In Montenegro

Dicht hinter Cattaro erhebt sich der Lowcen zu der stattlichen Höhe von beinahe 1800 Metern. Für ein an hochgebirgliche Höhenzahlen gewöhntes Ohr mag das nicht allzu hoch erscheinen; wenn aber ein solcher Koloß nicht aus einer Talsohle von 500 oder 1000 Metern, sondern direkt vom Meeresspiegel aufsteigt, so bekommt man erst den richtigen Begriff von dem, was solche Höhenzahlen bedeuten. Und wer es dann noch nicht begriffen hat, dem kommt jeder Zentimeter dieser Höhe zum Bewußtsein, wenn er es unternimmt, in der brennenden Sonne die kahlen Hänge zu erklettern bei einer Temperatur von einigen dreißig Grad im Schatten.

Zwei Straßen führen über den Lowcen. Die eine ist die von Österreich angelegte und als Meisterwerk der Straßenbaukunst berühmte Serpentinenstraße, die andere ist der kürzere Mauleselweg, der nach landesüblicher Art in kurzen Zickzacken, über Felsen und Geröll direkt bergauf führt, entlang der Telegraphenlinie. In der brennenden Mittagshitze stehen wir einen Moment zaudernd vor den beiden Möglichkeiten. Dann ist der Entschluß gefaßt. Das Kürzere ist immer das Bessere, außer bei der Wurst.


Unheimlich steil klettert er an der Bergwand in die Höhe, dicht unter dem Fuße einer gut erhaltenen Burg, die aus etwa 200 Meter Meereshöhe in die Bai hinuntersieht. Je höher man hinaufkommt, desto heißer brennt die Sonne. Der »Weg« ist in solchem Maße übersät mit spitzen, füßemarternden Steinen, daß man bequem schon vor der halben Höhe seine Sünden abbüßen kann, auch ohne Gebetsstationen. Kaum ein Grashalm ist am Berghang zu sehen. Nur kahler Fels und wildes Geröll und mächtige Steinblöcke, die unheimlich weiß in der Sonne leuchten. Langsam versinkt die Bai fast direkt unter den Füßen. Die Häuser, die Schiffe, die Palmen am Strande stehen klein wie Spielzeuge und seltsam verwischt in der flimmernden Hitze des hellen Tages. Schon klettert man über ein Chaos von Schluchten und übereinandergeworfenen Felsblöcken, die auf der einen Seite grell weiß wie Kreide leuchten, während auf der anderen, der Sonne abgewandten Seite die Schatten um so schwärzer hocken.

Das ist eigentlich die Stelle, an der die Räuber fällig sind. Die Räuber, von denen sie drunten in Cattaro schaurige Geschichten erzählt hatten und die einem doch irgendwie auf die Nerven gefallen waren. Aufmerksam horcht man in der lautlosen Stille. Mißtrauisch späht man in die flimmernde Hitze des Nachmittags. Plötzlich taucht irgendwo eine Gestalt auf, als ob sie eben aus dem Felsen herausgewachsen wäre. Es ist einer der zahllosen serbischen Wachtposten, die das ganze Lowcemnassiv besetzt halten, denn sonst könnte außer den Räubern hier kein Mensch seine Straße ziehen. Mit dem Gewehr unterm Arm kommt er heran und sagt etwas Serbisches.

Man zeigt ihm den Paß.

» Dobro.«

Nun geht es weiter bis zum nächsten Posten, wo sich derselbe Vorgang wiederholt. Alles das geht schnell und geschäftsmäßig vor sich, mit einer Lautlosigkeit, die etwas Unheimliches an sich hat. Man glaubt sich mitten in die Zeiten des Krieges zurückversetzt. Und da sind noch andere Spuren, die von vergangenen Kämpfen erzählen; von Kriegen und Siegen deutscher Soldaten. Über diese Hänge ging im Jahre 1916 der Weg der Lowcenstürmer. Wer selbst darüber gekraxelt ist in harmloser Friedenszeit, kann ermessen, welche Leistung es damals gewesen sein mag, wo der Tod hinter jedem Felsen lauerte. Aber auch über diesen Taten steht heute das Wort wie über so vielen anderen des großen Krieges: »Vergessen«.

Als sichtbarstes Zeichen jener Vorgänge sieht man die Überreste der Drahtseilbahn. In gewissen Abständen stehen immer noch die gemauerten Sockel, die sich fremdartig ausnehmen in dieser ursprünglichen Wildnis. Auf den Sockeln stehen verrostete Maschinen, zerfressene Motoren, die mächtigen Räder, auf denen die Kabel liefen. Die Kabel selbst liegen noch immer lang ausgestreckt am Boden, von der Bai bis hinauf zum Gipfel. Schöne, auch heute noch gut erhaltene Stahlkabel. Ein kleines Kapital. Man brauchte sie nur den steilen Hang hinunterwerfen und zu Schiff abzutransportieren. Aber das läßt wohl die Staatsraison nicht zu. Man macht sich selbst nicht die Mühe, das Material zu verwerten, aber ehe man anderen dazu Gelegenheit gibt, läßt man es verkommen. So ist es überall im Lande. Der ganze Balkan ist eine Fundgrube für Alteisenwaren. Ein einziges großes Arsenal von Kabeln, Schwungrädern, alten Maschinen, rostigen Schienen, liegengebliebenen Wagen, verlassenen Feldbahnen, stehengebliebenen Dampfwalzen und ähnlichen Schätzen, die in trüber Tatlosigkeit ihre Tage verträumen wie einer, der unter dem Banne einer fressenden Krankheit auf seine letzte Stunde wartet. Von einem Herrn, der es wissen muß, habe ich erfahren, daß allein in Montenegro mehr als 500 Eisenbahnwagenladungen von dem Material herumliegen.

Und doch ist der Lowcen schön trotz aller Wildheit, oder vielleicht gerade deshalb. Hat man erst die halbe Höhe erklettert, so versinkt ringsum die ganze Landschaft zu einer Landkarte, die sich immer weiter ausbreitet. Überall tauchen die dunkelblauen Wasserflächen des großen Fjords auf. Immer weiter breitet sich in der Ferne das dunkle Mittelmeer, von wo ein kühler Wind frisch wie das Leben selber herüberweht. In einer geschützten Mulde kommt man durch einen dürren, struppigen Kiefernwald. Dicht unter dem Gipfel erreicht man die große Lowcenstraße, die inzwischen auf unendlichen Schlangenwindungen ihren Weg heraufgefunden hat; eine von den breiten, soliden, wie für die Ewigkeit gebauten österreichischen Bergstraßen. Mag man über das alte Österreich denken, wie man will: in seinen Landstraßen hat es sich jedenfalls ein Denkmal gesetzt, das dauernder ist wie alle jene, die man aus Erz und Marmor auf die Straßen und Plätze stellt. Zumal in den Gebirgen des Karst, in Bosnien und der Herzegowina, gibt es wahre Wunderwerke dieser Baukunst, die man gesehen haben muß. Die schönste und kühnste von allen aber ist die Lowcenstraße.

Wenn man den höchsten Punkt der Straße erreicht hat, so sieht man in einiger Entfernung ein k. k. Kriegsdenkmal. Mitten in einer Landschaft von wildestem Geröll erhebt sich auf einem Felsblock eine aufrechtstehende 31,5-Zentimeter-Granate. Ich habe nie ein Denkmal gesehen, das schöner und vielsagender gewesen wäre als dieses. Es war schon beinahe dunkel, als ich dort anlangte. Das letzte Tageslicht sank langsam in das Meer, und die Schatten der sinkenden Nacht krochen düster aus dem Felsen heraus, als wüßten auch sie um die Toten ...

Als ich eben weitermarschieren wollte, kam ein Unteroffizier aus der nahen Militärbaracke und bedeutete mir, daß das nicht erlaubt wäre, die Straße sei gesperrt für den Nachtverkehr. Er nahm mich mit nach der Baracke, wo sie von dem wenigen, was sie hatten, mir reichlich auftischten mit der Gastfreundlichkeit, die den Soldaten aller Länder eigen ist. Einige von den Burschen sprachen etwas Italienisch, und so hielten wir an dem Abend noch lange eine holprige Unterhaltung auf der Bank vor der Tür, während die Bergluft kalt vom Gipfel herunterkam und die Sterne groß und feurig am Himmel standen. Plötzlich hallte scharf wie ein Peitschenschlag ein Schuß durch die Nacht. Dann noch einer, und dann eine ganze Serie. Jeder sprang auf, griff nach dem Gewehr und rannte hinaus in die Dunkelheit. Ein paar Minuten dauerte das wilde Schießen. Dann war es wieder still wie zuvor. Nach einer Viertelstunde kam der Unteroffizier zurück.

Was denn vorgefallen wäre?

»Nichts. Komitatschis. Nichts Besonderes.«

Dann gingen wir schlafen.

Und was soll man weiter vom Lowcen erzählen? Wen es einmal nach einer Abwechslung gelüstet in seinen Bergtouren, der gehe nach dem Lowcen. Er wird dort alles finden, was nach dem Herzen eines Bergwanderers ist. Ein wildes Land, phantastische Bergformationen, die selbst hinter den Dolomiten keineswegs zurückstehen brauchen, und gerade genug Gefahr auf dem Wege, um ein angenehmes Gruseln zu verspüren. Immer wieder passiert man die Wachtposten, die bald auf Felsspitzen in der Nähe der Straße, bald wieder unten auf dem Wege aufgestellt sind. Zuweilen folgen sie einem in einiger Entfernung auf dem Fuße, wobei die Frage offen bleibt, ob solches Verhalten einer zarten Besorgnis für das Wohl des Wanderers entspringt, oder ob sie es tun aus purem Mißtrauen, weil sie einen selber für einen Räuber halten.

Außer den Soldaten trifft man nur ganz selten einen Menschen in einer einsamen Hütte oder auf dem Wege, beschaulich daherschlendernd neben seinem Esel. Montenegriner in hausgemachten Kleidern, hausgemachten Schnabelschuhen aus Lammfell und jener prächtigen roten Mütze, die König Nikita populär gemacht hat. Man sieht ihnen an, daß das bare Geld bei ihnen das wenigste ist. Aber das brauchen sie wohl auch nicht. Sie haben es nie gehabt und vermissen es auch heute nicht. Ihre einzige große Passion ist Tabak. Um diesen wird man beharrlich angesprochen auf dem ganzen Wege von Cattaro bis Cetinje.

Wenn man vom Lowcen in östlicher Richtung bergabwärts wandert, so wird die Landschaft womöglich noch wilder und unwirtlicher. Um eine Wegbiegung öffnet sich das Land ganz plötzlich und läßt den Blick grenzenlos schweifen über das sinnverwirrende Chaos von Gipfeln und Bergspitzen der montenegrinischen Erde. Weit im Osten, hinter den letzten Bergen, glitzert die blaue Fläche des Skutarisees. Stolpernd geht es bergabwärts über steinige Wege, die die langen Schlangenwindungen der Straße abkürzen. Allmählich beginnt sich wieder etwas Grünes zu zeigen. Verkrüppelte Eichenstauden wachsen kümmerlich zwischen den Steinen, da und dort steht ein Häuschen. Ab und zu sieht man ein mageres Kartoffelfeld.

Ganz unerwartet fällt das Land steil ab. Man steht vor einem fast kreisrunden, rings von hohen, wilden Felsen eingefaßten, völlig ebenen Tal, in dessen Grunde ein Städtchen liegt, mehr ein Dorf nach unseren Begriffen.

Das ist Cetinje, die ehemalige Hauptstadt der Schwarzen Berge.

Nicht eben hauptstädtisch-großartig sah die Ortschaft aus, wie sie so dalag in der Mittagssonne. Dennoch mußte ich mich eine Weile setzen und den Eindruck auf mich wirken lassen. Es war der Name, der mich fesselte. Eine Weile hingen meine Augen an der Baumgruppe in der Ferne, aus der das Dach von Nikitas Palast herausragte. Dann packte ich meine Sachen und eilte, unbekümmert um die Straße, den steilen Hang hinunter und ruhte nicht eher, als bis ich unten zwischen den Maisfeldern stand, von wo die breite, weiße Landstraße schnurgerade in die Stadt hineinführte.

»Vedi Cetinje ...«

Das mußte man doch gesehen haben!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Weltwanderers letzte Fahrten und Abenteuer