Im Bummelzug durch Sibirien - Nowo-Sibirsk, im Oktober

In Irkutsk haben wir dem Expreßzug den Laufpaß gegeben, denn erstens ist er teuer, zweitens eine rechte Schneckenpost und drittens – nichts als ein Stück Propaganda wie so manches andere hierzulande. Wären wir so weitergefahren, hätten wir niemals etwas von Rußland gesehen.

Nun aber war ich begierig auf die Wunder des Postzuges, der erst in fünf Stunden fällig war.


Was tun in der langen Zeit?

Ein Punkt, in dem die russischen Bahnen vorbildlich sein könnten für alle anderen, sind die großen, schönen Wartesäle mit ihren hohen Hallen und dem hübsch getäfelten Fußboden, auf dem selbst in Sibirien Palmen stehen. Bolschewistisch geht es hier zu. Der Typus des feinen Mannes ist gänzlich verschwunden. Kragen und Krawatten sind unbekannt. Es riecht nach Pelzmänteln und Juchtenleder und ein wenig nach Wodka. Lauter Proletarier, oder solche, die sich dafür ausgeben. So sitzen sie an langen Tischen stumm und breit und löffeln eine recht gute Suppe, die man für dreißig Kopeken bekommt. – Dreißig Kopeken? Aber so etwas war einst für deren fünf zu haben, in den vergangenen finsteren »Burschui«-Zeiten! Nach der Mahlzeit geht man in die Leninecke und vertieft sich in die dort ausgebreitete Literatur. Es ist kein Mangel daran. Pravdas und Isijaswest liegen da in Haufen, Zeitschriften in ganzen Reihen, denn die Propaganda ist das Lebenswerk des Bolschewismus, und mehr noch als anderswo paßt das Dichterwort für die Sowjetrepublik:

»Papier, ich hör' dich schreien.
So wird der Staat regiert!«

Aber es ist fast durchweg gutes Papier und eine saubere Aufmachung, die Bilder in den Zeitschriften garnicht in der überspannt kubistischen Manier, die unsere Edelkommunisten vielfach belieben, sondern eher altfränkisch aufgemacht, mit treuherzigen Darstellungen von Helden und Heiligen – ja, Heiligen, nur daß sie eben den Glauben gewechselt haben. St. Marx und die heilige Rosa für zehn Kopeken, buntgedruckt für die russische Bauernstube. Fehlt nur noch der Heiligenschein; aber das kommt noch. Und das wird gekauft! Die Jugend frißt diese Druckerschwärze. An etwas muß sie ja glauben, wo man alle anderen Götter zerschlagen hat.

Im übrigen ist es gemütlich in der Leninecke, warm und mollig, so recht der Platz, um auf einen sibirischen Postzug zu warten. Auf einmal aber ist allgemeiner, fluchtartiger Aufbruch. Haben sie ihn doch noch rechtzeitig bemerkt, den Genossen Komosol mit der roten Bluse und der drohenden Sammelbüchse für die Genossen Hafenarbeiter in Hamburg? Im rechten Augenblick kam der Postzug ...

Das Reisen in Rußland war von jeher ein zweifelhaftes Vergnügen. Sibirische Bummelzüge sind nicht eben der Inbegriff der Bequemlichkeit und Eleganz, und die Sitten der Mitreisenden sind reichlich bolschewistisch. Aber man macht es wie die anderen. Man wappnet sich mit Geduld. Man sagt »Nitschewo«, und es geht. Sibirien ist das Land der sehr großen Entfernungen. Die mittlere Distanz zwischen den Stationen beträgt einige fünfzig oder sechzig Kilometer. Größere Städte liegen tausend Meilen voneinander entfernt. Niemand kann zwischen Frühstück und Mittagessen seine Reise erledigen, und darum ist die Eisenbahn nicht nur ein Beförderungsmittel, sondern eine Art Heimat für alle, die sich ihr anvertrauen. Immer sind die Züge überfüllt, und darum ist jeder darauf angewiesen, neben seiner Fahrkarte noch eine Platzkarte zu erwerben, die ihm das Recht gibt, in übereinanderliegenden Kojen seine Glieder auszustrecken auf Betten, die man selbst mitbringt. Tagsüber werden diese Dinger heruntergeklappt, und alles hockt eng zusammen auf den Bänken. Es ist ein Bild, das einem das Zwischendeck eines Auswandererschiffes in Erinnerung bringt. Die Bauernfrauen mit großen Tüchern um den Kopf, die Männer mit langen Stiefeln aus bestem Juchtenleder und umfangreichen Pelzmänteln, von denen jeder den Platz für zwei Personen einnimmt.

Die Luft ist so dick, daß man sie mit dem Messer schneiden könnte, und die Doppelfenster sind mit einer gleichmäßigen grauen Schmutzschicht überzogen, so daß man von den vorübergleitenden Schönheiten des Landes Sibirien so gut wie gar nichts sieht. Nur verschwommen, wie durch einen Schleier, sieht man die fast ununterbrochene Linie der Fichten- und Birkenwälder. Eintönig dehnen sie sich nach allen Seiten in der Ebene aus, durch die der Zug Tage und Nächte lang hindurchrollt, als ob sie endlos wären wie der Himmel, der sich darüber wölbt. Langsam wird das Wetter immer sibirischer. Der Himmel wird grau, dicke Schneeflocken wirbeln hernieder. Die Wipfel der Fichtenbäume beginnen sich zu beugen unter der weißen Last. Kann es anders in Sibirien sein? Auf einer großen Brücke geht es über den Jenissei, auf dem die Eisschollen langsam dem Eismeer entgegentreiben. Der Rausch der großen Entfernungen erfaßt einen. Es ist ein seltsames Land, dessen düsterer Zauber sich nicht in Worten fangen läßt.

Ab und zu kommt man doch an eine Station, und dann beginnt sogleich der große Wettlauf der Teekannen. Wer in Sibirien über Land fährt, der führt solch eine Kanne mit sich, sonst würde man nicht für voll genommen. Kommt man an eine Station, so füllt man den Tee in die Kanne und läuft so schnell man kann nach dem kleinen Häuschen, wo aus dem Hahn heißes Wasser läuft. Andere sind immer zuvorgekommen, und man hat Gelegenheit, sich in der im bolschewistischen Rußland so verbreiteten Kunst des Anstehens zu üben. Es ist eine frostige, zähneklappernde Angelegenheit, aber sie gehört mit zu den Reisefreuden.

Auch sonst ist dafür gesorgt, daß man nicht verhungert. In langer Reihe stehen in Schnee und Wind die kugelrunden Bauernfrauen und breiten die chronique scandaleuse von ganz Sibirien aus, die von Mund zu Munde fliegt. Es ist eine angeregte Unterhaltung – und was zum Verkauf ausgestellt ist, läßt sich auch sehen: gebratene Hühner, Eier, Spanferkel und ähnliche Genüsse. Aber während wir noch beim Betrachten dieser Herrlichkeiten sind, während wir schnell den heißen Tee in Sicherheit bringen, pfeift die schwerfällige Lokomotive. Weiter geht die Reise.

Langsam kommt der Zug wieder in Gang, denn in Rußland braucht alles Zeit, zumal die Eisenbahn. Das Material ist alt und schon ein wenig klapperig. Die Lokomotive ist ein bemoostes Haupt von anno 1891, geschmückt mit einem Kaiseradler. Eine finstere, reaktionäre, eine geradezu gegenrevolutionäre Lokomotive, wie denn überhaupt der ganze Zug auf reaktionären Rädern aus der finsteren Burschuizeit rollt. Aber langsam kommt man schließlich doch vorwärts, und so geschah es, daß wir eines Abends endlich doch in den Bahnhof von Nowo-Sibirsk, der Hauptstadt Sibiriens, einliefen.

Im neuen Rußland verurteilen sie nicht nur Menschen, sondern auch Städte zum Tode, so auch die sibirische Stadt Tomsk, an deren Stelle das an der Hauptlinie gelegene Nowo-Nikolajew als Nowo-Sibirsk mit allen Mitteln zu einer Art Großstadt per ordre du moufti aufgeblasen wird. Am Bahnhof ist allerdings wenig zu sehen von der Herrlichkeit, denn der liegt weit draußen, irgendwo in der Wüste, und das ruppige Panjepferd vor der Kutsche muß tüchtig ausgreifen, ehe man in eine Gegend kommt, die man mit einiger Phantasie als Stadt ansprechen könnte. Das Wetter ist inzwischen ganz sibirisch geworden. Eine bitterkalte Nacht mit flackernden Nordlichtern, klirrendem Frost und hartem Schnee, der unter den Pferdehufen knirscht. So frostig wie draußen ist es drinnen in dem kleinen sogenannten Hotel, wo uns der Wirt von der Seite anschaut und die Gäste sich mißtrauisch in ihren Zimmern verschließen. Denn im neuen Rußland haben die Wände Ohren. – Und übrigens: das Zimmer kostet vier Rubel ohne Bettzeug, und der Kutscher verlangt deren zwei für die Fahrt vom Bahnhof. Denn da vorerst nichts Großstädtisches vorhanden ist, so fängt man wenigstens bei den Preisen an, wie denn überhaupt in Sowjetrußland das Pferd, zumal auch der Amtsschimmel, meist beim Schwanze aufgezäumt wird.

Das kommt einem so recht zum Bewußtsein, wenn man anderen Tags bei hellem Tageslicht durch die Straßen von Nowo-Sibirsk geht. – Ja, da steht in der Tat so etwas wie ein Wolkenkratzer mitten in der Steppe, als ob es nicht Platz genug gäbe in Sibirien! Da sieht man anspruchsvolle Banken, pompöse Bürogebäude, vielstöckige Mietskasernen. Fürchte indes keiner, daß bei dieser Kälte etwa die Wasserleitung einfriere, denn – es ist keine da, so wenig wie eine Kanalisation oder dergleichen. Dagegen Licht, Licht! Es ist eine echte Bolschewikengründung mit all dem Hang zum Modernen und Übermodernen, ein phantastisches potemkinsches Dorf, dahingestellt mit einem Federstrich. Vor zehn Jahren stand noch nichts oder so gut wie nichts. Heute hundertzwanzigtausend Einwohner, hunderttausend Bürokraten, hunderttausend Schreibmaschinen, hunderttausend große und kleine Volkskommissare, die von hier aus Sibirien zu Tode organisieren. Aber proletarisch geht es dennoch zu, trotz aller Bürokraten. Überall tritt gewollte und bewußte Ärmlichkeit zutage. Sie sitzt in Russenblusen in den Bankkontoren, sie steht hinter dem Ladentisch im Kooperativgeschäft, sie lungert in den Sesseln im eleganten Café, das dennoch »Burschui«preise nimmt, sie hockt auf den langen Bänken im Speisehaus, aus dem einem eine muffige Armeleuteluft entgegenweht. Weiber sitzen hier mit Bubiköpfen, die so gar nicht zu ihren groben Bauerngesichtern passen, Arbeiterstudenten, die mit ihren Büchern eben aus dem Lenineum kamen.

Das Lenineum – ja, das ist es, worum sich alles dreht!

Ein großes, säulenbewehrtes Gebäude, in dem man alles lernen kann, was sich für Proletarier schickt, und das ist eigentlich nicht viel, denn also ist der bolschewistische Glaube, also beginnt die bolschewistische Weltgeschichte:

»Am Anfang schuf Lenin Himmel und Erde«.

Was vorher sich begab, das war nicht der Rede wert. Da herrschte die Finsternis, da hauste der »Burschui«. Dann erschien über den finsteren Wassern der Geist Karl Marx und die Heilige Schrift »Das Kapital«. Dann kam Lenin, und dann begann die Weltgeschichte.

O Lenin, o Marx, o Engels, o Sankt Liebknecht, o heilige Rosa, die ihr, vorerst noch ohne Strahlenkranz, im Lenineum prangt, die ihr buntgedruckt in jeder Bauernstube hängt, aus Angst vor dem Genossen Dorfkorrespondenten. –

Heilige, unheilige Zeit! Wer kennt sich noch aus in ihren Wundern und Wunderlichkeiten?

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Weltwanderers letzte Fahrten und Abenteuer