Wetterwinkel - Charbin (Mandschurei), im Oktober

Es gibt Orte, die man schon zu kennen glaubt, ehe man sie gesehen, und dazu gehört auch Mukden. – Mukden, die Hauptstadt der Mandschurei, das Letzte, das Äußerste an Entfernungen, weit drinnen, hinterwärts von Sibirien, wie könnte solche Stadt in ihrer äußeren Erscheinung auch etwas anderes sein als der Inbegriff alles Exotischen, alles Chinesischen und Überchinesischen.

Aber die Wirklichkeit ist eine rechte Enttäuschung. Da kommt man auf einen Bahnhof, der auf weiter Flur allein steht vor einem ungeheuren Platz, der ringsum ganz bürgerlich europäisch umsäumt ist von hohen Häusern, die man hunderttausendmal auch wo anders gesehen. Eine elektrische Straßenbahn ist auch da, und vor dem Ausgang stehen lange Batterien von russischen Panjekutschen mit struppigen Gäulen und ebenso struppigen Kutschern in ungeheuren Pelzmänteln. Es ist ein ungemütlicher Tag. Ein eiskalter Wind fegt den Regen über den Platz. Russisch, beinahe schon sibirisch sieht es hier überall aus. Russisch kommt man sich auch vor, wenn man stadteinwärts geht über eine große, breite Straße, die eine billige Nachahmung der » Twerskaja« in Moskau ist. Man geht weiter durch viele Straßen und sucht die Stadt und findet sie nicht. Man wandert ewig durch eine Vorstadt inmitten der nachgemachten Eleganz drittklassiger Kaffeehäuser und Friseurläden. Vorstadt von China, Vorstadt von Rußland. Ein Gewirr fremdartiger Sprachzeichen starrt einen von den Ladenschildern an, aber die Häuser selber könnten ebenso gut in Gelsenkirchen, Sterkrade oder sonsteinem aus dem Boden gewachsenen Industrieorte stehen.


Wie weit ist man hier von China, wo alles eng zusammen wohnt aus lauter Freude an den lieben Mitmenschen, wie weit von Rußland mit seiner behäbigen Großspurigkeit. Die Nässe des kalten Nachmittags spiegelt sich in dem Asphaltpflaster – wirklichem Asphaltpflaster in Mukden! Irgendwo raucht eine große Fabrik. Ein Bankgeschäft steht protzig an einer Ecke. Vom Regierungsgebäude weht die fünffarbige Flagge Nordchinas. – Jetzt wissen wir wenigstens, wem dieses Land offiziell gehört, nachdem wir so lange im Zweifel waren. Und es scheint eine Regierung zu sein, die Geld hat, trotz allem, denn dicht daneben wird eben ein ganz großer Gouverneurspalast gebaut in hypermodernem, kubistischem Stil, wie ihn die Bolschewisten bei ihren Neubauten anwenden. – Aber dieses ist doch hier nach Moskauer Sprachgebrauch ein reaktionäres, ein weißes Regiment. Kenne sich einer aus in Mukden!

Eine Nacht in der Eisenbahn bringt einen von Mukden nach Chan Chun, dem Endpunkt der japanischen Bahn, und damit in das Gebiet des » Chinese Eastern Railway«, das noch mehr zu raten aufgibt. Schon die Flagge, die von den Stationsgebäuden weht, ist sicher eine der größten Merkwürdigkeiten auf dem Gebiete der Heraldik. Oben zeigt sie die fünf Farben Tschangsolins und unten die rote Flagge Moskaus mit Sichel und Hammer. Weiße und Rote, Bolschewiken und »Burschui« in trautem Verein auf einem Wahrzeichen! Von Reinlichkeit, Ordnungsliebe und sonstigem Komfort dieser ostchinesischen Bahn gibt es gerade kein Loblied zu singen, aber desto stattlicher ist die Bahnpolizei, wie überhaupt der ganze militärische Aufwand, der diese interessanteste aller Bahnen bewacht. Schon gleich bei der Paßrevision meldete sich ein Offizier in wahrhaft fürstlicher Uniform, mit stattlichem, graumeliertem Vollbart, der, wäre er mir in Hollywood begegnet, einem sicherlich als ein ehemaliger zaristischer Feldmarschall erschienen wäre, der nun in Rasputinfilmen mimt. – Aber siehe, er war ein bolschewistischer Tschekaagent!

So seltsam ist dieses Land, so wild und verworren, und doch wieder so großzügig, auf seine Art. Im Weiterfahren kommt man über einen Fluß, der mindestens noch einmal so breit ist wie der Rhein, vorbei an endlosen Stoppelfeldern, über denen die Raben krächzen. Bei sinkender Nacht fahren wir in den Bahnhof von Charbin ein.

Charbin ist eine Stadt, die auf ihre Art schon Weltgeschichte gesehen hat in diesen letzten Jahren. Und das sieht man ihr an. Als der Zar noch in Petersburg residierte, war sie das östliche Ausfalltor des russischen Imperialismus, eine geladene Pistole, die nach China und Japan zielte, der große Knotenpunkt der Bahnen nach Peking und Wladiwostok. Der Himmel war hier noch höher und der Zar noch weiter wie anderswo in dem großen Reiche. Da konnte sich zur Not jeder perfekt wie ein kleiner Zar vorkommen und sich mit einem dementsprechenden Hofstaat umgeben. So wurde Charbin schon vor Jahren zu einem arbiter elegantiarum des fernen Ostens, einer Art Klein-Paris im hintersten Sibirien. Und das geht ihr heute noch nach, trotz des Wechsels der Zeiten, der dieser Stadt nichts Gutes gebracht hat. Für eine kurze, tolle Zeit war sie seitdem der Brennpunkt der Weltgeschichte, der große Magnet, der alle Abenteurer anzog, die heute heimatlos durch alle Länder ziehen. Das war die Zeit, wo der »tolle Baron« Ungern-Sternberg hier seine »Weiße Republik« aufrichtete, eine Art »russisches Preußen«, von dem aus das große Kaiserreich einen neuen Siegeszug antreten sollte.

Man braucht nur einmal an einem Abend im Glanze der Lichter über die » Kitaiskaja«, die Hauptstraße, zu gehen, um es sich selbst mit Staunen zu sagen: »Solche Stadt hast du noch nie gesehen. Solche Stadt gibt es nur einmal auf dieser Erde«. Hier ist der Luxus, hier ist der Betrieb, hier herrscht ein Nachtleben, wie es Berlin nicht lebendiger aufzuweisen hat. Hier herrscht Hunger und Not und unbeschreibliches Elend. Hier wird Weltgeschichte gemacht, in Ministersesseln gehandelt und mit Säbeln spekuliert. Alles liegt hier offen zutage ohne bürgerliche Hemmungen, die Not nicht minder wie das Glück, und über allem lacht das Abenteuer.–

Ja, Charbin ist eine Stadt, in der sich leben läßt! Das Leben ist nicht nur interessant, sondern auch billig, zum mindesten für den, der eben aus Japan und China kommt, wo es einem abwechselnd heiß und kalt überläuft bei den Hotelpreisen, die man dem weißen Sahib abnimmt. Das Papiergeld ist hier freilich schmutzig und schmierig, wie bei uns in den Zeiten der schlimmsten Inflation, aber man kann etwas dafür kaufen. Für fünfzig bis sechzig Kopeken wird man eine Stunde lang in rasendem Galopp in der Stadt herumgefahren in flinken Panjekutschen, deren romantische Eigenart ich nicht eintauschen möchte gegen die herrlichste Limousine. Die Kutscher freilich können einem in der Seele leid tun. Zumeist gehören sie zu der unglücklichen Schar der weißen Russen, die heute ihre Not, ihr bewundernswertes » Nitschewo« und die fressende Sehnsucht nach »Mütterchen Rußland« in alle Weltteile tragen. Schon lange sind sie nicht mehr die Herren im Hause, wie zu Ungern-Sternbergs Zeiten. Sie sind ins Hintertreffen gekommen, hinter die Roten, die es unter anderem auch verstanden haben, die Eisenbahn wieder in ihre Hand zu bringen, und selbst kaum mehr auf gleicher sozialer Stufe mit den Chinesen. So bringt man sich durch als Kutscher, als Kaffeehauskellner, man schickt Frau und Kinder auf die » Kitaiskaja«, zu betteln in den kalten Nächten. Man lebt – nun ja, von was lebt man wohl in dieser Stadt, die so viele Herren, so viele Fahnen gesehen? Man lebt von der Hoffnung auf den Wechsel und vom Wechsel auf die Zukunft, nach der Moral der Abenteurer.

»So laßt uns fest an diesem Glauben halten:
Ein einz'ger Augenblick kann alles umgestalten!«

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Weltwanderers letzte Fahrten und Abenteuer