Moskwa – Mekka - Lambrecht i.d. Pfalz, Ende November

Tja – in Rußland muß man auch für die Fahrkarten anstehen!

In der Bahnhofshalle von Nowo-Sibirsk standen wir und warteten mit der Geduld, die man nur dem Muschik zumuten kann. Es war kalt, und der Atem lag wie ein frostiger Nebel über der dickgepackten Menschenmenge. So steht man und harrt der Dinge, die da kommen sollen.


Was tut man nicht alles zur höheren Glorie des Sowjetstaates! Nun geht der Schalter auf, nun drängt sich alles nach vorn. Vergebliches Bemühen! Schon klappt der Genosse Bahnbeamte den Schalter wieder zu. Schluß für heute! Keine Fahrkarten mehr! Aber in Sowjetrußland führen viele Wege zum Schalter. Zumeist wird alles »hintenrum« getan, wie bei uns zur seligen Kriegszeit, und so traf es sich gut, daß ein sprach- und landeskundiger Kenner der Verhältnisse neben mir im Gedränge stand. Allem äußeren Anschein nach war er ein Russe wie die anderen, mit Pelzmantel, Pelzmütze und einem Sack, in dem er seine Habseligkeiten trug. Aber er war aus Berlin, hieß Kunze und wußte, wie man so etwas macht in Rußland. – Ich solle einen Augenblick auf seinen Sack aufpassen, derweilen er eine Platzkarte zu meiner Fahrkarte besorge. Schnell verschwand er in der Menge und kam vorerst nicht wieder. Eine halbe Stunde lang stand ich neben seinem Sack und schalt mich einen Esel. Aber auf einmal, als ich schon beinahe alle Hoffnung aufgegeben hatte, stand er wieder vor mir in Begleitung eines Genossen Bahnpolizisten von der G.P.U., also eines richtigen Kommunisten von der siebenmal gesiebten Tscheka, der dennoch eine Stelle hatte, wo er sterblich war, auch in kapitalistischen Dingen, und stramm salutierend für den Bakschisch quittierte. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben: Diese kleine Bestechungsaffäre – war die einzige, die mir begegnete auf meiner Reise durch Rußland.

Während wir nun die Reise fortsetzten in der Richtung nach Omsk, wurde Kunze, der schon lange keinen Reichsdeutschen mehr gesehen hatte, nicht müde, mich über Deutschland auszufragen. Ob es wirklich so schlimm wäre, wie es hier in den Zeitungen stände. Er glaube kein Wort davon, denn ein Deutscher sei ein Deutscher und ein Muschik ein Muschik, und wenn es dort noch tausendmal schlimmer wäre, könnte es nicht so sein, wie jetzt in Rußland. Früher – da sei es hier ein Land gewesen, in dem Milch und Honig floß, aber heute – da habe er in diesem Jahre Dreißig Desjätinen Land angepflanzt und dafür ein Paar Schuhe bekommen! Und dabei die Steuern, und alle Augenblicke eine Rote-Wehr-Woche, eine Gaswoche, eine Woche für die Genossen Metallarbeiter, und was nützt's, wenn man da in den Wald läuft, wenn das rote Auto kommt? Der Genosse Volkskommissar findet einen doch. Nun sei er müde der Landwirtschaft. Am liebsten wäre ihm auch so ein Propagandaposten; aber dazu müsse man Protektion haben. Jetzt wollte er eine Käserei einrichten, denn damit könne man etwas verdienen. – Aber wie denn hier im Sowjetparadies? Da sei er drei Tage bei den Mandarinen in Nowo-Sibirsk umhergelaufen, bis er endlich im Büro des Genossen Käsekommissar angelangt sei, der ihm bedeutet habe, daß er zu diesem Zwecke eine Genossenschaft gründen und noch fünf Towarischti (Genossen) aufnehmen müsse, die zwar von Käse nichts verstünden, aber dafür umso besser stänkern könnten. Denn so sei es überall hierzulande: die Hauptsache ist, daß einer nichts versteht. Dann stehen ihm die Tore offen zu allen Kommissariaten.

Also sprach Herr Kunze, nicht laut und zornig, wie man meinen könnte, sondern leise resigniert, mit vielen scheuen Seitenblicken nach den Genossen Polizisten von der G.P.U., den Tschekisten. Von diesen gab es nicht wenige im Zuge, und sie waren die einzigen wirklich elegant gekleideten Menschen, die ich sah in Sibirien. In ihren koketten Uniformen mit den fabelhaft geschneiderten Hosen von unmöglichem Umfang – ja, so berühren sich die Extreme! – erinnern sie auffallend an die Faschistenmiliz.

Und was gibt es noch weiter zu erzählen von der langen Reise durch Sibirien? In Omsk stieg Herr Kunze wieder aus, und dann ging es tagelang weiter durch endlose Wälder über finstere Moore, vorbei an Städten, die klein, geduckt und erdfarben am Boden kriechen, als ob sie sich schämten ihrer eigenen Armseligkeit.

Und an einem frostigen Morgen fuhren wir in den Bahnhof von Moskau ein. Er war so schmutziggrau, so freudlos wie der Herbsttag draußen. In der roten Leninecke lärmte der Lautsprecher des Radios. Anderthalb Stunden lang mußte man anstehen, um sein Gepäck aufzugeben. Auf dem Bahnhofplatz stehen viele Panjekutschen und nur sehr wenige Autos, denn – man sollte es nicht für möglich halten in dieser rasenden, autowütigen Zeit – diese Zweimillionenstadt hat noch keine zweihundert Taxiautos aufzuweisen, also noch nicht annähernd halb so viel wie – sagen wir, Suwa auf den Fidschiinseln! Und das hat seine Gründe, denn der hinterste Platz im hintersten deutschen Dorfe hat besseres Pflaster aufzuweisen, als die vornehmsten Straßen dieser Weltstadt, die in den Augen von Millionen Menschen ein Mekka ist. Manches hat man sich unter Moskau vorgestellt. Aber solches nicht. Verwundert geht man durch die Vorstadtstraßen, zwischen armen Teeschenken und liederlichen Barbierstuben. In einer der letzten fragte uns der Friseur – ein polnischer Jude – nach dem Woher und Wohin mit der Gewissenhaftigkeit, die sein Gewerbe mit sich bringt.

Wo ich denn her käme?

»Von Sibirien.«

»Und wo werden der Herr jetzt hingehen?«

»Nach Deutschland.«

»Nach Deitschland – San Sie a glickliches Monn!«

»Aber bei Ihnen ist es doch auch schön, wo Sie doch im gelobten Lande wohnen?« meinte ich.

Da schaute er sich einmal um, wie das die Leute in Moskau so an sich haben, ehe sie etwas sagen.

»Ja, ist es schön! Ist es serr schenn in Moskau!«

Aber was war es nur, das uns auffiel, während wir weiter durch die Straßen gingen? Hatte jemand die Uhr der Weltgeschichte zurückgedreht auf Anno 1916? War man wieder mitten in Kriegszeiten? Ging der Teufel der Inflation wieder um? Standen sie da nicht in langen Schlangen geduldig in der Kälte vor den Türen der Kooperativläden um ein wenig Zucker, um fünf Pfund Mehl, um schwarzes, klebriges Brot? – Hier in Rußland, im reichen Rußland, zwölf Jahre nach dem Kriege? War sie hier wieder auferstanden, die liebe alte Z.E.G. unseligen Angedenkens, ging er denn hier noch immer um, der Spuk der »Kriegsgesellschaften«, die einmal auch bei uns den Hunger organisierten? Nun plötzlich wurde uns klar, was Bolschewismus ist, nachdem wir solange um eine Begriffsbestimmung verlegen waren: Es ist die Kriegswirtschaft in Permanenz erklärt, die Hypertrophie der Beamten, die alles zu Tode organisiert.

Aber freilich – es gibt auch hier, wie einst bei uns, noch rettende Inseln, auf die man sich flüchten kann in dieser steigenden Flut des Bürokratismus. Die menschliche Natur rächt sich an dem starren System, indem man nämlich »hintenrum« kaufen kann oder im »freien Handel« bei jenen armen, steuergedrückten Geschöpfen, die man heute noch vegetieren läßt an den Rockschößen des Bolschewismus. Aber man weiß, wie das einst bei uns auch war. Es ist ein teures Vergnügen, und nicht jeder kann sich das leisten. Mußte doch eine mir bekannte Dame zwei Rubel für hundert Gramm Butter bezahlen, wobei sie immer noch billig davongekommen war neben ihrem Gatten, dem der Kopf brummte beim Gedanken an die dreitausend Dollars Vorauszahlung, die er an jedem Jahresbeginn zu leisten hatte auf seine Dreizimmerwohnung in einem Neubau. Denn ein echter Bolschewik mag zwar den Kapitalisten nicht leiden, doch seine Dollars liebt er sehr.

Die Wohnungsnot, die Wohnungsämter in Moskau! – Man müßte die Feder eines Tolstoi, den Spott eines Turgenjew besitzen, um sie auszumalen, man müßte ein Maxim Gorki sein, um ganz hinabzusteigen in die Tiefe dieser Nachtasyle! Da gibt es Wohnungen für die Arbeiter und solche, in denen der Burschui vorerst noch vegetieren darf. Und dann gibt es Häuser für die Genossen von der Partei und für die Volkskommissare, die sich so etwas auf reaktionäre Burschuimanier hintenrum verschaffen, wenn gleich sie es öffentlich nicht wahrhaben wollen.

»Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
Ich kenne auch die Verfasser,
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.«

Aber viel Platz ist weder für die einen noch für die anderen, und Frau Sorge sitzt vor allen Haustüren. Man geht über den langen Boulevard, den weiten Prospekt und sieht die Häuser, die so kahl dastehen wie die vom Herbstlaub entblätterten Bäume. Grau und verwittert die Mauern, verrostet die Laube vor der Tür, verkommen die Gärten.

Heiliges Rußland! Heiliges Moskau! Wie mag es hier einst lustig hergegangen sein im Glück und im Sommer des Reiches! Noch schimmert die alte Herrlichkeit hinter den Mauern des Kremls, noch leuchten die goldenen Kuppeln der Kathedralen, selbst unter den roten Fahnen derer, die die Lichter des Himmels ausgelöscht haben.

Wer wollte leugnen, daß auch viel Idealismus, viel ernster Wille hinter diesen neuen Mächten steht oder stand! Aber sie sind damit hausieren gegangen nach ihrer Art, sie haben ihn umgeprägt in billige Münze und ihn auf dem Markt verschleudert, sie sind gescheitert an der menschlichen Natur, bis nichts mehr übriggeblieben ist als die klappernde Mühle des Bürokratismus, der alles verschlingt.

An einem Herbsttag, einem Wintertag schon beinahe, machte ich mich auf den Heimweg. »Nach Berlin« stand auf dem Zuge. Da fühlte ich mich schon zu Hause.

Und am nächsten Tage ging ich durch bucklige, heimatliche Straßen, zwischen hohen, wunderlichen Häusern und stolzen Kirchturmspitzen, um die Nebel hingen. »Ja,« sagte ich mir, »ein Jahr lang war die Welt wieder dein. Ein Jahr lang hast du alles gesehen: Die weitesten Meere und die fernsten Länder, du hast dich müde geschaut an fernen Schönheiten und vollgetrunken an der Sonne. Und möchtest doch alles hergeben für einen einzigen grauen Novembertag in Deutschland.«

»Deutschland, mir tat's gefallen
In manchem fernen Land,
Dir aber hat Gott vor allen
Das beste Teil erkannt!«

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Weltwanderers letzte Fahrten und Abenteuer