Das Lächeln Asiens - Yokohama, im September

Langsam löste sich der » Taiyo Maru« von dem großen Kai am Alohaturm zu Honolulu. Keinen Augenblick zu früh, denn in Honolulu ist das Abschiednehmen ein noch aufregenderes und anstrengenderes Geschäft als anderswo. Die Hawaianer legen Wert aufs Dekorum, und wenn man viele Freunde hat, bekommt man viele Leis, in die man warm und mollig eingehüllt wird bei 40 Grad im Schatten. Wahre Märtyrer der Leis kann man sehen, mit zehn und mehr Kränzen um den Hals.

Gott schütze mich vor meinen Freunden!


So viele Ingwerblumen gibt es gar nicht, und wenn die ganze Insel Oahu sich auf ihren Anbau verlegte. Irgendwo muß es eine ganz große Fabrik geben, die diese Marterinstrumente serienweise, laufend am Bande, erzeugt, wie die Automobile, aus flimsigem Papier, parfümiert mit Ingweressenz, getüncht mit gelber Farbe, die bei der Tropenhitze lebendig wird und Haut und Hemd des Opfers braun wie einen Kanaken färbt. – Und dabei soll man noch ein freundliches Gesicht machen und sich der modernen amerikanischen Parole erinnern:

»Keep smiling«

Glücklich, wer freundlos und allein den Hafen von Honolulu verläßt!

Langsam fährt der Dampfer durch die Bai wie durch einen Ententümpel, belebt von Tausenden von schwimmenden, trinkgeldlüsternen Strandjungen, die ich Mann für Mann gegen Rademacher, Johnny Weißmüller und all' die anderen Götter und Halbgötter der olympischen Spiele setzen möchte. – Aber schon ist man draußen auf der See, die laut gegen die Hafenmauer tobt. Die Berge von Hawai verdämmern blau in der Ferne. Man hat wieder Zeit, sich ins Schiff zu schicken und seine Bewohner zu studieren, weil es sonst auf der weiten Welt nichts zu tun gibt. Und es lohnt das Studium. Da ist z.B. Mr. Müller, der von San Franzisko nach Schanghai fährt. Auf blauen Dunst nach Schanghai mit 45 Jahren! Eigentlich hätte Herr Müller so etwas nicht nötig gehabt, denn es war ihm recht gut ergangen auf seinem ruhigen und gesicherten Buchhalterposten in Deutschland. – Aber ging es nicht den Leuten in Amerika unendlich viel besser? Hatten die nicht den Krieg gewonnen? Verdienten die nicht in Dollars? Fuhren dort nicht die Waschfrauen per Auto auf Kundschaft? Hatte nicht jeder Arbeiter sein Huhn im Topfe und seinen Ford in der Garage? Und war es nicht das Land der Freiheit, in dem die Zeitungsjungen Präsident zu werden pflegten, wenn sie sich nur ein bißchen anstrengten? – Und also verschleuderte man den Plunder zu Hause um jämmerliche Papiermark, die die Überfahrt bezahlten; sie war so gut wie eine Eintrittskarte ins Paradies.

Aber auch in New York wird mit Wasser gekocht, wie Herr Müller bald herausfand. Die Straßen sind dort lang, die Straßenbahnfahrpreise hoch, und Mr. Müller stand an jedem Tage vor einer anderen Office, vor einer anderen Glastür mit goldener Anschrift, vor harten Tatsachen und noch härteren Yankeegesichtern. So war es ein Glück, daß wenigstens die nunmehrige Missis Müller ein Job in einer Office bekam, eben das, was man ihm selbst vorenthielt. Dafür bekam er ein Amt als Officeboy, und fortan lebten sie beide in einer » Flat,« zwischen Normalmöbeln, die sie irgendwo in Millionen herstellen und die überall dieselben sind, in einer Flat mit Zentralheizung, Staubsauger, kaltem und warmem Wasser und allem modernen Komfort und oh! nicht einem Atom von Wärme für die hungrige Seele. Da sagte Mr. Müller in seinem schönsten Deutschamerikanisch: »Ich gleiche dieser Officeboy-job nicht mehr. Wir wollen muhwen nach Chikago«. – Aber Chikago war nur eine Wiederholung von New York, und es wurde auch nicht besser, als sie weiter nach San Franzisko muhwten. – Von wegen Auto! Man konnte von Glück reden, wenn es einmal in der Woche für die Movies reichte und ab und zu zu einem verschwiegenen Glase Bier bei bootlegers und »Mondscheinern«. Nicht daß Bier sich Glück buchstabiert, aber die Freiheit tut's. – Ja, und dann ging es immer schneller bergab, und die Missis machte eine divorce, und eine fremde junge Dame, an die er einmal in aller Unschuld ein Auge gewagt hatte, verklagte ihn wegen breach of promise. Die Advokaten wurden Stammgast im Hause, man träumte nachts von beschworenen Affidavits, und Schanghai war das Ende.

Warum ich diese sonderbare Geschichte des Mister Müller erzähle? Ach, er ist nur einer unter hunderttausend Deutschen, die heute in ihren besten Jahren erbarmungslos zum alten Eisen geworfen werden in fernen Ländern unter kalten, fremden Menschen.

»Die ihr nicht wißt, was deutsche Liebe,
Nicht ahnt, was deutsche Narrheit ist!«

Aber Schanghai ist noch weit entfernt, und eben fährt der » Taiyo« in die Bai von Yokohama ein. Yokohama – den Ort muß man lieben, und sei es nur um des exotischen Namens willen. Und heute ist er noch zudem schwer von Erinnerungen an die schaurigste und folgenschwerste Naturkatastrophe aller Zeiten. Wer kannte die Zahl der Opfer, die vom großen Erdbeben und nachfolgenden Brand von Tokio und Yokohama verschlungen wurden? Sie ist so ungeheuer, daß niemand wagt, sie auch nur annähernd genau anzugeben. Wer wollte den Milliardenschaden abschätzen, der hier in wenigen Augenblicken ein Land verarmte, das sich eben anschickte, die fetten Kriegsgewinne, die es wie kein anderes eingestrichen, endgültig seinem Bankkonto zuzuschreiben. So wiederholt sich die Geschichte! Alles, was man hier in den Straßen Yokohamas sieht, habe ich vor zwanzig Jahren schon in denen des niedergebrannten San Franzisko erlebt: dieselben Trümmer, dieselben Schutthaufen, dieselben Baracken auf zerfallenen Mauern, die Straßen als Bauplätze, Staub, Mörtel, Zement, phantastische Gerüste entstehender Wolkenkratzer und überall Hämmern und Hacken, das Krachen der Betonmaschinen, das Surren der Niethämmer, das Dröhnen der Pfahltreiber und überall aufbauende Arbeit und Menschen, die Geld verdienen. Vor fünf Jahren war Yokohama eine città morta, ein hoffnungsloser Trümmerhaufen zerstörter Häuser und zerfallener Kais. Heute ist alles im Auferstehen, und wohl könnte man auch hier das Wort anwenden, das man nach dem Erdbeben auf einem Schild an dem vom Feuer phantastisch verbogenen Eisengerüst eines Wolkenkratzers in San Franzisko las:

»Slightly disfigured, but still in the ring.« (Leicht beschädigt, aber steht immer noch.)

Freilich ist es ein anderes Yokohama, das hier entsteht. Viel praktischer aber weniger schön als das alte. Denn das ist der Zug der Zeit, und auch Japan beginnt schon einzuschwenken in die schlanke Linie unserer modernen Kultur.

Oder doch nicht?

Da gingen wir gestern abend beim Lichte unzähliger Lampen durch die Straße der klappernden Pantoffeln. Sie ist eine große Straße, ein Geschäftszentrum in einem Welthafen, und doch ist sie so verschieden wie ein Marskanal von alledem, was wir in anderen Geschäftsstraßen gesehen. Es trippelt auf der Straße, aber es hastet nie. Es ist immer ein Geräusch, aber niemals ein Lärm, ein melodischer Straßenrhythmus, nur ganz hier und da einmal unterbrochen von der anmaßenden Stimme eines vorübersausenden Autos.

Das Lächeln Asiens liegt über dieser Straße. Den Orient riecht man an allen Ecken, so einen sonderbaren Geruch, den niemand definieren kann, der nicht appetitlich ist und den man doch immer wieder mit Wonne riecht. Wenigstens geht es mir so, hier

Ostwärts, hinterwärts von Suez,
Wo man manches wohl vermißt,
Man nichts weiß von zehn Geboten
der Mensch noch menschlich ist.

Man sieht keine Polizei und weiß nichts von Polizeistunde, jeder hält seine Bude offen, solange es ihm Spaß macht, jeder tut auf der Straße, was er will und kleidet sich nach seiner Phantasie. Langsam läßt man sich vom Straßentrubel treiben. Man kommt vorbei an Teehäusern, vor denen die Pantoffeln in langen Reihen stehen, an wunderlich duftenden Speisehäusern, in denen sie die Zungen so schnell wie die kleinen Eßstäbchen bewegen, an Kaufläden, aus deren dunklem Hintergrund einen schaurige Porzellandrachen angrinsen, vorbei an Märkten, aus denen Fische feilgeboten werden, Fische mit Hämmern und Sägen und solch grimmigen Gebissen, daß es eine Erlösung ist, sie bald im Kochtopf zu vermuten. Vornehme Herren in würdigem Kimono, mit goldener Brille und dem Bambusschirm unter dem Arm. Und dann die Frauen – aber über diese könnte man Bände schreiben. Hier endlich ist die Frau noch Frau; ganz Frau mit allen Attributen der Weiblichkeit. Klein, zierlich, bunter Kimono, bleiches Gesicht, schwarzes Haar, haushohe Frisur, ganz so, als ob sie samt und sonders eben erst einem Porzellanladen entlaufen wären. Viele – die meisten – tragen auf dem Rücken ihr kleines Piganini, ohne anscheinend zu befürchten, daß es Schaden nehme in der kalten, feuchten Nachtluft. Vielleicht tun sie es doch, aber kleine Kinder sind billig wie Brombeeren in Japan.

So geht man weiter. Das Leben ist hier ein offenes Buch für den, der zu lesen versteht. Es schreit von allen Hauswänden, es steht auf dem Saum des Kimono bei jedem Hoteldiener, jedem Rikschakuli, jedem Sackträger am Hafen. Nur eben Japanesisch muß man können, und das ist die Kunst. Verwirrt steht man vor der Fülle der wunderlichen Schriftzeichen, bei deren Anblick man sich fragt, ob die Japaner das selber lesen können. Sie stehen an allen Wänden, sie flattern von Fahnen, sie tanzen aus den Zeilen der Zeitungen.

Ja, Menschen und Dinge sind wunderlich in dieser Welt. Aber am wunderlichsten ist das klappernde Lied von hunderttausend Holzpantoffeln, das gleichmäßig durch alle Gassen geht und als Hintergrund zu allen anderen Geräuschen dient.

War es nur dieses, das einen alles anders ansehen ließ? Der Mond schien größer als anderswo. Die Sterne schienen sich heller als sonst zu spiegeln in dem schwarzen Wasser des von zahlreichen Brücken überwölbten Kanals. Ich kam zurück ins Gasthaus, wo eine japanische Dame, auch so eine Puppe auf einer Teetasse, mit einem Fujiyama von einer Frisur, mir voranleuchtete und ein Paar seidene Pantoffeln unter das Bett stellte. Lange lag ich noch wach und sah im Dunkeln die verworrenen Schriftzeichen, die Frauen wie Porzellanpuppen, die Männer mit den Bambusschirmen, bis endlich das klappernde Lied der Pantoffeln, das noch immer von draußen kam, mich langsam in den Schlaf sang.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Weltwanderers letzte Fahrten und Abenteuer