Aus meiner Bubenzeit

Das war so ungefähr anno 1890, also in jener Zeit, da unsere Mütter sich noch in Puffärmeln gefielen und ein Chignon totchic war, als die ersten Autos – Dampfkutschen nannten wir sie damals – recht ungeschickt und asthmatisch durch die Gassen keuchten und das Kino eben erst erfunden wurde. – Wie weit liegt das alles zurück und doch wie nah!

Aber damit ich es gleich gestehe: es war in Mülhausen im Elsaß. Nicht eben der Ort für romantische Erinnerungen wird mancher sagen. Aber was weiß der? Keine Stadt ist so grau, kein Dorf so klein, als daß es sich nicht auftürme zu gaukelnden Schlössern, wenn man es durch die große Brille der Kinderaugen betrachtet.


Ach, wenn man da an einem heißen Nachmittag von der Wildemannsgasse abbog nach den vornehmen Gegenden am »Spiegeltor«, wo der Straßenverkehr nur gedämpft vorüberging und die vornehmen Paläste – jawohl Paläste! – ganz distinguiert und »Rühr mich nicht an« am Straßenrand standen, oder meist hinter fabelhaften Gittertoren, durch die man nur scheu hindurchzublicken wagte, über weiße Kieswege, in denen nichts lebendig war als die Pracht der Blumen, und alles ringsum einem das Wort entgegenzuflüstern schien: » Il est parti.«

Monsieur? – natürlich nach Paris.

Il est parti. – Auch von seiner Fabrik, die da öde und grau, mit eingeschlagenen Fenstern, an unserem Schulwege stand, eine Ruine am Wege, ein steinerner Protest, ein zinsenfressender Moloch, ein weißer Elefant für seinen Besitzer, und das alles aus Opposition, pour embêter les Allemands, um die »Schwowe« zu ärgern.

Ja, es war eine seltsame Zeit, zerrissen von Leidenschaften, umwittert von den Schauern der Geschichte! Aber Kinderaugen sehen noch andere Dinge, und Kinderohren lauschen mehr dem Lärm der Gasse als dem der Weltgeschichte. – Wo mehr als im alten Mülhausen, da jeder seine Wünsche auf Straßen und Märkten ausschrie. Da war einer, der allmorgendlich an unserem Hause vorüber durch die Dornacher Straße zog und es dabei hinausschrie mit einer Stimme, die stark genug war, um die Toten aufzuwecken am Jüngsten Gericht: »Gahl-san-dr!« Das »dr« zum Schluß immer noch besonders betont. So zog er dahin in biblischer Beschaulichkeit mit einem wunderschönen Esel, einem wunderschönen kleinen Wagen voll wunderschönem gelben Sande. – Dieser Sand! Dieser Wagen! Dieser Esel! Gibt es denn noch etwas, dessen Besitz zum vollendetsten Kindertraume gehörte?

Und doch, und doch. –

Es gab noch einen, der darüberstand. Kein Morgen meiner Kindheit verging, ohne daß man seinen lauten, langgezogenen Singsang vor unserer Hoftür vernahm:

»Han ihr alte Lump?«
Kinkelpelz, Hasepelz?
Han ihr a-a-alte Lump?

Es war kein schöner Mann, zerlumpt und zerrissen, eine wandelnde Misere mit einem schmierigen Sack auf dem Buckel. Und doch – oh, ihr Augen der Kindheit! – mir schien er reicher wie Rockefeller, wenn er bei jedem Kauf die Schnur aufnestelte zu dem leinenen Geldbeutel, der von Pfennigen und von dicken, runden Soustücken nur so überquoll. Namentlich für die letzteren hatte er eine Schwäche, nicht etwa aus Liebe oder Sehnsucht für die Mèrepatrie, die interessierte ihn nicht, so wenig als etwas anderes, denn da wie dort würde er Lumpen kaufen, aber – nun ja, die Welt ist rund, man kann nie wissen, was passiert, und ich bin überzeugt, wenn sein Geist heute noch durch die Dornacher Straße ging, so würde er die Pfennigstücke sammeln.

Und da fällt mir bei diesem Namen etwas ein, unter dem ich schwer zu leiden hatte in meinen Tagen, etwas, das es mir schon in jenen jungen Jahren bitter zum Bewußtsein brachte, daß Recht noch lange nicht Recht ist, wenn der Schein dagegen spricht. – Gab es da in der Tat Individuen, die es wagten, mir den Ehrentitel eines Mülhausers abzusprechen. Schulbuben, nichtsnutzige »Kneckes« aus der Fabrikgasse, die sich herausnahmen, Arm in Arm auf dem Schulweg hinter mir herzutanzen und aus vollem Hals das tiefverletzende Spottlied anzustimmen:

»Dornacher, Nusseknacker.
Äpplebisser, Hose ...«

Und das alles nur deshalb, weil unser Haus einige Meter hinter der Hütte lag, wo der Oktroibeamte ohnehin am hellen Tage schlief! Und angesichts der Tatsache, daß wir selbst, die wir mehr wußten, was sich schickte und außerdem mit unserer Poesie nicht auf entsprechender Höhe waren, unsere Feinde auf unserem Gebiet stets mit würdigem Schweigen empfingen. Le silence du peuple, ç'est la leçon des rois.

Ja, auch ein Kinderleben hat seine Leiden, seine Leidenschaften und seine Feinde. – Ja, Feinde! Ich wenigstens habe daran mehr als genug gehabt, und wenn ich heute hier sitze und diese längst vergangenen Erinnerungen wieder zusammenkrame aus den hintersten Winkeln, so stehen sie auf einmal wieder ganz deutlich vor mir, groß und düster, hassenswert und verächtlich, genau so, wie ich sie damals empfand. Da war z, B. Monsieur Royer, ein kleiner Mann mit einem schwarzen Spitzbart, ganz das Abbild eines Urfranzosen. Monsieur war in hohem Grade das, was man heutzutage cholerisch nennt. Er hatte eine flinke Zunge und einen noch flinkeren Stock, und wenn er erschien, so gab es ein allgemeines sauve-qui-peut, während die scharfe Stimme wehklagend über den leeren Hof hin hallte: » sacré nom de pipe, 's isch zum hiele« (es ist zum heulen).

Nein, er war kein liebenswürdiger Herr! Was mich ihn aber hassen machte, das war die Tatsache, daß er gewissermaßen der spiritus rector, die treibende Kraft hinter einem anderen Individuum war, dessen Anblick ich ob seiner Untaten nur mit Zittern ertragen konnte. Das war der »Baumumhauermann«, jenes herzlose Subjekt, das es fertigbrachte, mit kaltem Blut die schönen alten Bäume aus der Wiese zu fällen und mit zynischer Unberührtheit in Brennholz zu zerlegen, als ob da garnichts dabei wäre.

»Am grünbelaubten Baum ist für den Blick des Weisen
Ein jedes Blatt ein Buch, des Schöpfers Macht zu preisen!«

Das hat schon Saadi gesagt.

Und wo gäbe es größere Weisen als die Kinder?

Und was soll ich noch erzählen von unserer Welt im Winkel?

Da ist Madame Imbach, die Portiersfrau. – Manche Seite nimmt sie ein im Buche meiner Kindheit, und es wäre unrecht, wenn ich sie unterschlagen wollte. Immer sehe ich sie vor mir, wie sie vor dem laufenden Wasserhahn in unserer Küche stand, derweilen der Eimer sprudelnd überlief, wie ihre Zunge.

»Herr Faber, Herr Faber, bilden Eich dar Strich-in vu dene Kaiwe-Avokate« (»Herr Faber, stellen Sie sich diesen Streich dieser verdammten Advokaten vor«).

Solche Konversation wiederholte sich täglich mit meinem Vater, oder wen sie sich gerade sonst als Resonanzboden ihrer Beredsamkeit erwählt hatte. Damals waren es für mich nur Worte, aber heute kann ich es ihr ganz nachfühlen: »Die Kaiwe Avokate ...«

Im übrigen war sie keineswegs so bös wie ihre Zunge. Manche Stunde haben wir in ihrer Gesellschaft und der ihrer Tochter Mathilde auf dem »Laiwele« (Laube) vor ihrem Hause zugebracht. Es waren da so viele Heilige, direkt von dem Odilienberg. Mathilde war immer blau angezogen, da ihre Mutter einmal ein diesbezügliches Gelübde getan hatte, und überhaupt war hier alles so furchtbar interessant, zumal Madame Imbach auch einen ganz unheimlichen, geradezu mysteriösen Mann hatte, dessen Geist wie ein deus ex machina immer zu erscheinen pflegte, wenn irgend etwas nicht nach Wunsch ging.

»Mei, wenn der Imbach kummt!«

Aber der Imbach kam nie. Er pflegte zu kommen, wenn wir schon schliefen, morgens beim Erwachen war er schon wieder in der Fabrik, und Sonntags hackte er Holz im Hinterhof, in den uns wilde Pferde nicht hineingebracht hätten.

Armer Imbach! Wir haben ihm vieles abzubitten.

Aber vielleicht war auch Monsieur Royer gar nicht so schlimm, wie er sich malte in unseren Kneckesköpfen. Vielleicht – gewiß! – war auch der Baumumhauermann nur ein braver arbeitsamer Bürger. Vielleicht waren die Bäume morsch und verdorben und überreif zum Umhauen. Vielleicht war der Esel nicht so schön, vielleicht der Wagen nicht so elegant und der Sand nicht so weiß. Vielleicht – der Lumpensammler, wenn ich ihm heute begegnen würde – vielleicht – wer kann es wissen?

Aber wer will es denn wissen? Sie bleiben, wie sie sind, und sie leben trotz allem: die bösen, die guten, die Sandmänner, die Lumpensammler, die Baumumhauer, das alte Haus, die alte Stadt, das alte Land.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Weltwanderers letzte Fahrten und Abenteuer