wertvolle Hilfe bei seiner schriftstellerischen Arbeit gewesen. Wie dankbar kann man dem Schicksal sein, daß sie auch die Jahre des Erfolges, der Ernte, erleben durfte.

Nach vorübergehender Beschäftigung in der Tuchfabrik unserer Verwandten in Lambrecht erwarb er nach knapp zwei Jahren an der Kölner Handelshochschule das Diplom eines Handelslehrers, und zwar mit ausgezeichnetem Erfolg. Schon dort trat seine überragende Begabung immer deutlicher hervor; es war, als ob sich jetzt, nach den Jahren schwerster Prüfung, das Tor des Wissens weit und befreiend öffnete. Wahrend er vordem in der Schule an fremden Sprachen verdrossen herumgestümpert hatte, bewältigte er jetzt neben dem Englischen, das ihm jahrelang gleichsam Muttersprache gewesen war, spielend auch das Französische, Spanische und Niederländische. Staunenswert war ferner sein Gedächtnis; er lernte verblüffend schnell auswendig, und was er sich einmal eingeprägt, blieb sein dauernder Besitz. Oft klagte er scherzend, daß er in seinem armen Kopf bald keinen Platz mehr hätte.

Aber mit der Anstellung in irgendeinem kaufmännischen Betriebe haperte es, worüber er nicht sonderlich betrübt war, denn im Grunde seines Herzens grauste ihm vor dem Augenblick, wo er, inmitten klappernder Schreibmaschinen, auf einen Kontorschemel hinaufklettern sollte. – So mußten wir ihn Herbst 1910 zum zweiten Male in die weite Welt hinausziehen lassen, diesmal nach Südamerika, wo er nach anfänglichen Bemühungen um eine bürgerliche Existenz bald wieder zum abenteuernden Vagabunden wurde. »Dem Glücke nach durch Südamerika« heißt das Buch, in dem er von jenen wilden Jahren berichtet. Ja, das Glück hat er auch dort nicht gefunden, – und Sommer 1912 stand er nach hundertneuntägiger Segelschiffreise ums Kap Horn als sonnverbrannter, abgerissener Matrose vor seiner Mutter in Lambrecht. –

Dann kam der Krieg. – Er lebte gerade in Leipzig, wo er einige Monate zuvor in einem angesehenen Verlagshaus Beschäftigung gefunden hatte, als der Krieg ausbrach. Wie schrecklich war es ihm, daß gerade ihn kein Truppenteil als Kriegsfreiwilligen einstellen wollte, obwohl er sich von der Infanterie bis zu den Schippern hinunter meldete. Einige Jahre zuvor hatte man ihm nämlich das erkrankte rechte Auge operativ entfernen müssen, und das linke war stark kurzsichtig. Klopfenden Herzens verfolgte er die Vorgänge an allen Fronten – und mit banger Sorge später die wachsende Not und Zersetzung in der Heimat. In diesen Kriegsjahren, die für ihn deshalb doppelt schwer waren, weil er als passiver Zuschauer stillehalten mußte, schärfte sich sein politischer Blick, wuchs seine Vaterlandsliebe zu lodernder Flamme.

Um ihn von seinen quälenden Gedanken abzubringen, brachte ihn die Mutter zu dem entscheidenden Entschluß, seine Erlebnisse niederzuschreiben. Der Schriftleiter der »Täglichen Rundschau«, Dr. Gustav Manz, war es, der zuerst auf ihn aufmerksam wurde, ihn »entdeckte« und die ersten umfangreichen Reiseberichte in der »Unterhaltungsbeilage« zum Abdruck brachte. Daran schlössen sich in der Lutzschen Memoirenbibliothek zwei Buchausgaben, die ausgezeichnete, zum Teil begeisterte Aufnahme fanden. Das gab ihm für geraume Zeit einen gewissen Daseinszweck inmitten des weltgeschichtlichen Geschehens. – Um aber schließlich nicht doch zu »verliegen«, verfiel er plötzlich auf die Idee zum Doktor zu promovieren – er, der »geschwenkte« Obersekundaner und vielgewanderte Umgänger! Zuerst mußte in Steglitz die Klippe des Abiturs umschifft werden; das war das Schlimmste für ihn – man denke an die Mathematik, die plötzlich wieder mit ihren unerbittlichen Ansprüchen aus der Versenkung auftauchte. Dann aber ging's mit geschwellten Segeln auf die Universität in Tübingen, das er von allen Städten, die er in der ganzen Welt geschaut, am meisten liebte. In Tübingen war es denn auch, wo er, gerade in den düsteren Tagen des Waffenstillstandes, mit einer Dissertation über die Finanzen Argentiniens im Weltkrieg zum Doktor der Staatswissenschaften promovierte.

Aber die Freude über den Erfolg verrauchte schnell in dem schrecklichen Geschehen jener Tage, und schon zwei Jahre später wandte er seinem Vaterlande den Rücken, um abermals nach Südamerika zu ziehen – allzu lange war er, wie er sich ausdrückte, im Stall gestanden! Es war wieder das alte Lied, nur daß er diesmal seine Abenteuer mit einem Ritt quer durch Patagonien nach Südchile begann und mit der Durchquerung des bolivianischen Urwaldgebietes zur Regenzeit abschloß. Nach seiner Rückkehr, Sommer 1922, lag er in Lambrecht schwer darnieder an tropischer Malaria. – Sein viertes Buch »Tage und Nächte in Urwald und Sierra« ist die literarische Frucht dieser verwegenen Fahrten.

Die Verhältnisse in der Heimat waren während seiner Abwesenheit noch bedrängter geworden. Es war die schreckliche Zeit der Inflation, jene Zeit, in der weite Kreise des Volkes in Geld erstickten – und der freie Schriftsteller vor die Hunde gehen konnte. Was nutzten ihm die Millionen-Honorare, die, in Gold umgerechnet, wie Rauch sich verflüchtigten? Nie sah ich meinen Bruder so erbittert und verbittert wie damals. Nicht die Not der Zeit an sich war es, die seinen heiligen Zorn erregte, dazu war er viel zu weitblickend, vielmehr der schamlose Wucher, die freche Genußsucht, die Herzlosigkeit gegen die Alten, die ihre Ersparnisse auf dem Altar des Vaterlandes geopfert hatten – kurz, die moralische Verwilderung des deutschen Volkes. So griff er in seiner Verzweiflung zu seiner einzigen Waffe, der Feder, und riß der Zeit in einer Reihe von Zeitungsaufsätzen, durchtränkt von beißender Ironie, die Maske vom Gesicht.

Unter der Auswirkung jener Jahre brach auch die »Tägliche Rundschau« zusammen. Aber schon ehe sie ihr Erscheinen einstellte, hatten sich durch Vermittlung des Herausgebers der »Gartenlaube«, Heinz Amelung, mit dem Scherlverlag Beziehungen angeknüpft. Das war im Herbst 192Z. Bei diesem Zeitungskonzern fand er bereitwilliges Entgegenkommen und auch später stets volles Verständnis für seine eigenartige und eigenwillige Persönlichkeit. Neben dem »Tag« und der »Gartenlaube« war es in erster Linie der »Lokalanzeiger«, mit dem er sich immer enger verband. Er wurde ständiger Korrespondent. Das war für ihn ein Wechsel von lebensentscheidender Bedeutung, denn von nun an sah er sich gestützt von einer mächtigen und kapitalkräftigen Presse.

Jetzt erst trat das Wahre, Echte, ja Große seiner Persönlichkeit leuchtend hervor, indem er trotz aller Bindungen blieb, was er gewesen war: der göttliche Vagabund! Ja, jetzt erst stand die Welt offen, jetzt erst konnte er wandern in Länder, die schauen zu dürfen er nie gehofft, konnte sich endlich satttrinken an den Wundern dieser Erde! Danken muß man aber den Männern in der Schriftleitung des Scherlverlags dafür, daß sie den »großen Umgänger« Kurt Faber mit all seinen Schrullen, Eingebungen und Gelüsten gewähren ließen. Zwang und Schablone in irgendwelcher Form hätten unfehlbar die sprudelnden Duellen seines Schaffens verschüttet.

Mit kleineren Reisen in seine elsässische Heimat, ins Baltikum und auf den Balkan fing er an. Seit Frühjahr 1926 bis zu seinem Tode war er dann aber fast ununterbrochen auf großer Fahrt, als müßte er vor seinem nahen Ende noch alles das, was er bisher versäumt hatte, auf einmal nachholen! Auf seine Wanderung durch Armenien, Persien und Indien, die in dem schönen Buch »Mit dem Rucksack nach Indien« festgehalten ist, folgte die zwölfmonatige Weltreise durch Südafrika, Australien, die Südsee, Ostasien und Sibirien. – Und dann, kaum daß er in der Heimat, nach einem erneuten Streifzug durch Palästina und Syrien, zu sich gekommen war, zog es ihn abermals hinaus in die Ferne, – um am Sklavensee, ebendort, wo er fünfundzwanzig Jahre zuvor auf der Flucht vom Walfischfänger vorbeigekommen war, dem Todesgeschick zu erliegen.

Einsam ist er gestorben, wie er schon immer einsam gewesen war auf allen seinen Wanderungen. Begleiter, die man ihm anbot, hatte er lächelnd abgelehnt. Man kann gewiß nicht behaupten, daß er dein Getriebe der Menschen aus dem Wege ging, im Gegenteil, – und doch zog es ihn immer wieder unwiderstehlich von der Zivilisation weg dorthin, wo Natur und Mensch in ungebrochener Ursprünglichkeit verharrten. Ursprünglichkeit und Einsamkeit waren im Grunde doch sein eigentlichstes Lebenselement. – Bei den letzten großen Reisen stand er schon hoch in den Vierzigern. Wohl war das dichtgewellte Haar eisgrau geworden, – aber noch immer zeigte er die gleiche unverwüstliche Lebenskraft; jedoch vor einigen Jahren hatte ihn eine schwere Kniegelenkentzündung befallen. Wer ihn damals in Wildbad mühsam am Stocke humpeln sah, der mußte glauben, daß hinter die Abenteuer der endgültige Schlußpunkt gesetzt sei. Aber in Kürze war er wieder obenauf, und gewisse Beschwerden, die zurückblieben, wurden mit Verachtung bestraft. In einem seiner letzten Briefe sagt er: »Mutter ist natürlich wieder voller Ängste wegen des Beins, aber das muß man ihr ausreden; für mich ist das nur eine recht ärgerliche Belästigung, keine Krankheit von so etwas darf man nicht sein Lebensschicksal abhängig machen.« Welch eiserne Willenskraft spricht aus diesen schlichten Worten!

Ebensowenig wie Einsamkeit und Krankheit schreckte ihn die Gefahr. Was jeder andere zuerst zu sich stecken würde: die Waffe, – daran dachte er überhaupt nicht, nicht einmal einen Stock trug er aus seinen Wanderungen in der Hand. Das ganze Gepäck bestand aus einem geräumigen Rucksack. – Mit dieser primitiven Ausrüstung hat er als fast Fünfzigjähriger auf dem Oberlauf des Sambesi tausend Kilometer im Einbaum, fünfhundert Kilometer auf halb erforschten Flüssen Nordkanadas im Paddelboot zurückgelegt.

Er deutete soeben selbst an, wie sehr die Mutter in der Heimat um ihn zitterte. Er war aber auch in seiner Art ein guter Sohn, der soviel Liebe verdiente. – Schön war es aber auch dort in Lambrecht! Sein bescheidenes Arbeitszimmer, das zugleich sein Schlafzimmer war, schaute mit drei Fenstern in einen großen Obstgarten und darüber hinaus auf die bewaldeten Berge. An einem der Fenster stand das kleine Arbeitstischchen, hoch bedeckt mit einem Wust von Manuskripten, und an zwei Wänden sein ganzer Stolz, die Bibliothek, für die er einen großen Teil seiner Einkünfte verwandte. In der ganzen Wohnung standen und hingen Reiseandenken aus aller Herren Ländern. – Das Schenken machte ihm kindliche Freude, und ich glaube, wenn es die »Mitbringsel« nicht gäbe, – er wäre nur halb so gern gereist. – Dort in jenem Pfälzer Kleinstadtidyll entstanden seine Abenteuerbücher, zuletzt sein Schwanengesang »1001 Abenteuer«.

Im September vorigen Jahres zog er zum letztenmal hinaus. Zunächst hatte er bei Edmonton die Lage der Siedler und insbesondere die Frage der Saisonarbeiter studiert, – dann aber wanderte er in den wilden Norden des Staates Alberta. Anfang Oktober paddelte er im Kanu den Peace River fünfhundert Kilometer stromab bis Fort Vermillion, wo er am 8. Oktober zum letztenmal seiner Mutter und der Schriftleitung des »Berliner Lokalanzeigers« schrieb. Er beabsichtigte von da zu dem hundertfünfzig Kilometer weiter nördlich gelegenen und nur halb erforschten Hay River zu wandern, um auch diesen Fluß abwärts zu paddeln. Am Großen Sklavensee hoffte er noch vor dem großen Zufrieren den letzten südwärts fahrenden Dampfer zu erreichen, denn er wollte zu Weihnachten wieder in Edmonton sein.– Aber diesmal kam es anders als er gedacht!

Auf die letzten Briefe folgten furchtbare Wochen des Schweigens. Am 21. Dezember hörte in der Pfälzer Heimat das nimmermüde Herz der Mutter, seiner treuen, tapferen Lebenskameradin, auf zu schlagen. Die Schreckensnachricht blieb ihr erspart, aber wir Geschwister sind davon überzeugt, daß sie in der Tiefe ihres Mutterherzens die Todesnot ihres Sohnes mitempfand; – sie erlosch wie die Flamme, die sich selbst verzehrt. – Durch gütige Vermittlung des deutschen Konsuls in Winnipeg, Dr. K. Martin, der schon zweimal – zuerst in Brasilien, dann in Südwestafrika – dem Weltenwanderer treu zur Seite gestanden hatte, wurde in langen, bangen Wochen die vermutliche Reiseroute von der kanadischen Polizei abgesucht. Der Vermißte blieb verschollen.

Da traf am 6. März 1930 die knappe Kabelmeldung ein, daß der Leichnam, von Raubtieren verstümmelt, am Ufer des Hay River, nur fünfundzwanzig Kilometer vom Großen Sklavensee entfernt, aufgefunden war. Wie aus dem letzten Polizeibericht, der erst im Juli in Deutschland eintraf, hervorgeht, war er mit einem Pelztierjäger von Fort Vermillion zum Hay River gezogen. Kaum war das Eis fest geworden, hatte er mit einem kleinen, behelfsmäßigen Schlitten und nur vier Tagesrationen am 10. November seinen Todesmarsch flußabwärts angetreten. – Ein Rätsel wird es wohl immer bleiben, was ihn, den vielerfahrenen Mann, veranlaßt hat, in sein Verderben zu stürmen. Mag er vielleicht doch zu sehr auf seine Kräfte, seine Ausdauer – und sein Glück, das ihn bisher auch aus den schwersten Gefahren errettet hatte, gepocht haben? Undurchdringliches Dunkel liegt auch auf seinem Tode. Nur ahnen können wir die schrecklichen Leiden in Eis und Schnee, bis endlich der Weiße Tod sich seiner erbarmte.

Die sterbliche Hülle wurde in der Lover-Hay-River-Siedlung am Großen Sklavensee beigesetzt. So ruht er in fremder Erde, dieser aufrechte Deutsche und brave Sohn seiner Heimat. Es klingt wie eine Todesahnung, daß er wenige Wochen zuvor seinem letzten Buche die Worte Zarathustras an den Seiltänzer vorangestellt hat:

»Du hast die Gefahr zu deinem Berufe gemacht,
so will ich dich mit meinen Händen begraben.«

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Weltwanderers letzte Fahrten und Abenteuer